Читать книгу Die kälteste Stunde - Dirk Rühmann - Страница 12
Kapitel 8
ОглавлениеTee inspirierte Pfarrer Jörg Ebeling schon seit frühester Jugend. Natürlich trank er Kaffee zum Frühstück und manchmal zwischendurch. Wenn er jedoch Tee kochte und auf sein Stövchen stellte, genoss er die sich dann einstellende Atmosphäre. So weckte ein heißer Schluck aus der gefüllten dampfenden Porzellantasse an diesem Mittag nach der rauschenden Liebesnacht die scheinbar noch schlafenden Geister des 60-Jährigen.
Er setzte sich seine Hornbrille auf und nahm das Foto zur Hand, das der Tote bei sich getragen hatte. Zusätzlich holte Ebeling noch eine Lupe aus dem Schrank und besah sich die Aufnahme, die durch die starke Vergrößerung für den Pfarrer die Lebendigkeit eines Films annahm.
Er griff zur Teetasse und schlürfte daran. Das heiße Getränk verteilte sich im Magen und versprühte seine wohltuende Wirkung, durch die dem Geistlichen eine Idee kam. Er erhob sich aus seinem Sessel und ging mit dem Foto in der Hand in den Keller hinunter. Dort befand sich ein kleines Archiv seiner Kirchengemeinde, das einer seiner Amtsvorgänger angelegt hatte. Vielleicht war das Mädchen mit den Klapperlatschen ja aus dieser Gemeinde und hier irgendwann in der ersten Hälfte der Siebziger konfirmiert worden.
Er wühlte eine Weile, bis er die Schwarz-Weiß-Fotos jener Tage fand und vorsichtig auspackte. Nacheinander betrachtete der Pfarrer die Bilder und glitt in Gedanken ab in jene ferne zurückliegende Zeit, in der auch er so jung gewesen war wie diese Jugendlichen auf den Fotos.
Die Jungen trugen dunkle Anzüge und Krawatten, die Mädchen weiße Blusen und schwarze Röcke, Strümpfe und Lackschuhe. Es waren Bilder wie aus einer anderen Welt.
Jedes Jahr am Sonntag nach Ostern, dem Weißen Sonntag, hatten die Konfirmationen stattgefunden, und anschließend hatte immer derselbe Fotograf die frisch Konfirmierten in stets gleicher Pose für die Ewigkeit ins Bild gesetzt.
Da standen diese wild zusammengewürfelten jungen Menschen, die die Prozedur der Einsegnung über sich ergehen lassen hatten und nun hoffnungsfroh in die Kamera schauten, wohlwissend, wieder eine Etappe auf dem langen Weg des Erwachsenwerdens genommen zu haben. Hinter ihnen in der Mitte ragte das Kruzifix hervor und der Gekreuzigte betrachtete seine Schützlinge. Dessen Arme schienen die Mädchen und Jungen zu segnen. In Wahrheit entließ der Sterbende die Jugendlichen ins Leben. Die Bilder waren verblasst und verstaubt.
Als Ebeling das Bild des Konfirmandenjahrgangs von 1974 genauer betrachtete, entdeckte er ein niedlich gekleidetes Mädchen, bei dem es sich um das fragliche auf dem Foto handeln könnte, das der Tote bei sich getragen hatte. Außerdem erkannte er in einem der Jungen Axel Süßkraut wieder, der sich schon im beruflichen Ruhestand befand und der Vorsitzende der Freiwilligen Feuerwehr von Leuterspring war.
Der Pfarrer suchte nun nach den Namen, die auf der Rückseite der Konfirmandenfotos so aufgeschrieben waren, dass sie sich den Jugendlichen problemlos zuordnen ließen, wenn man das Bild umdrehte. Gabriele Börner war dort zu lesen. Zweifelsohne war das Mädchen aus dem Dorf. Wenn sie wirklich das Mädchen mit den Klapperlatschen sein sollte, gab es eine Verbindung zwischen dem Toten vor der Kirche, dem Foto in seiner Jackentasche und der dörflichen Gemeinde. Es schien sich um eine uralte Geschichte zu handeln, die möglicherweise hier in der Kirche ihren hoffnungsvollen Anfang genommen und nach all den Jahren am selben Ort ihr schreckliches Ende gefunden hatte. Ebeling war es gelungen, eine erste Spur ausfindig zu machen. Er war wie besessen. Dem Mädchen mit den Klapperlatschen hatte er nun einen Namen zuordnen können. Über diese inzwischen ebenfalls in die Jahre gekommene Frau würde er herausfinden, bei wem es sich um den namenlosen Toten gehandelt hatte. Dessen war er sich sicher. Und als Pfarrer wusste er, dass ein unumstößlicher Glaube all unserm menschlichen Handeln vorausging. Sein Glaube war größer als die ebenso berechtigten Zweifel, dass er sich verrennen könnte.
Als er aus dem Keller wieder nach oben zurückkam, hörte er die Haustür ins Schloss fallen. Seine Frau musste aus der Schule zurückgekommen sein. Er wusste, welche Stunde schlug und fasste allen Mut zusammen. Dennoch zitterten seine Hände und fühlten sich offensichtlich nicht stark genug, um den Schlussstrich unter so viele Ehejahre gerade wie einen Schnitt zu ziehen. Er musste es trotzdem tun. Jetzt oder nie! Pfarrer Jörg Ebeling entschied sich für das Jetzt.
»Wo bist du denn letzte Nacht gewesen?«, fragte ihn seine Frau vorwurfsvoll, während sie die Handtasche beiseitelegte und den Autoschlüssel auf die Anrichte im Flur schleuderte.
Ebeling spürte die Aggression, die sich sofort ausbreitete, nachdem seine Frau das Haus betreten hatte.
»Ich habe bei einem Freund in Goslar gepennt. Hatte zu viel getrunken, um noch mit dem Auto fahren zu können«, log er. Es war nicht der richtige Moment für die Wahrheit. Das spürte Ebeling sofort. Außerdem hatte ihn sein kurzzeitig aufgebrachter Mut in Windeseile wieder verlassen. In diesem Moment betrachtete er seine Frau und sie tat ihm leid. Sie hatte es nicht verdient, dass er sie belog und betrog. Ihre Treue zu ihm brauchte er hingegen nicht anzuzweifeln.
Sie ging nicht weiter auf ihn ein und verschwand demonstrativ in der Küche. Er wusste, dass sie ihm damit ein schlechtes Gewissen machen wollte. In der Küche kannte sich der Pfarrer nicht aus. Einen Augenblick überlegte er, ob diese Tatsache nicht mit seiner Freundin zum Problem werden könnte. Sie war fünfzehn Jahre jünger. Frauen noch nicht so weit zurückliegender Geburtsjahrgänge verhielten sich im Regelfall emanzipierter und schlüpften nicht in die altertümliche Rolle, die sie jahrhundertelang ausgefüllt hatten.
Ebeling beschloss kurzerhand, jeglicher Diskussion aus dem Weg zu gehen, und stieg noch einmal in den Keller hinab. Da verstaubten Aktenberge, für die sich im Regelfall nie wieder ein Mensch interessierte. Doch der Pfarrer hatte einen Grund gefunden, den Staub von ihnen zu schütteln und sie aufzuschlagen, um damit weit zurückliegende Vergangenheit aufzublättern und zu neuem Leben zu verhelfen.
Wenn das Mädchen auf dem Foto in Leuterspring konfirmiert worden war, stammte es aus diesem Dorf. Dann hatte es ihre Eltern hierher verschlagen oder ihre Familien waren hier schon immer ansässig gewesen. Fiel die Konfirmation des Mädchens in das Jahr 1974, lag ihr Geburtstag vermutlich vierzehn oder fünfzehn Jahre zuvor.
Ebeling nahm das Taufregister zur Hand. Tatsächlich fand er das Datum. Gabriele war am 11. Januar 1960 zur Welt gekommen und am 1. Mai 1960, einem Sonntag, in der Kirche von Leuterspring getauft worden. Als Taufpatin war Helga Ziegler eingetragen. Diese Frau lebte noch und besuchte den Seniorenkreis der Kirchengemeinde einmal im Monat montagnachmittags sowie den sonntäglichen Gottesdienst mit ziemlicher Regelmäßigkeit. Trotz ihrer 92 Jahre, die sie inzwischen auf dem Buckel hatte, fiel sie jedem durch ihren Scharfsinn sowie ihre körperliche Unversehrtheit auf. Sie marschierte noch immer ohne Gehhilfen in aufrechter Körperhaltung so durchs Dorf, als hätten die Anstrengungen der vielen Lebensjahre ihre Knochen vollständig in Ruhe gelassen. Obendrein war die alte Dame ein Ausbund an Freundlichkeit. Ebeling hatte die Patentante des Mädchens von einst gefunden.
Die Eltern von Gabriele waren aber beide tot, wie er den Akten entnahm. Die Mutter war schon 1979 gestorben und den Vater hatte Ebeling selbst im Jahre 2009 beerdigt, ohne jedoch zu wissen, welche Bedeutung er plötzlich für ihn bekam.
Nun blätterte er weit zurück und stöberte das Buch mit den Amtshandlungen der Jahre 1959, 1958 und 1957 durch. Da fand er sie: die Hochzeit von Gabrieles Eltern. Drei Jahre vor ihrer Geburt hatten sie sich in der Kirche von Leuterspring das Jawort gegeben. Benno Börner hatte Annegret Lachmann im Sommer 1957 geheiratet.
Der Pfarrer war fest entschlossen, alles über diese Familie in Erfahrung zu bringen, da er sicher war, über diesen Weg Zugang zu dem namenlosen Toten vor seiner Kirche zu finden.
Er verstaute die Akten im Keller wieder. Niemals würde irgendjemand all diese Daten digitalisieren, da sie praktisch ohne jegliches Interesse für alle Nachgeborenen waren. Vielleicht könnten sie einem Heimatpfleger dienlich sein, der eine Chronik über das Dorf oder seine Kirche schreiben wollte.
Ebelings Frau wirbelte noch immer in der Küche herum, während er die Nummer von Helga Ziegler aus dem Telefonbuch heraussuchte, zum Hörer griff und sie wählte.