Читать книгу Hygienearzt in zwei Gesellschaften - Dietrich Loeff - Страница 53
Poliklinik Demmin
ОглавлениеMeine dortige ambulante Tätigkeit begann 1962 und war der nächste Ausbildungsschritt. In dieser Zeit bekam ich meine ärztliche Vollapprobation und konnte mich nach einem weiteren Jahr für eine Facharztausbildung entscheiden. Der erste Arbeitstag, der 13. März 1962, ist meiner Frau und mir bis heute unvergesslich. Dienstbeginn war acht Uhr früh in der Poliklinik Demmin, die Sprechstunde war voll, meine Kenntnisse in der damals recht überschaubaren Gesundheitsbürokratie – Arbeitsbefreiungsbescheinigungen, Krankenhauseinweisungsscheine und anderes mehr – waren gleich Null und meine Sprechstundenschwester, Tochter eines bekannten Theologen, war hilfreich und fleißig bis zum Umfallen. Nach der Sprechstunde war eine Außensprechstunde im Dorfe Meesiger (nahe dem bekannten Kummerower See) abzuhalten. Das durften nach DDR-Recht Ärzte tun, wenn keine medizinischen oder hygienischen Gründe dagegen sprachen. Als Konkurrenz zu anderen Ärzten galt das nie; alle hatten mehr als überreichlich zu tun und bezogen als Staatsangestellte ein Festgehalt. Unter den damals schwierigen Wegebedingungen in Mecklenburg, waren Außensprechstunden die einzige Möglichkeit für beschränkt mobile Patienten, überhaupt in eine Arztsprechstunde zu gelangen.
Nach der Sprechstunde in Meesiger waren noch die bestellten Hausbesuche zu fahren. Hausbesuche in dieser Zeit und Region sind ein besonderes Thema und erfordern eine Abschweifung mit Vorgriff. Der Arzt wurde immer von einem Kraftfahrer gefahren. Dessen Hilfe war auch unerlässlich. Die Dörfer hatten weder Straßennamen noch Hausnummern, die Wegbeschreibungen der um Besuch bittenden Patienten oft nur Eingeweihten verständlich. Hieß es zum Beispiel „das fünfte Haus an der Straße“, musste man berücksichtigen, dass die Häuser der vor nunmehr 17 Jahren zugezogenen Umsiedler selbstverständlich nicht mitgezählt wurden. Sie waren halt noch nicht so recht integriert, jedenfalls nicht ins Denken der Alteingesessenen. Gummistiefel waren unentbehrlich. Angeblich kamen in Mecklenburg die Kinder schon damit auf die Welt – daher ihre oft argen Senk-Spreiz-Plattfüße. Schwierige, nasse, verschneite Straßen und verschlammte Lehmwege erforderten das ganze Können von Berufskraftfahrern und oft musste der Arzt noch schieben helfen, um durch eine Schneewehe zu kommen.
Mich kutschierte oft ein Fahrer, der es bis 1965 auf fünfzig (!) Jahre unfallfreies Fahren brachte, dabei gehörten risikoreiche Militäreinsätze im Ersten Weltkrieg und viele Jahre als Fahrlehrer zu seiner Biografie. Fragte man die Anrufer, die um einen Arztbesuch baten (oft die Gemeindesekretärin, denn die wenigsten Einheimischen hatten ein eigenes Telefon und manche älteren Herrschaften waren auch unsicher bei seiner Bedienung), nach dem Straßenzustand, wurde der auch bei schlechtester Witterung fast immer als gut beschrieben. Mehr Klarheit schuf die Zusatzfrage, ob das Brotauto heute durchgekommen sei. Außerdem unterrichteten wir Poliklinik-Ärzte uns in der entsprechenden Jahreszeit täglich gegenseitig über Wege- und Straßenpassierbarkeit. War der Weg für PKW durch Schnee unpassierbar, wurde der Anrufer aufgefordert, über die Dorf-LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) zu einer vorgegebenen Zeit an einem vereinbarten Punkt einen Traktor oder geländegängigen LKW bereitstellen zu lassen. Fast immer geschah das auch.
Einmal – wieder bei meiner Außensprechstunde in Meesiger – wurde ich um einen Hausbesuch in der kleinen Siedlung Gravelotte gebeten, die am Ufer des Kummerower Sees lag und deren Mittelpunkt eine Ausflugsgaststätte für Dampfer aus Demmin war. Aber es war klirrender Winter und der Hohlweg zwischen dem Dorf Meesiger und der kleinen Häusergruppe von Schnee zugeweht. Ein Bauer bot mir seinen Pferdeschlitten an und erwähnte stolz, dass seine Pferde noch vor zwei Jahren auf der Trabrennbahn Hoppegarten gelaufen seien. Selbstredend nahm ich sein Angebot an und er zeigte mir, was seine Rösser noch konnten. Wir fegten querfeldein durch den Schnee, dass es stiebte und zurück ging es rasant über das dicke Eis des Kummerower Sees. Hausbesuche sind zwar Arbeit, aber diese Fahrt hat mir unvergessliche Freude gemacht.
Die Wegeverhältnisse bestimmten zwischen Herbst und Frühjahr auch oft die Reihenfolge der Besuchsfahrten. Zuerst und möglichst noch bei Tageslicht waren die entlegenen und schwer zugänglichen Orte und einzeln stehenden Häusergruppen (in Mecklenburg hießen sie Ausbauten) aufzusuchen, danach die über feste, freie Straßen erreichbaren Patienten, sicher zu jeder Tageszeit erreichbare Adressen in der Kleinstadt Demmin zuletzt. Übrigens hatte der Chefarzt der Poliklinik Demmin, Dr. Engel, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg einen anderen Ausweg aus den schwierigen Straßenverhältnissen und dem Fehlen von Autos gewählt. Er ritt zu seinen Patienten, oft Abkürzungen querfeldein und dadurch mit vertretbarem Zeitaufwand. Die Pferdeliebe färbte dann auf seinen Sohn ab, einen Schüler meiner Frau. Er wurde in den sechziger Jahren DDR-Meister im Geländeritt. Der Wettkampf fand in Demmin statt, also auf seiner eigenen Trainingsstrecke.
War die Anfahrt bewältigt, konnten gelegentlich noch andere Hindernisse auftauchen. Ich erinnere mich noch an einen kalten Winterabend, an dem ich am Zaun eines Grundstücks vergeblich rief, den großen, aggressiv aussehenden Hund wegzubringen. Licht brannte noch im Hause, aber niemand hörte mich. Der Kraftfahrer veranstaltete ein Hupkonzert, doch ebenso vergeblich. Schließlich bombardierte ich den Hofhund mit harten Schneebällen, bis sein Lärm den Hausbewohnern unerträglich wurde und sie nach ihm sahen. Erst dann konnte ich mich bemerkbar machen und den Patienten im Hause ungefährdet aufsuchen.
Zurück zu meinem ersten poliklinischen Arbeitstag. Einige der beschriebenen Schwierigkeiten häuften sich bei meiner ersten Hausbesuchstour. So kam ich erst abends um dreiviertel elf im Zimmer meiner Brunhilde an (eine gemeinsame Wohnung hatten wir noch nicht). Die war gerade im Aufbruch. Sie wollte sich mit Decke, Koffer, einem Päckchen Wäsche und anderen Utensilien auf den Weg machen, weil sie fürchtete, ich hätte einen Unfall erlitten und sei im Krankenhaus. Die weitere Arbeit in der Poliklinik war in der kalten Jahreszeit reichlich, im Sommer hatte man etwas mehr Luft und stets war die Tätigkeit interessant. Die Zusammenarbeit mit anderen Kolleginnen und Kollegen war gut. Durch intensive Bemühungen des Kreisarztes(4) wuchs allmählich auch die Zahl der Fachärzte.