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III
ОглавлениеZwei Gründe sind es, die Grimmelshausens Ausnahmestellung unter den deutschen Schriftstellern des 17. Jahrhunderts bewirkten: ein Mehr an Lebenserfahrung und Kenntnis der sozialen Realität und eine geradezu methodisch betriebene Wahrheitssuche gegenüber Vorurteilen aller Art. Schon in der Vorrede zu seinem Satyrischen Pilgram (1667) macht er diese beiden Punkte gegen den Vorwurf der fehlenden gelehrten Bildung geltend:197
[Es] beliebe der Wohl-wöllende teutschgesinnte Leser ohnbeschwer zuvernehmen/daß ich mir vorgesetzt/von der Beschaffenheit allerhand; Ja den meisten Dingen in der gantzen Welt/so viel in kürtze seyn kan./Guth und Boß zuschreiben wie ich Sie in Büchern befunden und Selbsten gesehen und erfahren habe; Und gleichwie […] in der gantzen Welt nichts vollkommenes erfunden wird/daß nicht seine Mängel habe; Also ist auch hingegen kein Creatur noch Ding […] so schlimm noch nichts würdig/daß nicht etwas sonderbares an sich hette/so zuloben were […].
Dies ist das Programm eines Satirikers. Überlieferte oder selbsterfahrende Realität begegnet uns bei ihm stets in kritisch-satirischer Brechung. Einsicht in die Relativität aller Urteile verbieten ihm Haß, Hohn, Zynismus, erfordern „Mitleiden“, „Barmhertzigkeit“ gegenüber der Gebrechlichkeit der Kreatur. Das gilt auch für seine Darstellung der Juden und der schlimmen Vorurteile seiner Zeit gegenüber diesen. Das dabei verwendete dialektische Verfahren begegnet bereits auf der sprachlichen Ebene.
So verwendet er ungeniert die sprichwörtliche Redensart „mit dem Juden-Spieß rennen“, aber er bezeichnet damit durchweg Wucher und Geiz der christlichen „Handels-Leut und Handwercker“.198 Der Kölner Notarius und Kostherr des Simplicius, nicht etwa ein Jude, ist das Exempel des Geizhalses; die Begründung entspricht den historischen Fakten: „weil keine Juden in selbige Statt kommen dörffen/konte er mit allerley Sachen desto besser wuchern“,199 Jüdische Pfandleiher und Händler gehören für Simplicius zum unkommentierten normalen Alltag;200 um so heftiger sein und des Lesers Erschrecken über die Ermordung eines jüdischen Händlers durch Olivier, den skrupellosen Straßenräuber:201
Als […] ich mich ein wenig umbschauete/sahe ich ohnweit von uns einen Kerl stockstill an einem Baum stehen/solchen wise ich dem Olivier, und vermeinte es wäre sich vorzusehen; ha Narr! Antwortet er/es ist ein Jud/den hab ich hingebunden/der Schelm ist aber vorlängst erfroren und verreckt/und in dem gieng er zu ihm/klopffte ihm mit der Hand unten ans Kinn/und sagte/ha! Du Hund hast mir auch viel schöne Ducaten gebracht/und als er ihm dergestalt das Kinn bewegte/rollten ihm noch etliche Duplonen zum Maul herauß/welche der arm Schelm noch biß in seinen Todt davon bracht hatte/Olivier griff ihm darauff in das Maul/und brachte zwölff Duplonen und einen köstlichen Rubin zusammen/diese Beut (sagte er) hab ich dir Simplici zu dancken/schenckte mir darauff den Rubin/stieß das Geld zu sich […].
Der Autor macht hier zwar auch die enge Bindung dieses Juden an sein Geld zum Gegenstand satirischer Kritik, aber er heißt das Verbrechen an ihm nicht gut, sondern schildert einerseits die Gewissensnot des dem „Ertzmörder“ Olivier ausgelieferten Zeugen Simplicius, andererseits, auch hier die soziale Wirklichkeit abbildend, daß Olivier beim Verkauf seiner Beute auf die weitgespannten Handelsbeziehungen und den Sachverstand zweier jüdischer Pferdehändler angewiesen ist.202 Die Ironie des Autors will es, daß schließlich der christliche Pilger Simplicius, der als einziger die Forderungen Christi aus der Bergpredigt ernst zu nehmen versucht, in einem Wirtshaus durch Angetrunkene unversehens in die Rolle des Juden gedrängt und verhöhnt wird (Gert Hofmann hat jüngst in seiner Erzählung ‚Veilchenfeld‘ einen ähnlich gespenstischen Vorfall geschildert):203
jeder wolle wissen wer ich wäre; der eine sagte ich wäre ein Spion oder Kundtschaffter/der ander sagte ich sey ein Widdertaufer/der dritte hielte mich vor einen Narren/der vierdte schätzte mich vor ein heiligen Propheten/die allermeiste aber glaubten ich wäre der ewig Jud […]; als daß sie mich bey nahe dahin brachten auffzuweissen daß ich nicht beschnitten war; endlich erbarmbt sich der Wirth über mich/rüsse mich von ihnen und sagte/last mir den Mann ungeheyet/ich weiß nicht ob er oder ihr die gröste Narren seyndt […].
Die seit 1602 oft gedruckte „Historia vom ewigen Juden Ahasverus“, der zur Strafe für seine Mitleidlosigkeit bei der Hinrichtung Jesu „biß an den jüngsten Tag in der Welt herumb lauffen soll“,204 dient hier der höhnenden Menge zur Deutung eines christlichen Außenseiters, und nur das Erbarmen des Wirts rettet diesen vor weiterer Entwürdigung, Die Episode relativiert das Vorurteil und erweitert sich zur Allegorie für die Situation des Menschen, Christen wie Juden, in der Welt. All das wird im Simplicissimus-Roman mehr nebenbei erzählt; Grimmelshausen stellt dem zeitgenössischen Leser vertraute Alltagswelt mit ihren schlechten Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten vor Augen und macht diese als solche satirisch-kritisch bewußt. Wer sich an der „Hülse“ genügen läßt und auf den „Kern“ nicht achtet, der wird zwar, so der Autor, seine Kurzweil haben, aber „gleichwohl das jenig bey weitem nicht erlangen/was ich ihn zu berichten aigentlich bedacht gewesen“.205
Was „aigentlich“, in Wahrheit, von den Vorurteilen gegenüber den Juden zu halten sei, darüber hat er sich in anderen Schriften noch direkter geäußert. In seinem an ein breites Publikum gerichteten Ewig-währenden Calender (1670) vermerkt er für „Anno Christi 1348“, unter dem Titel „Grosser Sterben und Juden-Noth“, daß „von Mitternacht [=Norden] her ein grosser Dampff […] vff die Erden“ gefallen sei und die große Pestkatastrophe ausgelöst habe. Er greift also die meteorologische Erklärung der großen Pest von 1349 auf und entlarvt die Beschuldigungen gegen die Juden, sie seien die Urheber, als großes Unrecht:206
Es ist nie erhört oder gelesen worden/daß dergleichen [Seuche] jemahls gewesen seith die Welt gestanden; daß musten die arme Schelmen die Juden entgelten/welche bezügtigt wurden/daß sie hin und wider die Brunnen vergifftet: solch Sterben dardurch angerichtet: auch der Christen Kinder heimblich getödtet und Brieff und Siegel sambt der Müntz verfälscht hätten; Welches in Teutschland viel tausenden das Leben kostet/die im Rauch gehn Himmel geschickt wurden/etliche in solcher Noth weil sie nicht entfliehen kondten/zündeten jhre Häuser an und verbrandten sich selbst mit Weib und Kindern […]; etliche wurden getaufft/aber mit schlechter Andacht/damahls jagten die Reichs Stätt jhre Juden von sich/zerrissen jhre Häuser und Sinagogen/und verbesserten jhre gemeine Gebäw damit/Pfaltzgraff Ruprecht bey Rhein beschützte die arme Tropffen/mit Anzeigung daß jhnen unrecht geschehe/darvor sie in die Silberbüchs blasen musten/es wehren jhrer sonst wenig darvon kommen/dann sie effenmässig in Italia und Franckreich mit Fewr und Schwerd verfolgt wurden […]/etliche rechnen bey 12000. Juden/so in diesem Jammer jhre Hälß hergeben müssen […].
Der Text bewirkt Mitleid mit den Opfern und verweist zugleich auf die ökonomischen Beweggründe der falschen Anschuldigungen wie Brunnenvergiftung, Kindermord und Urkundenfälschung.207 Bleibt noch der Vorwurf der Geldgier. Das Verhältnis der verschiedenen Stände einschließlich der Juden zum Geld hat Grimmelshausen in einer eigenen Versuchsanordnung analysiert: Rathstübel Plutonis Oder Kunst Reich zu werden/Durch vierzehen underschiedlicher namhafften Personen richtige Meynungen (1672). Auf dem Bauernhof des alten Simplicissimus versammeln sich Martius Secundatus, ein incognito reisender Fürst mit seinem Anhang, einem schwedischen Schreiber, einem reichen Bürger mit seiner Familie, einem Kaufmann und einem Handwerker, hinzu kommen eine Schauspielerin, die alten Bauersleute Knan und Meuder, die Landstörzerin und Zigeuneranführerin Courasche, der abgedankte Soldat Springinsfeld und auch Aaron, ein sechzigjähriger jüdischer Viehhändler. Bis auf die Geistlichkeit, an deren Stelle offensichtlich Simplicissimus selbst tritt, sind somit Repräsentanten aller Schichten einschließlich der Unterschichten der damaligen Gesellschaft vertreten: Im Schatten einer Linde, am utopischen Ort also, finden sie sich unter der Leitung des Fürsten zu einem gemeinsamen Diskurs über das Thema zusammen, das sie alle charakterisiert: der Gelderwerb. Der Jude Aaron, der gerade mit Unterstützung des Simplicissimus dem Knan einige Mastochsen abgekauft hat und dabei „nach ihrem Brauch mit den Händen umb sich fochtelte/als wann er eine wichtige disputation außzuführen vorgehabt“,208 lehnt die unglaubliche Einladung zunächst ab, macht darauf aufmerksam, „daß es ihm nicht gebühre“;209 er wird vom Fürsten mit Drohung und Brachialgewalt in den Gesprächskreis befördert. Aber erst als der Fürst ihm erneut Prügel androht und die übrigen Teilnehmer ihm das Ganze als Spiel erklären, fügt er sich in die ihm ungewohnte Situation, – ein bedeutungsvoller Vorgang, der einmal den ungeheuer großen Abstand der Juden von der übrigen Ständegesellschaft, ihre Rechtlosigkeit, zeigt, zum anderen aber auch die Voraussetzung einer sozialen Änderung: die Macht des absolutistischen Monarchen und die wohlwollende Gesprächsbereitschaft seiner Untertanen.
Eben diese Einstellung literarisch einzuüben, ist offenbar Ziel dieser Schrift. In den drei Gesprächsrunden über die Frage, „durch was Mittel einer der Armut entfliehen und zur Reichtumb gelangen könte“,210 erhält der Jude Aaron wie die anderen zehnmal das Wort, Seine Antworten ergeben ein realistisches Bild der Lebens- und Überlebensbedingungen jüdischer Händler. Die von ihm vertretenen Grundsätze des Geld- und Warenhandels und der sparsamsten Lebensführung unterscheiden sich von den Vorschlägen der anderen arbeitenden Ständevertreter nur durch ihre größere Ehrlichkeit und Rationalität in der Nutzung der geringen Erwerbsmöglichkeiten,
Es ist daher konsequent, wenngleich gar nicht mit der üblichen Propaganda gegen die Juden im Einklang, wenn der alte Knan für den Juden eintritt. Er sieht in Aaron den ebenbürtigen Handelspartner, den er im Unterschied zu „Secundarius“ und seinem Militär, seinen Beamten, Schultheißen und Schaffnern, im Unterschied auch zum Bürger „Altmammon“ und den wucherischen Kauf- und Handwerksleuten gerade nicht zu fürchten braucht:211
Dort vom Aron wil ich nichts sagen/dann mit ihnen zuhandlen/stehet in eines jeden freyen Willen/und die Juden alle mit einander könden mir nichts/wie ihr underschiedliche Leuth under einander thut/abnöhtigen/wann ich nicht selbst mich in die Gefahr gebe/und mich ihnen frey willig underwerffe […].
Wie wenig aber Aarons Antworten und auch die Einlassung des Knan bewirken, zeigt die abschließende gönnerhafte Folgerung des Fürsten: „Rabbi Mauschele“ könne mit seiner Profession „mehr alß wol“ zufrieden sein, da er mit seinem „Spieß [gemeint ist der Wucher, das Zinsnehmen] ohn mänigliches Einreden und Verhinderung auff allerhand Manier fechten: und ohne Beobacht- und Beängstigung [seines] gewissenlosen Gewissens durch allerhand Vortheil/List und Betriegerey erschachern/und zu [sich] rappen und sacken“ könne.212 Das sind immer noch die alten Vorurteile gegenüber den Juden, nur daß der Leser inzwischen die doppelte Moral des „gewissenlosen Gewissens“ gerade aus den Antworten der bigotten, reichen, christlichen Bürger und des Fürsten kennengelernt hat. Die Verteidigungsrede des Aaron ist dadurch um so überzeugender:213
Ich sehe an deß Herrn Meinung/daß weise Leuth bißweilen auch irren/sintemahl wann ich die Wahl hätte/und mirs mein Religion zugebe/ich wol ein grosser Stocknarr were/wann ich meinen miihsammen und armseligen Stand/darinn ich Tag und Nacht mit saurer bitterer Mühe/Gefahr/Sorg und Angst nach meinem geringen stuck Brodt lauffen und rennen muß/nicht mit einem andern und bessern zuvertauschcn wünschte.
Zur Begründung verweist er auf die Rechtsungleichheit und Rechtsunsicherheit der Juden im Zusammenleben mit den Christen:214
man legt uns zu/daß wir durch Betriegerey die Christen beseblen/verschweigt aber allerdings/daß dieselbe Kunst under ihnen auch üblich/und sich ein jeder/der mit uns handelt/befleisset/wie er dardurch zum Ritter an uns werden möge/und welcher einen Juden betreugt/bildet sich eyn/alß hätte er das gröste Werck von der Welt verrichtet/lachet darüber öffentlich und heimlich in die Faust/und kan sich dessen nicht gnug rühmen: Trutz daß alßdann einer auß uns armen Tropffen aufgezogen käme/ein groß Geschrey darauß zu machen/und wie mans in dergleichen Fällen uns zukochen pflegt/zuschelten oder zusagen: Er hat mich beschissen (mit gunst) wie ein Schelm und wie ein Dieb/wurde ein solcher nicht noch darzu von aller Welt verschmähet und außgelachet/und noch darzu von der Oberkeit gestrafft oder mit Fäusten abgetrücknet werden? Dahingegen wir arme Tropffen jedermanns Hund/ja Verrähter alß die ärgste Schelmen seyn müssen.
Der Fürst versucht diese bittere Anklage durch Ironie abzutun und wird auch dadurch immer mehr zur eigentlichen Zielscheibe der satirischen Kritik dieser Schrift; er muß schließlich so viel zugeben, daß die vom Juden gegebenen Regeln des Finanzgebarens, auf Regierungsebene praktiziert, sehr nützlich für den ganzen Staat wären. Offenbar spielt der Autor hier auf den Aufstieg der jüdischen Hoffaktoren an, läßt aber auch keinen Zweifel daran, daß nicht die rationalen Finanzprinzipien Aarons, sondern die falsch verstandene unverantwortliche Reputations- und Repräsentationssucht des Fürsten selbst sowie seine „unnöhtigen und unrechtmessigen“ Kriege Mißwirtschaft und Ruin des Landes bewirken.215 Das abschließende Gastmahl auf Kosten des Fürsten gibt dann Gelegenheit, auch auf ein ganz konkretes Hindernis des Zusammenlebens, die jüdischen Speisevorschriften, hinzuweisen, dieses Hindernis zu überbrücken und zu reflektieren. Die Meuder spendiert dem Juden „auß Mitleyden“ ein paar Eier, „damit der arm Schelm so nicht mit uns speysen wolle/kein Hunger leyden dörfte“.216
Die Geste der Meuder zeigt, daß Toleranz sich im konkreten Fall zu bewähren hat. Das aber setzt die Fähigkeit voraus, Vorurteile als solche zu erkennen und hintanzustellen. Immer wieder führt der Erzähler Grimmelshausen seine Gestalten in Situationen, in denen ihnen die Betrüglichkeit ihrer Urteile bewußt werden:217
Ich grübelte der Ursach nach warumb doch die Menschliche Urtheil gemeiniglich so betrüglich wären? Und hielte darvor/daß weil die blinde Urtheil oder der Menschen Wahn/nach der Beschaffenheit deß innerlichen Gemüths passionirten Affecten geschöpfft würden/daß sie deßwegen selten eintreffen könnten.
Der Held des ersten Vogelnest-Romans (1672), der aufgrund praktischer Erfahrung zu dieser skeptizistischen Sicht menschlicher Urteile kommt, kann sie gleichwohl noch nicht auf seine Einstellung zu den Juden anwenden; nach ersten Skrupeln wegen seines Diebslebens nimmt er sich vor, sich künftig nicht mehr an Christen, sondern an Juden schadlos zu halten:218
Ich schlug mich auff die rechte Hand gegen der Polnischen Gräntze der Meinung einem reichen Juden desselbigen Königreichs so viel Ducaten außzuwischen/als ich würde tragen können/dann ich fieng an so Gewissenhafftig zu werden/daß ich durchauß keinen Christen bestehlen wolle/er hätte dann ärger als ein Jud seyn müssen/dergleichen ich mir aber nirgends zu finden getraute/und solte ich gleich alle Winckel der Welt außlauffen.
Erst sein Bekehrungserlebnis eröffnet ihm die Einsicht auch in diesen Selbstbetrug: „ich hatte […] keinen Willen mehr zu sündigen/viel weniger den Juden oder sonst jemand sein Geld zu stehlen“,219 zeigt aber auch die Skepsis des Autors gegenüber Hoffnungen auf rasche Veränderung der Einstellungen und Gesinnungen. Mehr noch: im zweiten Vogelnest-Roman führt Grimmelshausen vor, daß selbst ein so grundsätzlicher Gesinnungswandel wie ein Bekehrungserlebnis die Vorurteile gegenüber den Juden nicht tangieren muß.220
In diesem seinem letzten Erzählwerk (1675) hat Grimmelshausen, die Klage seines Juden Aaron aufnehmend, einen christlichen Fernhandelsherrn vom Oberrhein zum Gegenstand der satirischen Kritik gemacht. Dieser Kaufmann, der in der Ich-Form seine Bekehrungsgeschichte erzählt, vereinigt, ohne es selbst zu merken, alle bösen Eigenschaften, die Christen traditionellerweise den Juden nachsagen und die wir noch bei Zedler aufgereiht fanden: Geldgier und sexuelle Gier, Rachsucht, Grausamkeit, kaltes Nützlichkeitsdenken, Verschlagenheit, Betrügerei, bigotte Religiosität, Aberglauben und Teufelsbündnerei.221 Der Autor versetzt ihn nach Amsterdam, in die Welt der reichen, aber dennoch frommen vornehmen sephardischen Juden. Er idealisiert diese nicht, sondern zeigt satirisch auch deren Schwäche auf, ihre Leichtgläubigkeit in Erwartung des Messias, der sie in der Realität (Auftreten Sabbatai Zwis 1665, zehn Jahre vor Erscheinen des Romans) und im Roman zum Opfer fallen. Hierzu greift Grimmelshausen auf den Schwank Von der Jüden Messias (1485/86) des Hans Folz zurück, des geistigen Wegbereiters der Nürnberger Judenverfolgung von 1495.222 Aber er macht aus dem Kaufmann in der Rolle des Folzschen Studenten einen betrogenen Betrüger. Der christliche Kaufmann, nicht der Jude Eliezer, ist am Ende der Geprellte, der in „wütender Melancholey“ und in „äusserster Verzweifelung“ in den Krieg geht, dem er eigentlich hatte ausweichen wollen.223 Die Ich-Erzählung des Kaufmanns, der Perspektivismus seiner überaus informativen, aber gehässigen Darstellung der Lebens- und Glaubensverhältnisse der Amsterdamer Judengemeinde und des reichen portugiesischen Juden Eliezer geben gleichwohl stets den Blick frei auf das den Juden angetane Unrecht.
Auch die im Roman geschilderten listigen, eigensüchtigen Praktiken der Judenmissionierung bleiben nicht unhinterfragt stehen.224 Im abschließenden Diskurs zwischen einem reformierten Pfarrer, einem katholischen Geistlichen und einem Juden über die Frage der Judenmissionierung gibt der Autor dem Juden das letzte Wort: Er wolle abwarten, bis sich Lutheraner, Calvinisten und Katholiken geeinigt hätten: „die mutirung der Religion sey ein grosses Werck/daran die Seligkeit gelegen/und deßhalben nicht so leichtlich/und ohne reiffen Vorbedacht zu wagen.“225 Mit ebendiesen Worten hatte der junge Simplicius die Bekehrungsansprüche des Lippstädter Pfarrers zurückgewiesen. Der Erzähler Grimmelshausen respektiert die Entscheidung seiner Gestalten, ob Christ oder Jude, für ihre Religion. Zu dieser Haltung gibt es im 17. Jahrhundert wenig Parallelen.
Grimmelshausen ist Realist genug, um die Chancen einer Überwindung von Vorurteilen nicht zu überschätzen, gerade der über so viele Jahrhunderte und in so umfassender Weise anerzogenen und zur zweiten Natur gewordenen Einstellungen gegenüber den Juden. Er ist aber auch so mutig, bei aller Skepsis nicht in Resignation zu verfallen, sondern als Schriftsteller für jedermann verständlich gegen diese Vorurteile anzuschreiben:226
Zeig damit was die Ursach sey daß wir so blind hinwandern.
Schrey Irrender steh still.
Und Warn vor Schaden Jederman, den einen wie den andern
Ob jemand folgen will.
Soweit Grimmelshausen. Ob jemand folgen will? Immer noch ist Skepsis angebracht, wenngleich im Rahmen der Erzählgattungen offenbar noch am ehesten Toleranz praktiziert worden ist, wie etwa das Beispiel Eberhard Werner Happels aus Kirchhain (1647–1690) zeigt.227 Grimmelshausen hat sich vom Philosemitismus in der gesellschaftlichen Oberschicht seiner Zeit nicht ablenken lassen vom normalen Judenhaß und Antisemitismus, ihn hat er mit Hilfe seines dialektisch-satirischen Verfahrens der Wahrheitssuche in den „blinden Urtheilen“ seiner Zeit aufgesucht und als solchen kenntlich und überwindbar gemacht.
Doch der Weg von der literarisch vermittelten Einsicht bis hin zum toleranten Handeln des einsamen Lesers oder gar der Mehrheit des Volkes war sehr weit und ist immer noch sehr weit. Gerade der Rückfall des Herrn Omnis in die alten Vorurteile im Deutschland des 20. und auch des 21. Jahrhunderts hat in erschreckender Weise auch die Ohnmacht der gutwilligen Schriftsteller gezeigt und de facto die Alternative eines Sabbatai Zwi und eines Theodor Herzl bestätigt, hat gezeigt, wie nahe uns der Erzähler Grimmelshausen mit seiner beharrlichen, nicht zu entmutigenden Arbeit gegen den betrüglichen Wahn des Zeitgeistes immer noch steht.