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Die vergessene Verlobungsfeier
ОглавлениеMeine Freundin und ich waren uns im Frühsommer 1961 einig: Wir wollten uns im Sommer verloben und zu Weihnachten heiraten. Damals ging gerade die Zeit zu Ende, dass ein junger Mann bei den Brauteltern „um die Hand der Tochter anhielt“. Das kam uns schon reichlich antiquiert vor, schließlich waren wir volljährig. Aber meine Schwiegereltern in spe waren mit dicken Formfehlern sicher nicht zu gewinnen und am familiären Einvernehmen lag uns schon. Die Lösung war einfach. Wir schrieben einen gemeinsamen Brief an meine Mutter und an die Eltern meiner Freundin und teilten unseren Entschluss mit. Das kam gut an, der Termin im Sommer 1961 wurde festgemacht und wir bereiteten uns auf einige Tage Urlaub vor, denn gefeiert sollte in Großräschen (bei Senftenberg/Lausitz) werden, dem Heimatort meiner Braut.
Meine Urlaubsvorbereitung war von besonderer Art. Ich musste etliche künftig für mich geplante Nacht-Bereitschaftsdienste vorziehen. So verbrachte ich vier oder sechs Nächte hintereinander im Krankenhaus und war pro Nacht mindestens vier Stunden auf den Beinen. Ich kannte dann fast alle Patienten aller internistischen Stationen genau, konnte sicher entscheiden und geriet fast in eine Art nächtlicher Arbeitseuphorie. Danach reisten wir gemeinsam nach Großräschen ab. Und nun kam der Hammer: Sicher war es eine schöne Feier, sicher hatten wir in der gesamten Familie viel Freude daran, sicher waren liebe Gäste anwesend. Nur: Ich weiß davon nichts! Ohne nennenswerten Alkoholgenuss habe ich für diesen Zeitraum von der Anreise bis zum Ende nach mehreren Tagen einen kompletten Filmriss.
Warum berichte ich das? Noch heute streiten Ärzteverbände, Arbeitsgerichte, Krankenhausträger, Juristen und Politiker – meist Menschen, die solchen Schlafentzug nie selbst erlebt haben – ob Nacht-Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit zählen, wie sie zu vergüten sind und wo das Geld dafür herkommen soll. Ich habe am eigenen Leibe erlebt, wie mehrere Tage Schlafdefizit wirken können. Zwar sind mir Behandlungsfehler nicht unterlaufen, aber ich wünsche niemanden, von einem Arzt behandelt zu werden, der hinterher derartige Gedächtnislücken hat. Verweise auf das ärztliche Berufsethos, die oft als Antwort auf ärztliche Forderungen kommen, sind zwar allgemein richtig, beheben aber keine Erschöpfungszustände. Die Gehälter der Ärzte ermöglichen ihnen sicher ein paar Tassen Bohnenkaffee zusätzlich, aber Gesundheitsschäden des Arztes verhindern sie so wenig wie Missgriffe am Patienten. „Rationalisierungsmaßnahmen“ im Krankenhaus, die selten mit Vernunft (ratio) aber viel mit Einsparungen zu tun haben, bringen kaum noch Nutzen für den Patienten, denn mit dem medizinischen Fortschritt steigen die diagnostischen Möglichkeiten und die Erwartungen an Sorgfalt, Wissen und Können des gesamten medizinischen Personals. Die zusätzlichen Beschäftigten für angemessene Ruhefristen der Nachtdiensthabenden und erträgliche Arbeitszeiten der Mitarbeiter aller medizinischen Berufe müssen einfach gefunden und natürlich auch adäquat bezahlt werden. Alles Andere ist unverantwortlich!