Читать книгу Grimmelshausen - Dieter Breuer - Страница 9

III

Оглавление

Damit ist der Horizont abgesteckt, in dem sich der Erzähler Grimmelshausen als Historiker bewegt, aber noch nicht geklärt, was Grimmelshausen unter einer Histori versteht. Denn nicht nur die vier historischen Erzählwerke bezeichnet er so, sondern auch den Simplicissimus Teutsch und dessen Sproßgeschichten. In seinem Verständnis bietet eine Histori anscheinend Raum für Abschweifungen und Erweiterungen aller Art. In diesem Zusammenhang spricht er verschiedentlich von der „Vollkommenheit“ der Histori, so in seiner Dietwalt-Histori:

Allein diß darff ich nicht verschweigen/weil ich vermeine es müste unserer Histori umb zu ihrer Vollkommenheit zu gelangen/ohnumgänglich einverleibt werden; das sich nemblich zwischen diese grosse Personen auch der kleine Gott gemängt/der die Hertzen der Menschen mit Lieb beladen: und hingegen die freye Gemühter ihrer Freyheit zu berauben pflegt. 46

Im Musai argumentiert der Erzähler in ähnlicher Weise:

Meine gnädige Frau vergebe mir/daß ich hier einen kleinen Absprung nehmen muß/meine Histori zu erläutern/indem ich der Semiramide gedencken muß/wann ich anders meine Histori/wo nicht vollkommen/doch etwas verständlicher erzehlen will.47

Manfred Koschlig hat in seiner Studie „Das Lob des Francion bei Grimmelshausen“ (1957) gezeigt, daß Grimmelshausen diesen Begriff aus der 1662 erschienenen deutschen Übersetzung von Charles Sorels Roman Histoire comique de Francion übernommen hat.48 „Vollkommenheit der Histori“ bedeutet dort die Einführung von Umständen, die zwar nicht „denckwürdig“ sind, aber zur „Abbildung des menschlichen Lebens“ dazugehören,49 wie vor allem schamverletzende Liebeshändel, die dieser Satiriker „gar natürlich“ beschreiben und dazu die „gantze Sprach“ benutzen will, weil sonst seine Histori eben „unvollkommen“ sein würde.50 Grimmelshausen übernimmt von Sorel diese Begrifflichkeit, hatte allerdings zuvor auch schon dem Historiker-Diskurs Garzonis entnehmen können, daß es nicht nur darum gehe, „Namen/Gerücht/Leben/Natur vnnd Qualitet der Personen“, sondern auch ihre Handlungen mit allen Umständen und Zufällen „ordentlich“ zu erzählen.51 Die zitierten Textstellen in Grimmelshausens Historien sind gleichwohl nicht im Sinne der Sorelschen Freiheit des Satirikers zu deuten. Im „Dietwalt“ meint die „Vollkommenheit der Histori“ die Einbeziehung der Liebesaffekte der versammelten germanischen Fürstensöhne und -töchter, die zu folgenschweren politischen Verwicklungen führen. Im „Musai“ bezeichnet „Vollkommenheit“ die Einbeziehung einer scheinbar abseitigen historischen Gestalt, die aber durch ihre Liebesaffekte das Leben des Vaters des Helden und damit auch dessen Werdegang entscheidend beeinflußt. „Vollkommenheit der Histori“ ist bei Grimmelshausen kein Freibrief für schlüpfrige Nebendinge, sondern erfüllt eine Funktion im Rahmen seiner Geschichtsdeutung: Eingeführt werden Affekthandlungen, die zu einer Verkennung der providentia Dei führen, die aber das durch die providentia Dei gesetzte Ziel der Histori letztlich nicht aufhalten können und damit deren Macht – „verständlich“ – erweisen.

Aus einer (von Koschlig nicht erwähnten) Stelle in der „Continuatio“ geht zudem hervor, daß Grimmelshausen die „Vollkommenheit“ nicht eigentlich zu den Erzählprinzipien der Gattung Historia rechnet; er schreibt:

Mein großgünstiger hochgeehrter Leser/wann ich eine Histori zuerzehlen hätte/so wolte ichs kürzer begreiffen und hier nicht soviel Umbständ machen; ich muß selbst gestehen daß mein aigner Vorwitz von jedem GeschichtSchreiber stracks erfordert/mit seinen Schrifften niemand lang auffzuhalten; Aber dieses was ich vortrage ist eine Vision oder Traum/und also weit ein anders; ich darf nicht so geschwind zum Ende eilen/sondern muß etliche geringe Particularitäten/und Umbstände mit einbringen/damit ich etwas vollkommener erzehlen möge/was ich den Leuten dieß Orts zu communicirn vorhabens; welches dann nichts anders ist/als ein Exempel zu weisen/wie aus einen geringen Füncklein allgemach ein groß Feur werde/wann man die Vorsichtigkeit nicht beobachtet. 52

Der Historiker Grimmelshausen erinnert an die Erfordernisse der Gattung Historia: Der Geschichtsschreiber hat sich mit Rücksicht auf die curiositas der Leser kurz zu fassen, darf wie gesagt nicht „viel dicentes“ machen und sein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Nur in Ausnahmefällen erscheint es ihm sinnvoll, „vollkommener“ und das heißt „umständlicher“ zu erzählen, um einen speziellen Kommunikationszweck zu erreichen: in diesem Falle eine Traumvision zu einem Exempel auszubauen, das „fein Staffel weiß“ den Niedergang eines Verschwenders vor Augen stellt.

Es ist mithin angezeigt, zwischen einem engeren und einem weiteren Begriff von „Histori“ zu unterscheiden. Historien im engeren Sinne des Begriffs sind die vier historischen Erzählwerke. Historien im weiteren Sinne des Begriffs sind die simplicianischen Erzählwerke. Für letztere gilt das von Sorel übernommene Erzählprinzip der „Vollkommenheit“, obgleich immer in den von der augustinischen Geschichtstheologie gesetzten Grenzen. Für die historischen Erzählwerke im engeren Sinne ist „Vollkommenheit“ des Erzählens, d.h. das Verweilen bei Nebenhandlungen und deren Umständen, eher die Ausnahme; solche „Particulariteten“ können dann aber vom Ende her auf die dunklen Wege der göttlichen Vorsehung bezogen werden.

Der Erzähler Grimmelshausen hat beide Möglichkeiten der Histori erprobt, doch ist dem Meister des „vollkommenen“ simplicianischen Erzählens die Rolle des Historikers schwer gefallen, schon aufgrund seines Werdegangs, daß er nämlich, wie er mit Bedauern feststellt, „nichts studirt, sonder im Krieg uffgewachsen/und allda wie ein anderer grober Esel keine Wissenschafften/gefast habe“.53 Gelehrte Quellenwerke blieben dem Autodidakten verschlossen; er mußte sich mit meist älteren deutschsprachigen Geschichtswerken wie der Josephus-Übersetzung, den Chroniken von Johann Stumpf, Conrad Lycosthenes und Johann Ludwig Gottfried, den Nachschlagewerken von Georg Hornius, Peter Lauremberg und Valentin Leucht begnügen.54 Das erklärt seinen Zorn auf Philipp Zesen, aber auch seine Versuche, Unbildung zu kaschieren, wie z.B. das gelehrte lateinische Quellenverzeichnis zeigt, das er seiner Dietwalt-Histori vorangestellt hat;55 es ist unschwer als ein Auszug aus dem Quellenverzeichnis des Historikers Stumpf zu durchschauen, also als betrügerisches Spiel mit den Gesetzlichkeiten der Gattung, die er andererseits so sehr ernst nimmt. Gerade diese Historien hat er mit seinem vollen Namen gezeichnet.

Grimmelshausen

Подняться наверх