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Ernstes Zwischenspiel: 13. August 1961

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Die Spannungen um Berlin spitzten sich im Sommer 1961 zu. Politische Diskussionen gewannen an Schärfe. Ich schrie einen jungen, hospitierenden Armeearzt an, dass er auf unsere Kosten privilegiert sei. Spionage gegen die DDR wurde aus Westberlin eh und je betrieben, wo und wie es nur ging. Ökonomische Probleme wuchsen. In Ostberlin gab es kaum Reinigungskräfte. Sie arbeiteten in Westberlin gegen niedrige Westlöhne und tauschten dann zum Wechselkurs von 1:4 bis 1:5 in Ostgeld um. So konnten sie gut leben, während in der Charité und anderen Krankenhäusern Studenten und medizinisches Personal mit Schrubber und Eimer unterwegs sein mussten. Selbst ostdeutsche Prostituierte boten ihre Dienste in Westberlin an, so lange sie nicht von den dortigen „Revierfürstinnen“ vertrieben wurden. Schon vorher hatten Westberliner ihre Lebensmittel und anderen Bedarf im Osten gekauft. In der DDR produzierte Waren wurden auf dem Schwarzmarkt weiter verschoben. Ferngläser von Carl Zeiss Jena wanderten bis Finnland. Die Regierung der DDR musste schließlich anordnen, dass bei Käufen im Einzelhandel generell der DDR-Personalausweis vorzuzeigen ist. Das schliff sich bei mir ein; ich habe ihn bis heute stets bei mir.

Sorgenvoll beobachteten Bürger der DDR und die Westalliierten, wie die DDR seit Monaten mit Eifer eine Umgehungsbahn um Westberlin ausbaute. Die Flüchtlingsströme nach Westen schwollen stark an. Ich selbst war weniger beunruhigt, weil ich eine absolut dichte Abriegelung der Stadt Berlin, mitten durch Straße, Häuser, Bahnhöfe und andere Anlagen hindurch für technisch undurchführbar hielt. Ich sollte mich täuschen.

Brunhilde war mit ihrer Schwester an die Ostsee gefahren, während ich als Neuanfänger noch keinen Urlaub nehmen konnte. An einem sonnigen Sonntag fuhr ich sie besuchen und wir verbrachten schöne Stunden miteinander. Auf der Heimfahrt überflutete mich in der Eisenbahn aufgeregtes Gerede. Erst langsam schälte sich der Kern heraus. Die DDR hatte mit Rückendeckung durch Sowjettruppen und im Einvernehmen mit dem Warschauer Pakt(3) Westberlin militärisch abgeriegelt und stoppte jede Bewegung im Sperrgebiet mit Stacheldraht (den sie, wie nach 1989 zu hören war, massenhaft auf dem westlichen Markt gekauft hatte), anderen provisorischen Hindernissen und mit der Schusswaffe. Das wurde in den Medien verdeutlicht. In einem sehr bald erscheinenden DDR-Bericht wurde über einen „Schatten in den Umrissen einer männlichen Gestalt“ berichtet, der nachts an einer Grenzbrücke gesehen wurde und nach Schusswaffengebrauch verschwand. Im Klartext: man hatte ohne zuverlässige Sicht geschossen und sich um den vermutlich Getroffenen – dem Bericht zufolge – nicht einmal gekümmert.

In den nächsten Wochen und Monaten wurden die provisorischen Sperren durch „die Mauer“ ersetzt und mit immer raffinierteren Hindernisse verstärkt, wozu auch Minen, Hundelaufstrecken und Wachtürme gehörten.

Viele DDR-Bürger waren tief betroffen, litten unter der Trennung von ihren Verwandten in der Bundesrepublik und der verlorenen Reise- und Ausreisefreiheit nach kapitalistisch orientierten Ländern. Wenn ich in den Folgejahren aus Demmin kommend mit dem Zug nach Berlin fuhr, rollte ich beim S-Bahnhof Bornholmer Straße im Norden Berlins zwischen Stacheldrahtverhauen hindurch. Wenn ich mit der Berliner S-Bahn fuhr, musste ich auf den so bequemen Ringverkehr verzichten. Zwischen den S-Bahn-Stationen Plänterwald und Treptower Park sah ich aus dem Wagenfenster die Grenzsperren in Gegenden, die mir aus der Schulzeit nicht unbekannt waren. Das tat immer wieder weh!

Durch die westliche Welt ging ein Sturm der Empörung. Der SPD-Politiker Willy Brandt protestierte wortgewaltig. Walter Ulbricht, damals fast unumschränkter Herr der DDR, erwiderte: „Spreize Dich, Pfau, morgen wirst Du gerupft.“ Seine zynische Sprache und das Mediengetöse sollten wohl abschreckend auf Fluchtwillige wirken und darüberhinaus westdeutsche Politiker demütigen.

Zur Wahrheit gehört aber mehr. Über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Umgehungsbahn und den gekauften Stacheldraht habe ich schon berichtet. Unter Berlinern war die Ablehnung der Mauer auch nicht ungeteilt. Hämisch schaute man auf die „Scheuerlappengeschwader“ genannten Frauen, die in Westberlin so leichtes Geld verdient hatten und nun aufgeregt und ratlos auf den S-Bahnhöfen standen. Endlich mussten sie da arbeiten, wo sie lebten, billige Wohnungen nutzten, ihre Kinder zur Schule schickten und auch sonst die Sozialpolitik der DDR ohne eigene Gegenleistung genossen. Der Arbeitskräftemangel der DDR besserte sich spürbar und das Bruttosozialprodukt machte einen Sprung nach oben.

Anfang August 1961 hatten sich die beiden mächtigsten Männer der Welt, der Sowjetführer Nikita Chruschtschow und der US-Präsident John F. Kennedy in Wien getroffen. Das Gespräch wurde öffentlich als gut dargestellt. Es ist fast unvorstellbar, dass dabei nicht über die wichtigsten Absichten des Ostblocks gesprochen wurde, noch dazu solche, mit militärischer Komponente. Hier hätte jedes Missverständnis die Gefahr eines Atomkrieges der Supermächte heraufbeschworen. Für die Vorkenntnis der Westalliierten spricht ein weiteres Zeichen. Westberlin wurde in der Nacht zum 13. August unter Einsatz zahlreicher Kettenfahrzeuge eingeschlossen. Einen Panzer, der über Straßenpflaster rollt, hört man in stiller Nacht vier bis acht Kilometer weit. Der Kettenlärm muss also von den Truppen Frankreichs, Großbritanniens und der USA, die sich in Westberlin aufhielten, wahrgenommen worden sein. Reaktion: Keine! Das kann nur heißen, sie wussten genau, dass sie nichts zu fürchten hatten, weil sie über die Absichten des Ostens wohlunterrichtet waren.

Wirtschaftsschwierigkeiten hin, Mitwisserschaft der Westmächte her. Kein Staat hat das Recht, seinen Bürgern das Menschenrecht auf freie Aus- und Wiedereinreise zu verwehren. Darüber hinaus war „die Mauer“ eine Abwehrhandlung und vertagte den politisch-moralischen Anspruch auf Ausbreitung des Sozialismus für unbestimmte Zeit. Aber weil in oft gut bezahlten Publikationen die Ereignisse bewusst eindimensional dargestellt werden und die Klagen über mangelnde Informiertheit unserer Jugend nicht abreißen sei es hier gesagt: Wir brauchen die ganze Wahrheit, egal wen sie schmerzt. Freuen wird sie eh nur wenige.

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