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Einleitung
„Nicht nur zur Zeit-Verkürtzung“ – Grimmelshausen und seine Historien I
ОглавлениеDer Erzähler Grimmelshausen als Historiker? Dafür spricht, daß er vier Werke politisch-historischen Inhalts aus historischen Quellenwerken „zusammen getragen“ hat: das biblische „Exempel Der unveränderlichen Vorsehung Gottes. Unter einer anmutigen und ausführlichen Histori vom Keuschen Joseph in Egypten/Jacobs Sohn“, den aus „Uralten Hebräischen/Persischen und Arabischen Scribenten“ zusammengestellten „Musai“, die „Anmuthige Lieb- und Leids-Beschreibung“ des burgundischen Prinzen Dietwalt und der fränkischen Königstochter Amelinde „Sammt erster Vergrösserung des Weltberühmten Königreichs Franckreich“, die „Liebs-Geschicht-Erzehlung“ des oströmischen Prinzen Proximus und der Generalstochter Lympida. Den vier Werken sind Quellenverzeichnisse beigegeben oder es wird pauschal auf eine Vielzahl benutzter Quellen verwiesen. Ob dies ein Trick des Erzählers zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit des Erzählten ist, wird noch zu prüfen sein. In jedem Fall argumentiert der Erzähler als Historiker. Die Quellen zu seiner „Histori“ wolle er kritisch benutzen, Fabulöses aussondern:
GRoßgünstiger lieber Leser/ich habe von vielen so hohen als nidern Stands-Personen die gern in der Bibel lesen/wünschen hören/sie wolten daß Josephs Histori etwas weitläuffiger beschrieben wäre/weil dann nun der Jüdische Geschichtschreiber Josephus und andere Hebreer mehr/neben dem Mahumetisten/als Türcken/Persern/Arabern und Egyptiern/auch die Griechische und Armenische Christen viel seltzame Sachen von Josephs Leben haben/die sich nicht in der Bibel befinden; Als habe ich aus demselben/was heiliger Schrifft nicht zu wider laufft/zusammen getragen/und in diß Buch verfasst/denen so die Histori Josephs so gern lesen/damit zu dienen/doch muß ich gestehen daß ich auch viel Dings/so gar fabelhafftig lautet/als unnütze Mährlein ausgelassen […]. 1
Historia und Fabula bzw. „Mährlein“ sind zweierlei Gattungen. In der „Histori“ geht es um verbürgte Wahrheit, deren Kriterium ist in diesem Fall die biblische Überlieferung. Gegen Kritiker gewendet, schränkt der Verfasser sein Verständnis der Gattung „Histori“ noch weiter ein: Auf Spekulationen über menschliche Willensfreiheit und göttliche Vorsehung werde er sich nicht einlassen, da solche Fragen „zu keiner Histori, sondern in die Schul gehören“2; er versteht sich als Historiker, nicht als scholastischer Theologe oder Philosoph. Als Historiker sieht er gleichwohl seine Aufgabe darin, im Verlauf der Geschichte das Walten der göttlichen Vorsehung aufzuzeigen: Geschichte ist Heilsgeschichte. Den inhaltlichen Vorgaben der Gattung entspricht die zu wählende niedere Stilebene: „Wie es nun ihme Joseph ergangen/bis alles dem Göttlichen Willen nach zu Faden geschlagen worden/solches wird in diesem Buch einfältig erzehlt.“3
Sechs Jahre später, in seiner zornigen Auseinandersetzung mit Philipp Zesen, kommt Grimmelshausen noch einmal auf seine Prinzipien als Historiker zurück. Zesen hatte in seinem Roman „Assenat“ (1670) Grimmelshausens Histori vom ägyptischen Joseph inhaltlich ausgeschlachtet, zugleich ihm mangelnde Quellentreue und fehlende Quellenkenntnis vorgeworfen und dazu noch geprahlt, daß vor ihm, Zesen, „dergleichen auf diese Weise noch niemand verfasset“ habe.4 Grimmelshausen hält dieser Behauptung entgegen: „Ich bin deß Josephs Autor […] der Kerl zauset mir die Haar auß/und darff hernach allerdings sagen/ich hätte eine falsche Parücke.“5 Zesens Vorwurf mangelnder Quellenkenntnis zu entkräften fällt ihm schwerer. Zesen hatte die mittelalterliche jüdische Geschichte von Josephs ägyptischer Gemahlin Assenat und die spätantike jüdische Lehrschrift „Letzter Willen der zwölf Erzväter“, die beide 1664 in deutscher Übersetzung erschienen waren, d.h. kurz vor Erscheinen des „Keuschen Joseph“, als zusätzliche Quellen nutzen können.6 Grimmelshausen blieb nichts anderes übrig, als die Unkenntnis dieser Quellen zuzugeben, zugleich aber in einer scharfsinnigen Quellenkritik den Wert dieser Überlieferung in Zweifel zu ziehen: „Der Asaneth Geschichte/so ich zwar nicht gesehen/halte ich vor ein Gedicht irgend eines alten Rabi/dardurch er die jüdische Jüngling zur Tugend und Keuschheit ansporren wollen […].“7
Es sei auch gar nicht zu verwerfen, daß man in solcher moraldidaktischer Absicht Joseph „eine so vortrefflich aufferzogene Gemahlin“ angedichtet habe. Ebensowenig seien die Verfasser des „Letzten Willens der zwölf Erzväter“ wegen ihrer didaktischen Intentionen zu tadeln; ihnen sei nichts daran gelegen gewesen, „ob sie in ein oder anderer Erzählung/so viel die Histori selbst anbelangt/den Grund der Wahrheit so genau erforscht und beobachtet“ oder nicht; auch hier gehe es um eine Tugendlehre für die Jugend.8 Grimmelshausen trennt also die Gattung „Histori“, die auf der gründlichen Erforschung der Wahrheit beruht, von fabelhaften Erzählungen zum Zwecke der Moraldidaxe. Die beiden von Zesen bevorzugten Schriften könne man als historische Quellen schon deshalb nicht ernst nehmen, weil sie gravierende Widersprüche zu Aussagen der Bibel wie des jüdischen Geschichtsschreibers Josephus, aber auch zu der von Zesen angeführten Version des Augustinus aufwiesen.9 Er resümiert:
Verbleibe dennoch bey meinem gefasten Wahn/daß die Geschichte der Assaneth mitsamt dem verfasten letzten Willen der Ertzvätter er erst lang nach Josephs Zeiten/von einigen jüdischen Rabinern auffgesetzt worden/mehr der Meinung/die Jugend anzureitzen/deß Josephs Tugenden nachzufolgen/als ihnen die Wahrheit der Geschicht sollen darzu legen. 10
Die „Wahrheit der Geschicht“ bleibt auch in seinen folgenden Historien leitender Gesichtspunkt. Im Fall der Dietwalt-Historia kündigt er dem Widmungsempfänger Philipp Hannibal von Schauenburg „Zwar Alt Fränckisch/doch warhaffte und curiose Geschichten“ an und verknüpft diese sogar mit der Geschichte des schauenburgischen Adelsgeschlechts.11 Die Rolle des auf die Wahrheit verpflichteten Historikers nimmt er ernst; auch innerhalb seiner Darstellung der fränkischen Geschichte erinnert er den Leser an diese Pflicht des Historikers: „Weil aber einem jedwedern Historico die Wahrheit zu schreiben gebührt/sihe/so werde ich nicht verschweigen was dieser Könige unsterblich Lob verdunckelt.“12 Das abschließende Geleitgedicht legt dem Autor in den Mund, er habe „nur zur Lieb der edlen Warheit“ seine Feder angesetzt, er selbst habe davon keinen Gewinn.13
Wie er sich in der Joseph-Historia an den vorgegebenen geschichtlichen Verlauf hält, so auch in den folgenden Historien: Die Abfolge der weltgeschichtlichen Ereignisse im gewählten Zeitabschnitt wird sowohl in seiner „altfränkischen“ wie in der oströmischen Historia ständig präsent gehalten. Das entspricht zwar nicht den Erwartungen eines Romanlesers, wohl aber den belehrenden Absichten des Historikers. Für die Joseph-Historia liefert er die welthistorischen Zusammenhänge im „Musai“ nach, auch dies nicht unbedingt zur Freude eines heutigen Lesers.
Die „Wahrheit der Histori“ besteht aber nicht nur in der Treue zu den historischen Fakten, sondern letztlich in ihrem heilsgeschichtlichen Sinn. Diesen aufzudecken, gehört zu den Aufgaben des barocken Historikers. Die Joseph-Historia ist schon im Titel als „Exempel Der unveränderlichen Vorsehung Gottes“ deklariert, in der Sproßgeschichte Musai wird auch die heidnische Welt exemplarisch dem Wirken der göttlichen Vorsehung unterstellt. Die für die beiden anderen Historien gewählten Abschnitte aus der fränkischen bzw. der oströmischen Geschichte stellen den Historiker vor erheblich höhere Anforderungen, gilt es doch hier, Abschnitte der Weltgeschichte mit besonders verworrenen und sinnlos erscheinenden Ereignisketten und nicht abreißenden brutalen Machtkämpfen in den biblisch verbürgten heilsgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen und die verschlungenen Wege der göttlichen Vorsehung zu erkunden. An solch „veränderlichen Zeiten“14, an der „Aenderung eins Staads“15 bzw. der Staatenwelt hat sich der Scharfsinn und die Gestaltungskraft des Historikers zu bewähren. In der Vorrede zu Proximus und Lympida stellt Grimmelshausen gleich im ersten Satz dieses zentrale Problem des Historikers heraus:
DJe wunderbarliche Zeit/von Anno Christi 570. biß auff Anno 650. darinnen sich diese unsere liebliche Histori unter Regierung der Käyser Mauritii, Phocae und Heraclii hat zugetragen/ist so seltzam und veränderlich gewesen/daß sie billich/durch glaubwürdiger Geschichtschreiber hinderlassener Bücher wegen so vielerhand zum theil angenehmen: zum theil erschröcklichen Begebenheiten/die sich darinnen […] allenthalben in der Welt eraignet haben/der posterität so merckwürdig und berühmbt vor Augen gestellt wird/als immermehr ein Seculum, das die Menschen seith der allgemeinen Sprach Verwirrung belebet. 16
Das Problem des Historikers – dies deuten die Attribute „wunderbarlich“, „seltzam“, „merckwürdig“ an – besteht darin, den gewählten historischen Abschnitt mit „veränderlichen“, scheinbar chaotischen Zeitläuften, mit ihren von der Nachwelt extrem positiv und extrem negativ bewerteten Begebenheiten, als letztlich zielgerichtet und sinnvoll zu erweisen: eben als Wirken der göttlichen Vorsehung. Der Leser solle, so heißt es am Schluß der Vorrede, aus der nachfolgenden Histori entnehmen, „daß dannoch der Allmächtige GOtt die seinige/die ihn lieben/förchten/ehren und ihm dienen/es gehe auch so Bund über Eck in der Welt her/als es immer wolle/ja wann der Teuffel in der Höll […] gleich selbsten ledig wäre/wunderbarlicher weiß erhalte/durchbringe/beschütze/beschirme […].“17
Grimmelshausens Wendung „Bund über Eck“ verweist auf den vorausgesetzten heilsgeschichtlichen Zusammenhang aller Historie, analog zum nicht immer gradlinig verlaufenden Bund Gottes mit seinem auserwählten Volk Israel.
Nun könnte man einwenden, eine solche Deutung der Geschichte sei nicht mehr Aufgabe des Historikers, sondern des Theologen und Predigers. Ein Historiker der Barockzeit sieht dies jedoch anders als die Humanisten vor ihm und die aufgeklärten Historiker nach ihm.18 Geschichtsschreibung und Geschichtsdeutung stehen im 17. Jahrhundert im Zeichen der Geschichtstheologie des Kirchenvaters Augustinus und seiner Lehre von den ineinander verschränkten Civitates Dei und terrena, von der Zielgerichtetheit der Geschichte als Heilsgeschichte und von der allumfassenden göttlichen Vorsehung, der die Reiche der Welt, die Fürsten wie die Untertanen, unterworfen sind.19 Die Vorrede zur Proximus-Histori Grimmelshausens ist im übrigen ein gutes Beispiel, geradezu ein Lehrstück augustinischer Geschichtsbetrachtung. Wie Augustinus wendet er sich auch gegen Versuche, Einzelereignisse als Erweise der göttlichen Vorsehung zu deuten und damit dem Verlauf der Geschichte vorschnell ein Ziel vorschreiben zu wollen. Erst längere Abfolgen von Ereignissen – Grimmelshausen wählt Zeiträume von 80 Jahren20 – können offenbar das Wirken der göttlichen Vorsehung sichtbar werden lassen. In der Dietwalt-Histori übt der Erzähler ostentativ Zurückhaltung in der Bewertung von einzelnen Handlungen, eine Zurückhaltung, die auch Augustinus empfiehlt:21
[…] was vermeint mein hochgeehrter Leser wol? […] Sollen dann diese hohe Personen von dessentwegen/daß sie ihre Grösse wusten und sich darinn erfreuen/so viel gesündigt haben/daß sie durch diese ihre freywillige Buß vermittelst deren sie alles verlassen/was die Menschen hochschätzen/und sich selbst den Bettlern gleich gemacht/noch nicht überflüssig genug gethan: und damit ihr Ubersehen ausgelescht haben? Mein freundlicher Leser ich ziehe die Achsel ein und halte mit meinem nichtigen Urtheil zuruck! den Folg dieser Histori fortzusetzen. 22
Die moraltheologische Frage nach der Vereinbarkeit von individuellem Handeln und göttlicher Vorsehung weist der Historiker ab. Erst die Abfolge der Histori läßt für ihn Rückschlüsse auf die göttliche Vorsehung zu. Erst am Ende wird offenbar, daß diese über die menschliche Vernunft triumphiert:
aber sihe! jetzt war der Tag der Widergeltung! es war eine Zeit/in welcher der allmächtige Gott der gantzen Welt zeigte/das er seine Diener erhoben vnnd beseeligen könde wann er woltt/vnnd hervor bringen möchte was gleichsamb albereit durch menschliche Vernunfft vorlängst in eine vermeintliche ewige Vergessenheit begraben worden […]. 23
Der bereits auf den Titelseiten der Erzählwerke behauptete Nutzen der Historie besteht also im Aufweis der alle Wirrnis der Weltgeschichte durchwaltenden, zielgerichteten göttlichen Vorsehung. Dies gilt zunächst für den Ausschnitt der Weltgeschichte, den der Historiker ausgewählt hat, läßt aber in analoger Weise auch Rückschlüsse für das Verständnis der Gegenwart zu. Die Dietwalt-Histori beschließt Grimmelshausen mit der Aufforderung an den Leser, „wegen deß vergangenen sich umb so viel destoweniger zu verwundern/wann er das Gegenwärtige vor Augen siehet und betrachtet“.24 Die Historie dient der Erkenntnis der Gegenwart, ist die magistra vitae.