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Vorwort zur Neuausgabe 2013
ОглавлениеNoch immer ist Richard Wagner ein Stein des Anstoßes. Bis heute scheiden sich an ihm die Geister. Vorurteile, Unkenntnis und Missverständnisse bestimmen nahezu jede Wagner-Debatte. Das hat vor allem zu tun mit dem zwar nur 12-jährigen, aber folgenreichen düsteren Kapitel deutscher Geschichte, das 1933 begann und 1945 endete. Daher kommt, wer sich heute – nach dem Holocaust – mit Wagner beschäftigt, nicht umhin, den nationalsozialistischen Wagner-Missbrauch mit zu bedenken, der wesentlich zu tun hat mit Wagners unleugbarem Antisemitismus, der allerdings nach wie vor kaum je sachlich betrachtet wurde. Wobei eine sachlich differenzierte Analyse und historische Einordnung dieses unappetitlichen Phänomens eben nicht bedeutet, es zu verharmlosen oder gar abzustreiten. Bis heute werden ja aus der Post-Hitler’schen Perspektive immer wieder die gleichen Vorurteile und Missverständnisse in Sachen Wagner, seines Antisemitismus und seines Missbrauchs durch die Nationalsozialisten repetiert. Dieter Borchmeyer hat völlig recht, wenn er beklagt, dass es „kaum eine Kontinuität und einen Fortschritt“1 in der Wagner-Forschung gibt. Und man kann ihm nur beipflichten: „Selbst ernsthafte Wissenschaftler verlieren bei Wagner mehr als einmal ihren Verstand und beginnen zu schwadronieren.“2
Schon zur Hundertjahrfeier der Bayreuther Festspiele – 1976 – hat der damalige deutsche Bundespräsident, Walter Scheel, in seiner bemerkenswerten Rede auf ein weitverbreitetes Missverständnis hingewiesen: „Ich glaube nicht an die direkte Linie Wagner–Hitler. Man hat noch mehr solche ‚historischen‘ Linien gezogen. Sie beruhen alle auf Geschichtsbildern, die allzu simpel sind.“3 Und er fügte hinzu: „Sicher, Wagner war ein Antisemit. Aber es ist einfach falsch, zu behaupten, Hitler habe seinen Antisemitismus von Wagner übernommen. Beide, Hitler und Wagner, sind Teil einer unheilvollen antisemitischen Unterströmung des europäischen Geistes. Aber Hitler wäre sicher auch ohne Wagner Antisemit geworden.“4
Friedrich Nietzsche hat als Erster bemerkt, dass Wagner „unter Deutschen bloß ein Missverständnis ist.“5 Dieses Missverständnis begann schon im Bayreuth Cosima Wagners. Sie hat Wagner nach seinem Tod idealisiert, beweihräuchert, ideologisch verfälscht und ihn damit dem nationalsozialistischen Wagnermissbrauch ausgeliefert, aus dem ihre Schwiegertochter Winifred Kapital schlug. Dieser nationalsozialistische Wagnerismus hat bis heute jede sachliche Wagner-Rezeption in Deutschland verhindert. Übrigens schon 1886, drei Jahre nach Wagners Tod, stellte ein Besucher der Bayreuther Festspiele, Maurice Barrès, fest: „Gerade in Bayreuth ist man, sagen wir es deutlich, am weitesten von Wagner entfernt.“6
Richard Wagner hat ähnlich wie Heinrich Heine, wie Giacomo Meyerbeer oder Jacques Offenbach (als Exilant, aber auch nach seiner Amnestierung) einen Großteil seines Lebens im europäischen „Ausland“ verbracht. Fern der „Heimat“ – ein Begriff, der Wagner mit fortschreitendem Alter immer suspekter wurde – hat er die meisten seiner utopischen, pseudo- oder quasimythischen, rebellischen, politischen, gesellschaftskritischen Werke (auch der frühen, der vollendeten wie der nach wie vor unterschätzten unvollendeten7) konzipiert und ausgearbeitet. Schon als junger Mann hatte Wagner davon geträumt, als Künstler „europäisch-universell“ zu sein. Wie ein roter Faden zieht sich durch Wagners Vita denn auch der Traum von europaweiter Mobilität.8 Der 22-jährige Student Wagner bekannte seinem Leipziger Studienfreund Theodor Apel: „Hinweg aus Deutschland gehöre ich!“9 Nicht zufällig wird Wagner außerhalb Deutschlands, im europäischen „Ausland“, um diesen (in Zeiten der Globalisierung, des Internet und nahezu grenzenloser Mobilität, in denen wir doch alle gleichermaßen Ausländer wie Einheimische sind) völlig unzeitgemäßen Begriff zu verwenden, wesentlich unverkrampfter und sachlicher als hierzulande betrachtet und bewertet. Der Wagner-Biograph Martin Gregor-Dellin hat bereits beim Internationalen Wagner-Kolloquium 1983 in Leipzig betont: „Das gestörte Verhältnis der Deutschen zu Richard Wagner ist das gestörte Verhältnis zu ihrer Geschichte.“10 Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Da nahezu alle Publikationen zum Thema des Wagner’schen Antisemitismus inzwischen vergriffen sind, möchte ich mit der um einige Aktualisierungen erweiterten und auf den neuesten Stand der Literatur gebrachten Wiederveröffentlichung meiner weit ausholenden und sich um Sachlichkeit bemühenden Untersuchung diese Lücke wieder schließen.
Dieter David Scholz, Berlin im Januar 2013