Читать книгу Die kälteste Stunde - Dirk Rühmann - Страница 11
Kapitel 7
ОглавлениеZwei Tage waren vergangen, ohne dass Cora und Jörg etwas voneinander gehört hatten. Es missfiel der Staatsanwältin, dass der Pfarrer sich nicht bei ihr meldete, obwohl ihr nicht klar war, ob sie das überhaupt wollte. Hätte es keinen Grund für sie gegeben, ihn anzurufen, wäre vielleicht noch viel Zeit verstrichen, bis er den Kontakt zu ihr gesucht und aufgenommen hätte.
Für Cora stand fest, dass sein offensichtliches Interesse an ihr verblasst sein musste, wenn er sich nicht meldete. Vielleicht gab es aber auch wieder Stress mit seiner Frau. So gab sie sich schließlich einen Ruck und rief ihn an. Nach mehrmaligem Klingeln ging er an sein Handy. Für Cora nicht spürbar wurde Jörg ganz warm ums Herz, als er ihre leicht angeraute Stimme vernahm. Dieses Mal sprach sie über den Toten vor der Kirche, während er sie mit Komplimenten überzog und sich froh darüber zeigte, ihre Stimme zu hören. Auf die Frage, warum er sich nicht bei ihr gemeldet hatte, gab Ebeling zur Antwort, aus Ärger mit seiner Frau keine Muße dazu gefunden zu haben.
Nach wenigen Minuten befanden sich beide wieder auf einer Wellenlänge und verabredeten sich zum gemeinsamen Abendessen in einem Restaurant in Goslar. Cora wollte dem Pfarrer das fragliche Foto mitbringen.
Wann immer es Jörg aus unterschiedlichen Gründen in dieses Städtchen zog, bewunderte er Goslar mit seiner historischen Altstadt, der Kaiserpfalz und den schmalen kopfsteingepflasterten Straßen.
Die beiden trafen sich in einem der Restaurants am Marktplatz, wo sie sich zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss gaben. Die Angst schwang mit, von irgendjemandem aus Leuterspring, der auch hier verweilte, beobachtet zu werden.
Nachdem sie an dem einzigen noch freien Tisch Platz genommen hatten, kam eine Kellnerin und entzündete die Kerze auf einem geschwungenen Bronzeständer vor ihnen. Sie spendete anfangs ein unruhiges Licht und ließ die Schatten der beiden hektisch über die weiße Wand tanzen. Doch als sie ihr Essen bestellt hatten, fand die Kerze zur Ruhe und die Gesichter der beiden schienen in ihrem Glanz wie verzaubert.
Beide verspürten das starke Bedürfnis zu reden. Angestrengt versuchten sie, Wörter für ihre Gefühle zu finden, was sich als äußerst schwierig gestaltete. Gefühle folgten immer völlig eigenen Sprachregeln jenseits von Semantik und Grammatik. Doch irgendwann ergab sich Klarheit für beide. Sie wollten es gemeinsam wagen und klaren Tisch machen. Die fünfzehn Jahre Altersunterschied blendeten die Verliebten einfach aus.
»Sie werden dich als Pfarrer rausschmeißen«, gab Cora zu bedenken.
»Können sie nicht. Allenfalls strafversetzen. Dann hat Leuterspring keinen Pfarrer mehr. Und bevor ich in einer fremden Gemeinde meinen Dienst aufnehmen muss, lass ich mich so lange krankschreiben, bis sie mich pensionieren.«
Cora entgegnete seinen Überlegungen nichts. Sie fragte sich unentwegt, warum es gerade dieser Mann sein sollte, dem sie ihr Leben anvertrauen wollte? Doch so seltsam es auch anmutete, so verhielt es sich mit der Liebe. Sie konnte nur aufflackern und sich entfalten, wenn niemand die Vernunft dem zarten Pflänzchen der Vertrautheit entgegenhielt. So ließen sich beide von ihren Gefühlen leiten und in eine Glückseligkeit hineintreiben, aus der sie niemand wieder herausreißen sollte. Allerdings befielen beide große Zweifel, für die sie Worte der Besorgtheit fanden. Worte, die an diesem Abend bedeutungslos blieben und ungehört verhallten.
Das Foto des toten Obdachlosen, das als Grund für die Verabredung hergehalten hatte, geriet fast in Vergessenheit. Nur beiläufig spielte es eine Rolle, da Cora es aus ihrer Tasche zog und Ebeling überreichte, als der für beide zahlte und sie kurz davor waren zu gehen.
Hand in Hand schlenderten sie nun über den Marktplatz durch die Straßen und Sträßchen der Fußgängerzone. Dort lagen sie sich in den Armen und küssten einander sehr intensiv und ausdauernd. Der Pfarrer verspürte eine ausgedehnte Erregung und konnte sich sicher sein, trotz des fortgeschrittenen Alters nichts an Manneskraft eingebüßt zu haben, wenngleich der Beipackzettel seines Betablockers genau vor diesen unangenehmen Nebenwirkungen warnte.
Da es für Ebeling keinen ersichtlichen Grund gab, nach Hause zu fahren, ließ er sein Auto im Parkhaus stehen und folgte seiner neuen Liebe in deren Goslarer Wohnung.
Ihn überkam ein sehr vertrautes Gefühl aus Jugendzeiten. Es ließ diese Verunsicherung in ihm erwachen, wenn er das erste Mal die Wohnung einer Frau betrat, die ihm gefiel und die er haben wollte - und nun auch haben konnte. Er war aufgeregt, weil alles noch so fremd und ungewohnt für ihn war.
So schaute er sich zunächst die einzelnen Zimmer ganz genau an, als müsse er das Revier abstecken, in das er gerade eingedrungen war. Ebeling betrachtete das Bild auf dem Wohnzimmerschrank. Es stand dort und hatte keinen Rahmen. Glas schützte das Foto, auf dem eine Frau und ein Mann mittleren Alters abgebildet waren.
»Sind das deine Eltern?«, wollte der Pfarrer von Cora wissen.
Sie nickte nur und er stellte bei genauerem Hinsehen eine Ähnlichkeit im Aussehen zwischen Cora und ihrer Mutter fest.
»Manche Leute sagen, ich sei ihr wie aus dem Gesicht geschnitten«, bestätigte sie Jörgs Feststellung. »Aber leider sind beide schon tot«, fügte Cora mit trauriger Miene noch hinzu.
Langsam begann er sich an die ihm noch fremde Umgebung zu gewöhnen und dadurch an Sicherheit zu gewinnen, sich seiner Angebeteten öffnen und hingeben zu können.
Am nächsten Morgen fuhr er nach Leuterspring zurück. Seine Frau war bereits zum Schuldienst aufgebrochen und er war sich sicher, reinen Tisch machen zu wollen, sobald sie zurückkehrte. Er war der Lügen überdrüssig.