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Kapitel 10

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Jörg Ebeling ging durch die verschneiten Straßen von Leuterspring zu seinem Haus zurück. In Gedanken hing er den Worten der alten Dame nach. So hatte er sie bislang noch nicht kennengelernt. Diese Bitterkeit, die lückenlos aus ihr sprach, hätte er bei der sonst so leutseligen Frau nicht vermutet. Es stieß ihn innerlich ab. Das alles stand seinen Predigten über Nächstenliebe und Vergebung diametral gegenüber. Sie saß im Gottesdienst und hörte ihm zu. Verstanden haben konnte sie ihn nicht. Er glaubte, eine Scheinheiligkeit entlarvt zu haben.

Sein Haus war menschenleer, als er es betrat. Wohin sich seine Frau schon wieder verkrümelt hatte, war ihm ein Rätsel. Jedenfalls war sie nicht da.

Schnurstracks marschierte Ebeling in sein Arbeitszimmer und fuhr den Computer hoch. Dann steckte er einen Stick in das Gerät und rief seine Trauerpredigten auf. Ziemlich schnell fand er jene, die er bei der Beerdigung vom alten Börner vor über zehn Jahren gehalten hatte. Er begann zu lesen:

Liebe Trauergemeinde,

wir sind heute hier zusammengekommen, um Abschied von Benno Börner zu nehmen. Er wurde am 5. Juni 1928 in Königsberg geboren. Seine Kindheit spielte sich im paradiesischen Ostpreußen ab, wo er die Schule besuchte und unbeschwerte Jahre im Kreise seiner Eltern verbrachte. Der Krieg klopfte erst ziemlich gegen Ende an die Pforten des fernen Ostpreußen.

Dann aber änderte sich das Leben des 17-jährigen Benno schlagartig. Kindheit und Jugend endeten am 27. Januar 1945, als die gesamte Familie von eben auf jetzt die Flucht über die zugefrorene Ostsee gen Westen antreten musste. Mutter und Sohn überlebten als Einzige den Todesmarsch und standen mittellos im zerbombten Deutschland.

Doch hier ging es nach all den Entbehrungen mit Benno wieder bergauf. Er holte sein Abitur nach und begann eine Ausbildung als Autoschlosser. Später studierte er Maschinenbau und lernte dabei seine große Liebe Annegret kennen. Sie zogen in die dörfliche Idylle von Leuterspring. 1957 heirateten die beiden und drei Jahre später wurde Tochter Gabriele geboren. Was für Benno Ostpreußen in jungen Jahren gewesen war, das wurde für die einzige Tochter Leuterspring.

1979 verstarb Ehefrau Annegret überraschend. Nun war Benno ganz auf sich allein gestellt, denn schon bald trat auch Tochter Gaby in den Stand der Ehe mit dem Arzt Doktor Schmuck ein.

Die letzten dreißig Jahre lebte Benno Börner ziemlich zurückgezogen in Leuterspring. Er verreiste nicht mehr und wurde von zunehmenden Depressionen geplagt. Sein Tod aber kam irgendwie schnell und unvermutet.

Dann folgten noch die biblische Auslegung und Worte des Trostes. Das also war die Biografie von Benno Börner. Zumindest handelte es sich dabei um das, was Tochter Gabriele und ihr Ehemann Doktor Schmuck von Pfarrer Ebeling wollten, dass er es über ihn sagte.

Zurückgezogenheit und Verbitterung über das Leben! Auch Helga Ziegler war von jener Bitterkeit durchsetzt.

So etwas kam nicht von ungefähr. Es musste irgendetwas geschehen sein, über das bislang Stillschweigen bewahrt worden war. Und es musste mit dem Toten vor der Kirche zusammenhängen. Das jedenfalls vermutete Pfarrer Ebeling, obwohl es eigentlich keinen einzigen Anhaltspunkt für diese Annahme gab.

Die Tür fiel ins Schloss. Seine Frau musste nach Hause gekommen sein. Er hörte, wie sie Einkaufstaschen absetzte und die Kühlschranktür öffnete. Sie hatte eingekauft. Ebeling verspürte wenig Lust, sie zu sehen. Seine Gedanken kreisten um Cora.

Er griff zum Handy und schickte ihr eine Nachricht. An den beiden blauen Haken erkannte Ebeling, dass sie seine Zeilen sogleich gelesen hatte. Dann sah der Pfarrer, dass Cora im Begriff war, zurückzuschreiben.

So ging es eine Weile hin und her, bis am Abend eine Verabredung der beiden stand. Ihm war klar, dass er sich noch etwas einfallen lassen musste, was er seiner Frau als Grund für das geplante Fortgehen auftischte. Vermutlich glaubte sie ihm seine Geschichten längst nicht mehr und ahnte, dass es billige Ausreden waren. Wusste sie auch, dass eine andere Frau dahintersteckte?

Die kälteste Stunde

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