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I. Der Antisemitismus Richard Wagners in Forschung und Wagner-Literatur. Ein Problemaufriss Allgemeines
ОглавлениеWer sich auf die Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus in Forschung und Literatur einlässt, sieht sich einer Reihe ungewöhnlicher Schwierigkeiten gegenübergestellt. Man muss sich grundsätzlich darüber im Klaren sein, worauf unlängst auch John Deathridge1 hingewiesen hat: dass es heute fast unmöglich ist, einen vollständigen Abriss auch nur eines speziellen Aspekts der Wagner-Forschung zu erstellen.
Dies hat mehrere Gründe: Schon rein quantitativ ist die Literatur über Wagner nahezu unerschöpflich und wächst weiterhin an2, woraus der Zwang zur qualitativen Auswahl und quantitativen Beschränkung der Publikationen hinsichtlich ihres forschungsgeschichtlich und problemgeschichtlich repräsentativen Werts erwächst.
Die Wagner-Literatur weist eminente Widersprüche auf, die zusammenfassende Aussagen verhindern: Für die einen ist Wagner exponierter Wegbereiter des modernen, ja des Hitler’schen Antisemitismus, für die anderen bloß ein ungefährlicher Mitläufer antisemitischer Zeitströmungen. Die Forschung hat sich bis heute noch nicht auf einen allgemein geltenden Konsensus einigen können.
Eine wirklich sachlich-neutrale Auseinandersetzung mit dem Thema ist wegen emotionaler Befangenheit und differierender ideologischer Standpunkte und Interessen vieler Autoren noch immer mehr Wunsch als Wirklichkeit.
Problematisch ist auch die Tatsache, dass sich die Wagner-Forschung keineswegs auf Publikationen innerhalb einer einzigen wissenschaftlichen Disziplin beschränkt. Literaturwissenschaftler, Musikwissenschaftler, Politologen, Soziologen, Psychologen, Theaterwissenschaftler und Historiker haben sich des Themas angenommen. (Ganz zu schweigen von den unzähligen Autoren einer bloß biographisch-belletristischen oder journalistisch-polemischen Wagner-Literatur.)3
Es kann für den Großteil heutiger Wagner-Literatur, einschließlich der wissenschaftlichen, immer noch als gültig betrachtet werden, was Moshe Zimmermann vornehmlich für die belletristische Literatur des 19. Jahrhunderts formulierte: „Für den Antisemitismus als Vorurteil war die Literatur stets ein Bezugsobjekt – ein Feld, wo Freund und Feind sich gegenseitig bekämpften und einander ihre Existenzberechtigung streitig machten!“4
Die Auseinandersetzung mit Richard Wagner, die „Wagnerfrage“5, war immer auch eine Auseinandersetzung mit der „Judenfrage“, selbst wenn sie nicht explizit gestellt wurde – jedenfalls seit der Erstveröffentlichung seiner berüchtigten Schrift über „Das Judentum in der Musik“ (1850)6, die Wagner in aller Öffentlichkeit unmissverständlich als Antisemiten auswies und mit der er sich buchstäblich ins Buch der Geschichte des deutschen Antisemitismus hineinschrieb.
„Wagnerianer“ und „Antiwagnerianer“, die es, als Wagner-Verteidiger und Wagner-Verächter, noch immer gibt, so anachronistisch es anmutet, liefern sich in der Debatte um Wagners Judenhass seit mehr als hundert Jahren eine Auseinandersetzung, in der es nicht immer in erster Linie um historische Gerechtigkeit und sachliche Erkenntnis zu gehen scheint.
Verwunderlich ist das nicht angesichts der unter den Deutschen (spätestens) seit der deutschen Reichsgründung 1871 stets aktuellen „Judenfrage“, denn der Name Wagner weckt noch immer negative historische Assoziationen und Ressentiments angesichts des Hitler’schen Wagnerismus; Vorbehalte, deren Ergebnisse sich schließlich in einer Reihe historisch fragwürdiger Schlussfolgerungen dokumentieren, die bis heute in der Wagner-Literatur, auch der wissenschaftlichen, existieren.
Den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus bildete ohne Zweifel die schon genannte Veröffentlichung seiner Schrift „Das Judentum in der Musik“ im Jahre 1850. Mit diesem Werk griff Wagner vehement in die öffentliche Diskussion der „Judenfrage“ ein, eine Frage, die (mehr noch zum Zeitpunkt der zweiten Veröffentlichung seiner Judenschrift im Jahre 1869) die Gemüter der Zeitgenossen sehr bewegte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Umfeld des Zeitpunktes der „formellen Emanzipation der meisten deutschen Juden“7, die ja durch Reichsgesetz von 1871 fürs Erste vollzogen war, in den Anfangsjahren des neugegründeten Deutschen Reiches also, flammte ein qualitativ neuer, vor allem aber die Massen bewegender Antisemitismus auf.
Der Historiker Theodor Mommsen verurteilte ihn (1893) in vernunftgläubigem Optimismus als eine „schimpfliche Krankheit der Zeit“8, die bald vorübergehen werde. Mommsen irrte, wie die deutsche Geschichte gezeigt hat. Der Antisemitismus der Gründerzeit war der Geburtsakt des modernen militanten (Rassen-)Antisemitismus, der in Hitlers Holocaust gipfelte.
Die Reaktionen der Zeitgenossen auf Wagners Judenartikel reichten von Äußerungen der Enttäuschung, entsetzten Aufschreien und polemischen Attacken bis hin zu betulichen Verharmlosungs- bzw. Verteidigungsschriften9.
Zum Zeitpunkt der ersten Publikation der Judenschrift, mehr noch zum Zeitpunkt der zweiten, gab es bereits so etwas wie eine, wenn auch quantitativ noch relativ bescheidene Wagner-Literatur, die sich allerdings vornehmlich mit der Musik und den Dramen Wagners befasste.
Seit Wagners Veröffentlichung des Judenpamphlets aber setzte eine Flut von literarischen Auseinandersetzungen mit Wagner und dem Phänomen seines Antisemitismus ein. Alle Wagner-Literatur hatte sich von nun an auch mit Wagners Judenhass auseinanderzusetzen. Und damit begann die erste von vier Phasen der literarischen Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus, die im Folgenden charakterisiert werden sollen.
Kennzeichnend für diese erste Phase war, dass in dem Maße, in dem die, wenn auch scheinbar in fortschreitender Assimilierung sich lösende Judenfrage immer noch kontrovers diskutiert wurde, auch die Auseinandersetzung mit Wagner widersprüchlich blieb hinsichtlich einer Bewertung seines Antisemitismus. Wagnerianer und Antiwagnerianer standen sich gegenüber, aber auch Antisemiten und Philosemiten.
Die Reaktion auf den (sehr schnell seines Pseudonyms entkleideten) Autor der antisemitischen Schrift war ungeheuerlich: Es entbrannte für Jahre, ja Jahrzehnte ein regelrechter Wagner-Streit, in dem sich Anwälte wie Ankläger Wagners eine Schlacht vor allem (wenn auch nicht nur) um Wagners Antisemitismus lieferten. Dieser stand nunmehr für Jahre beinahe im Mittelpunkt einer jeden Auseinandersetzung mit Wagner und seinem Werk. Wo der Name Wagner fiel, und das ist bezeichnend für die Wagner-Debatte nicht nur jener Zeit, wurde oft nicht mehr differenziert und nicht mehr unterschieden zwischen Person, Werk und Wirkung.
Auf die zweite Veröffentlichung der inzwischen als „Juden-Broschüre“10 bezeichneten Schrift im Jahre 1869 sollen in kurzer Zeit bereits mehr als 170 Gegenschriften11 veröffentlicht worden sein. Spätestens von diesem Zeitpunkt an, so sollte man meinen, hätte es eigentlich keine biographisch verfahrende Literatur mehr über Wagner geben können, die nicht auch immer Wagners Antisemitismus zu reflektieren gehabt hätte.
Gleichwohl gab es schon damals (und gibt es noch heute) Wagner-Literatur, die, wie Julian Schmidt (1869), Wagners Judenhass als „nur eine von den verschiedenen Marotten Wagners“12 bagatellisierte, wenn nicht völlig ignorierte. Bei Durchsicht der immensen Wagner-Literatur13 entsteht der Eindruck, dass es sogar die überwiegende Mehrzahl aller Publikationen über Richard Wagner ist, die das Riff seines Antisemitismus zu umschiffen sich bemüht.
Im Folgenden sollen zwei repräsentative Beispiele aus der Wagner-Literatur zitiert werden, die typische Strategien der Verharmlosung des Wagner’schen Antisemitismus dokumentieren.
Einer der ersten Autoren, die sich wissenschaftlich mit Wagner auseinandersetzten, war der jüdische Musikhistoriker Guido Adler. Seine Verharmlosungsstrategie kann als durchaus typisch gelten: In seinen 1903/1904 gehaltenen Wagner-Vorlesungen, die, der Autor verschweigt es nicht, „von Ehrfurcht erfüllt“14 waren, wird Wagners Judenhass, der sich zu Adlers Zeit nicht totschweigen ließ, zumindest großzügig entschuldigt mit dem Hinweis darauf, dass er, Wagner, ja nicht als Theoretiker, sondern als Künstler schreibe. Folglich habe man Wagners Äußerungen über das Judentum nicht gar so ernst zu nehmen: „Wagner bezeichnet die große Opposition glattweg als ‚Judenschaft in der Musik‘. … Er jagt da nach einem Phantom, welches der Gegenstand vieler Treibjagden gewesen ist. Etwas mehr Maß hätte man auch von dem erregten Künstler erwarten dürfen.“15
Die offensichtlich auch für Adler unübersehbaren „Widersprüche und auch die einzelnen Unsinnigkeiten seiner Axiome“16 bemüht sich der Autor mit einem methodisch fragwürdigen Ausweichmanöver zu überspielen, das interpretatorischer Willkür Tür und Tor öffnet. Hinsichtlich des Judenaufsatzes von 1850 heißt es: „Seine theoretischen Abhandlungen für sich sind ein Irrgarten, in welchem sich nur derjenige zurechtfinden kann, welcher Wagners Kunstwerke kennt, genau kennt.“17 Adler entschuldigt und rechtfertigt also Wagners Theorie, indem er sie ausschließlich aus der künstlerischen Praxis verstanden wissen möchte.
Etwa siebzig Jahre nach Adler wird sich Hartmut Zelinsky – wenn auch mit entgegengesetztem Vorzeichen – der gleichen Methode bedienen (auf die noch detailliert einzugehen sein wird), um Wagners Kunst, sein Musikdrama also, ausschließlich aus (willkürlich zusammengesuchten und zu einem künstlichen System montierten) theoretischen Äußerungen von ihm erklären zu können.
Auch der Musikschriftsteller Paul Bekker, um ein Beispiel der Wagner-Literatur aus der Zeit der Weimarer Republik heranzuziehen, versucht in seinem ohne Zweifel bedeutenden Wagner-Buch von 1924, den Wagnerschen Antisemitismus gewaltig zu entschärfen. Bekker betrachtet diesen „ebensowenig realpolitisch“18 wie auch andere theoretisch-diskursiv geäußerte Gedankenbildungen Wagners, etwa seine sozialistischen Ideen. Dabei lässt Bekker erstaunlicherweise seine gedankliche Sensibilität und Differenziertheit vermissen, mit der er in der Erörterung musikalischer Fragen besticht. Er ignoriert schlichtweg den konkreten Antisemitismus Wagners und wirft ziemlich unbekümmert den Juden-Aufsatz von 1851 kurzerhand in einen Topf mit den frühen Kunst- und den späten Bayreuther Regenerations-Schriften. Wagner ist für Paul Bekker auch als Verfasser antisemitischer Schriften theoretisch nicht ganz ernst zu nehmender Künstler – ein Künstler, dessen Ideen und Abhandlungen, seien sie auch mit dem Anspruch theoretischer Geltung vorgebracht, nur mehr als Versinnbildlichungen künstlerischer Assoziationen und Vorstellungen zu betrachten seien. Bei Wagners Antisemitismus, so Bekkers Argumentation, liege etwas völlig „anderes vor als persönliche oder sachliche Gegnerschaft“.19 Wagners „Judenbegriff“ wird in Verkennung oder Leugnung auch damals bereits bekannter Fakten als ein „in der Besonderheit seiner Künstlerentwicklung begründetes Phänomen“ betrachtet: Er beruhe auf dem „Bedürfnis kritisch-spekulativer Vorstellungsbildung, wie die Entstehung seiner Schriften und gedanklichen Darlegungen überhaupt“.20 Für Paul Bekker bedeutet der Begriff „Jude“ in Wagners Schriften schließlich nichts weiter als ein Symbol, als Veranschaulichung einer künstlerischen Idee: „Der Jude ist die Dissonanz, die die Harmonie der Welt stört“, ist „plastisches Modell“, das der „Entfaltung zur Dämonie des Dunkels fähig ist“. Warum gerade der Jude, so fragt man sich bei heutiger Lektüre. Und da verrät sich Paul Bekkers eigenes antisemitisches Vorurteil: „Als solches Modell bietet sich der Jude, wie er in der Hervorhebung aller niedrigen Eigenschaften seiner Rasse durch Jahrhunderte in der Volksphantasie lebt.“21
Mit der Machtergreifung Hitlers und der damit einhergehenden nationalsozialistischen Wagner-Beweihräucherung wie -Einverleibung begann ein neues, zweites Kapitel der Wagner-Forschung, sofern man von der Literatur jener Zeit überhaupt von „Forschung“ sprechen darf. Ein einheitliches, der herrschenden antisemitischen Doktrin gefügiges Wagner-Bild wurde mit Brachialgewalt propagiert: Wagner sollte gewissermaßen als pränationalsozialistischer Muster-Antisemit und deutschester der Deutschen dastehen.
Im Vorgriff auf den rezeptionsgeschichtlichen Teil dieses Buches soll dieses Wagner-Bild schon an dieser Stelle kurz charakterisiert werden. Ich will es hier allerdings dabei bewenden lassen, in nuce die Tendenz dieses zwar wirkungsgeschichtlich auf so fatale Weise bedeutsamen, doch bei nüchternem Verstande besehen geradezu absurden Schrifttums darzustellen:
Da die ‚Judenfrage‘ eine zentrale Frage, der Antisemitismus eine tragende Säule der nationalsozialistischen Ideologie darstellte, war den Ideologen des Dritten Reiches alles willkommen, was sich in den Dienst der herrschenden Weltanschauung stellen ließ, und sei es durch bewusst verfälschende Auslegung. Wenn das auch keineswegs nur für Richard Wagner gilt (auch Goethe und Nietzsche, um nur zwei namhafte Autoren zu nennen, wurden zu Ahnherren nationalsozialistischer deutscher Gesinnung erklärt), war doch vor allem er es, auf dessen Antisemitismus sich die Nationalsozialisten berufen zu können glaubten. Hitler soll gar behauptet haben, er sehe in Wagner seinen einzigen Propheten.22
Freilich fiel es den Nationalsozialisten nicht allzu schwer, das antisemitische Vokabular der einschlägigen Schriften und das (besonders aus heutiger Sicht) nationalistisch anmutende Vokabular mancher Dramen Wagners im Sinne ihrer Ideologie auszulegen. Und so wurden sie nicht müde, Wagner von ihren gleichgeschalteten Kulturschaffenden als geistigen Ahnvater der nationalsozialistischen Bewegung und deren militanten Judenhasses deklarieren zu lassen, wie ein reichhaltiges Schrifttum belegt.23
In diesem Zusammenhang muss schon hier wenigstens darauf hingewiesen werden (was im Folgenden en détail dargestellt werden wird), dass in Übereinstimmung mit dem kulturellen Sendungsbewusstsein Cosima Wagners die völkisch-national gesinnten Autoren des „Bayreuther Kreises“24 die nationalsozialistische Wagner-Auslegung vorbereiteten. Zu nennen sind in erster Linie Autoren wie Leopold von Schroeder, Hans von Wolzogen, Heinrich von Stein, Ludwig Schemann und vor allem Houston Stewart Chamberlain, der das Werk seines Schwiegervaters und die Kulturinstitution Bayreuth den politischen Intentionen Adolf Hitlers ideologisch dienbar zu machen verstand – so wie Winifred Wagner dem Hitler’schen Wagnerismus tatkräftig unter die Arme griff.
Mit dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur setzte nach 1945 eine neue, die dritte Phase der Wagner-Rezeption ein, eine Phase, die keineswegs einheitlich genannt werden kann. Im Gegenteil: Seit 1945 hat die Wagner-Forschung durchaus sehr verschiedene Wege eingeschlagen und hat sich sehr unterschiedlicher Methoden bedient. Erstmals aber, und das ist das Neue und Gemeinsame, was alle Wagner-Literatur nach 1945 verbindet (von Ausnahmen sei bei diesem Versuch eines skizzenhaften Überblicks einmal abgesehen), setzte jetzt methodisch-systematische Forschung ein.
Bewegte sich die Wagner-Literatur vor der nationalsozialistischen Wagner-Deutung zum größten Teil im extrem subjektiven Spannungsfeld zwischen Hagiographie und Attacke, beschäftigte sie sich nach 1945, vorsichtig zunächst im Bereich der Musikwissenschaft, dann auch in der Literaturwissenschaft und in weiteren wissenschaftlichen Disziplinen betont sachlich mit dem Thema Wagner – freilich mit veränderten weltanschaulichen Voraussetzungen.
Oft waren diese Vorzeichen jedoch mit einem der kritischen Erkenntnis nicht immer förderlichen Tabu besetzt, das einer Aufarbeitung des nationalsozialistisch belasteten Wagner-Komplexes im Wege stand. Auch handelte es sich oftmals um die unveränderte Übernahme der gleichen, falschen Wagner-Mythisierung der Jahre 1933–1945, nur eben mit umgekehrten Vorzeichen, „in der Tendenz nunmehr gegen Wagner“ gerichtet, die dazu führte, dass Wagner zu einem der vielen Kinder gemacht wurde, „die im Nachkriegs-Deutschland ‚mit dem Bade ausgeschüttet‘ wurden“,25 wie Paul Arthur Loos zu Recht bemerkte. Eine neue, sozusagen antinationalsozialistische Wagnerfeindschaft flammte nach 1945 auf, eine Feindschaft, die sich im besten Falle aus der alten unhinterfragten und doch so fragwürdigen Nietzsche-Kritik speiste, auf die ich noch zu sprechen komme.
Dabei ließ sich folgende Ambivalenz beobachten: Einerseits schien die Auseinandersetzung mit Wagner geradezu mit dem Tabu jedweder ideologischen oder politischen Fragestellung besetzt. Wagners weltanschauliche Theoreme wurden ebenso ignoriert wie seine antisemitischen Vorstellungen und Bekundungen, was hieß, dass seine theoretischen Schriften (die frühen kunsttheoretischen ausgenommen) meist nicht berücksichtigt wurden. Die Wagner-Literatur der ersten zwei Jahrzehnte nach 1945 spiegelt deutlich eine Berührungsangst vor dem Thema des Antisemitismus Richard Wagners. Es wurde fast ausschließlich über rein musikwissenschaftliche, entstehungsgeschichtliche, ideen- und mythengeschichtliche oder sonstwie literaturwissenschaftliche Fragestellungen geschrieben. Man scheute sich, Wagners weltanschauliche, kulturanthropologisch-philosophische, religiös-nationalistische Theoreme und Ideologeme, geschweige denn seine ideologische Wirkung wahrzunehmen und man scheute nicht zurück vor Verharmlosungstaktiken. Um den durch die Nazis in Misskredit gebrachten, ja ramponierten Künstler Wagner zu retten, ignorierte man den Theoretiker und Schwadronierer Wagner.
Eine der typischen Verharmlosungstaktiken dieser Zeit findet sich bei dem Musikschriftsteller Curt von Westernhagen, einem Autor, der es sich noch 1935 zur Aufgabe gemacht hat, ganz im Sinne der nationalsozialistischen, antisemitischen Ideologie ein Buch über „Richard Wagners Kampf gegen seelische Fremdherrschaft“26 zu veröffentlichen. In seinem Wagner-Buch von 1956 allerdings, wo der Autor seine frühere Publikation vergessen zu haben scheint, bagatellisiert Curt von Westernhagen den Wagner’schen Antisemitismus (wie schon Paul Bekker) mit der bloßen Bemerkung, es sei derselbe doch gar nicht „realpolitisch“27 zu verstehen. „Juden, die wußten, worum es Wagner ging“, so von Westernhagen, „haben denn auch an seiner Schrift (gemeint ist die Judenbroschüre, D. S.) niemals Anstoß genommen.“28Des Weiteren weist der Autor (wie so viele vor und nach ihm) auf den nahen, freundschaftlichen Umgang Wagners mit zahlreichen Juden hin, was als Indiz für einen vermeintlichen Philosemitismus Wagners gelten soll.
Schließlich sei, wie mit einem Zitat des französischen Mediävisten Gabriel Monod belegt wird, Wagners Antisemitismus als durchaus verzeihlich abzutun: „Wenn du ein Jude bist, so bist du geneigt, ihm (Wagner, D. S.) sein Pamphlet über das Judentum in der Musik zu verzeihen, … Du nimmst ihn, wie er ist, voller Fehler – ohne Zweifel, weil er auch voller Genialität ist – aber unbestritten als ein höheres Wesen, als einen der größten und außerordentlichsten Menschen unseres Jahrhunderts.“29
Eine andere, für die Unbekümmertheit der Wagner-Retuschierung der 50er und 60er Jahre bezeichnende Methode lässt sich anhand einer populären Bildbiographie Walter Panofskys30 verdeutlichen. Der Autor dieser Biographie glaubt, mit der bloßen Zitierung eines aus dem Kontext herausgerissenen und keines Kommentares gewürdigten Briefes des Dirigenten Hermann Levi Wagner vom Vorwurf des Antisemitismus auf einfache Weise befreien zu können: „Er ist der beste und edelste Mensch. Auch sein Kampf gegen das, was er ‚Judentum‘ in der Musik und in der modernen Literatur nennt, entspringt den edelsten Motiven – und dass er kein kleinliches Risches hegt, wie etwa ein Landjunker oder ein protestantischer Mucker, beweist sein Verhalten zu mir, zu Rubinstein, zu Tausig …“31
Andererseits gab es erstmals Autoren, in erster Linie angelsächsische Autoren wie Peter Viereck32, Oscar Meyer33 und Ernest Newman34, die sich in Sachen Wagner um kritische Vergangenheitsbewältigung bemühten und die politische Dimension des Phänomens nicht ausklammerten. Doch es dauerte lange, bis auf breiter Ebene ein kritisches, ideologiekritisches, die historischen Entstehungsbedingungen und -voraussetzungen mitbedenkendes, aber auch die völkische und die nazistische Rezeption reflektierendes Nachdenken über Wagners Antisemitismus einsetzte, obwohl Ernest Newman mit seiner wegweisenden (der bis heute bedeutendsten) Wagner-Biographie früh schon Maßstäbe setzte.
Zwar erschien bereits 1952 Theodor W. Adornos (1939 konzipierter und in Auszügen schon publizierter) geradezu Schule machender „Versuch über Wagner“35, in dem zum ersten Mal rigoros der Antisemitismus Wagners (als Idiosynkrasie) zu einem konstitutiven Strukturelement des Wagner’schen Denkens, mehr noch: seiner Musikdramen erklärt wurde. Diese Publikation ist allerdings als eine für die Wagner-Literatur der Nachkriegszeit durchaus unrepräsentative, wenn auch folgenreiche Auseinandersetzung mit Wagner anzusehen. Adornos Buch zog in den Sechzigerjahren mindestens vier Veröffentlichungen nach sich, die seiner These nachdrücklich verpflichtet waren,36 sie allerdings im Wesentlichen auch nur paraphrasierten, ohne nennenswert Neues mitzuteilen.
Die Phase der vorwiegend „ideologiefreien“ Auseinandersetzung mit Wagner, eine Zeit, in der bedeutende Musik- und Werkanalysen veröffentlicht wurden, endete spätestens 1976 endgültig. Es war der Zeitpunkt der hundertsten Wiederkehr der Bayreuther Festspiele, zu dem eine Reihe radikal kritischer, zuweilen aber bloß polemischer, wenn auch die öffentliche Meinung mächtig aufrüttelnder Arbeiten über Wagners Antisemitismus erschienen. Seither hat sich das Hauptinteresse der Wagner-Forschung deutlich verändert, in deren Mittelpunkt bis heute die Rezeptionsgeschichte Wagners gerückt ist.
Es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, dass das spezielle Thema des Wagner’schen „Antisemitismus“ erst seit diesem Datum eigener wissenschaftlicher Auseinandersetzungen, wenn auch meist nur zu Einzelfragen und in Form kleinerer Beiträge in Periodika, für wert befunden wurde.
Hartmut Zelinsky37 machte 1976 den Anfang mit einer vielbeachteten ideologiekritischen, wirkungsgeschichtlichen Dokumentation über Richard Wagner. Der Autor ist zweifellos als rigorosester Initiator des Interesses an rezeptionsgeschichtlichen Fragestellungen zu würdigen. Er hat seither in zahlreichen Veröffentlichungen, die allerdings oft über bloße Wiederholungen und Paraphrasierungen seiner 1976 vorgetragenen Kernthese nicht hinausgingen, viele widersprüchliche Veröffentlichungen zum Thema provoziert und eine nachhaltige Debatte um Wagners Antisemitismus entfesselt, die in ihrer emotionalen Heftigkeit in der Geschichte der Wagner-Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts einmalig ist.
Bemerkenswerterweise zeichnet sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung um Wagners Antisemitismus dadurch aus, dass von einem sukzessiven, kontinuierlichen Erkenntniszuwachs, von einer fortschreitenden Klärung anstehender Probleme durchaus nicht die Rede sein kann, von einem Konsens ganz zu schweigen.
Es ist vielmehr so, dass neben neu gewonnenen Erkenntnissen, die in den meisten Fällen mehr methodischer Sorgfalt und historischer Genauigkeit als neuen Quellen38 zu verdanken sind, der weitaus größte Teil der Literatur aus einem relativ gleichbleibenden Repertoire von Vorurteilen, Behauptungen, Thesen und Hypothesen schöpft, die unverändert oder doch bloß modifiziert übernommen und fortgeschrieben werden, je nach ideologischem Standpunkt und Interesse des Autors.
Als besonders befremdlich muss zum Beispiel gelten, dass ein Autor wie Martin Gregor-Dellin, Mitherausgeber der Tagebücher Cosima Wagners, in einer umfangreichen Wagner-Biographie39, die zum Zeitpunkt ihres Erscheinens als das Nonplusultra der Wagner-Biographik gepriesen wird, sich einer bemerkenswert diffusen Vernebelungstaktik bedient, um Wagners Antisemitismus zu entschärfen, anstatt die ihm erstmals zur Verfügung stehenden Quellen zur Erhellung des heiklen Themas zu nutzen und auszuwerten. Mit romantisch-pathetischer Verklärung, in zuweilen blumig-poetischer Sprache und unter Zuhilfenahme eines pseudo-psychoanalytischen Argumentationsschemas versucht Gregor-Dellin, Wagner von seinen charakterlichen Defekten, als deren einer auch dessen Antisemitismus als Folge einer als außerordentlich leidvollen Vita, insbesondere einer traumatischen frühen Kindheit betrachtet und erklärt wird, reinzuwaschen: „Irgend etwas hatte ihm eine Wunde zugefügt, die nicht heilen wollte“40, heißt es bei Gregor-Dellin. „Die tiefen seelischen Verstörungen“41 der Kindheit, als da genannt werden: „Verlust- und Existenzangst“42, extrem „starke Mutterbindung“43, auch vom „vielfachen Einbruch des Todesschreckens“44 in das kindliche Leben ist die Rede, hätten „jene Funken in die Seele des Kindes gegraben, die das widersprüchliche Bild Richard Wagners mit prägten“45. Und mit Wagners Lebensangst, die in seiner Kindheit ihre Ursachen gehabt habe, wird schließlich Wagners Antisemitismus als eine Art verkappte Religion und Heilslehre entschuldigt.46 Gregor-Dellin betrachtet Wagners Antisemitismus als „Ersatzlösung für das unbewältigte Lebens- oder Gesellschaftsproblem“47. Auch wenn Gregor-Dellin auf Wagners Ressentiments gegen Meyerbeer und Mendelssohn, Wagners Hass gegen die Reichen, Wagners Vaterlosigkeit und Wagners „Wut aus schlechtem Gewissen“48 als Motive eines Judenhasses zu sprechen kommt, er löst leider nicht ein, was er als Postulat aufstellt: „Der Antisemitismus Wagners bedarf … einer eingehenderen Analyse, da sich in ihm Privates, Ökonomisches und Rassistisches zu einer gefährlichen Pseudo-Ideologie vermischten.“49 Nicht zuletzt Gregor-Dellins bis heute uneingelöste Aufforderung motivierte mich, dieses Buch zu schreiben.
Um einen Überblick über den aktuellen Stand der Wagner-Forschung (hinsichtlich ihrer Behandlung des Antisemitismus Richard Wagners) und ihrer noch offenen Fragen und unbewältigten Probleme zu geben, versuche ich zunächst, einen systematisch orientierten, kritisch Bilanz ziehenden Abriss der in der Forschung noch immer kontrovers diskutierten Probleme zu geben. Ein chronologischer Abriss der Wagner-Forschung und ihres Niederschlags in der Literatur wäre so unsinnig wie unmöglich, weil, wie ich schon erwähnte, eben kein sukzessiver Erkenntniszuwachs, keine kontinuierliche, aufbauende Erforschung des Problems des Wagner’schen Judenhasses existiert. Stattdessen kennzeichnen Wiederholungen und Rückgriffe die Literatur zum Thema.
Noch eine Vorbemerkung zur Auswahl der Literatur: Um dem Thema des Wagner’schen Antisemitismus in seiner Ernsthaftigkeit gerecht zu werden und es nicht unnötig zu verwässern, sind im Rahmen dieser Untersuchung in erster Linie wissenschaftliche Auseinandersetzungen berücksichtigt. Nur wo es aus forschungsgeschichtlichen Gründen geboten scheint, ist auch nichtwissenschaftliche Literatur einbezogen worden.
Nach systematischer Durchsicht der Wagner-Literatur wird deutlich, dass es im Wesentlichen drei Problemfelder sind, in die die zur Debatte stehenden Fragen eingeteilt werden können – Problemfelder, denen jeweils spezielle Einzelfragen zuzuordnen sind. Dabei werden biographische Probleme, Konzeptionsprobleme und Rezeptionsprobleme scharf voneinander zu trennen sein. Leider ist eine solche Differenzierung in der Forschung bis heute nur in Einzelfällen und nur in Ansätzen vorgenommen worden. In der mangelnden Unterscheidung, ja zuweilen in der Verwechslung von Rezeptions- und Konzeptionsproblemen liegt sogar die Hauptursache der widersprüchlichen und diffusen Forschungslage.