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Kapitel 3
ОглавлениеPfarrer Jörg Ebeling hatte im letzten Sommer seinen 60. Geburtstag groß gefeiert. Seit Jahrzehnten war er der gute Hirte, der seine Schäfchen immer wieder zusammenführte und behütete. Aber um seine Ehe war es nicht mehr so gut bestellt. In Leuterspring war es ein offenes Geheimnis, dass das Pastorenehepaar getrennte Wege ging, obwohl die beiden weiterhin unter einem Dach wohnten, aber nicht mehr dasselbe Bett teilten. Was genau die Eheleute auseinandergebracht hatte, wusste niemand im Dorf so genau. Manchmal hatte es den Anschein, als wüssten die beiden Streithähne selbst nicht mehr, warum sie sich entzweit hatten.
Der Geistliche hatte erst kürzlich mit einer zündenden Idee für neuen Schwung im Gemeindeleben gesorgt. In Zusammenarbeit mit dem niedlichen Hotel von Leuterspring organisierte er Fastenurlaube mit spirituellem Input. Hierbei war ihm die attraktive Cora Dennigsen, eine Staatsanwältin aus Goslar, über den Weg gelaufen, die fünfzehn Jahre jünger als er war und als Single kinderlos durchs Leben marschierte. Von Anfang an war es mehr als die schwarze Robe gewesen, die sie in ihren verschiedenen Berufen miteinander verband und irgendwie einte. Er hatte sich Hals über Kopf in die wesentlich jüngere Frau verliebt. Sie war nicht abgeneigt, blieb dem Pfarrer gegenüber jedoch auf Distanz, da sie größere Probleme fürchtete. Ein Ort wie Leuterspring würde einen derartigen Skandal vielleicht nicht verkraften. Außerdem wollte die Staatsanwältin sich nicht in eine bestehende Ehe einmischen, die für Ebeling jedoch nur noch auf dem Papier bestand.
Seine Frau war schon früh zur Arbeit gefahren. Die 58-Jährige arbeitete als Lehrerin an der dorfeigenen Grundschule. Ebeling stand hinter der zugezogenen Gardine am Fenster seines Wohnzimmers und blickte nach draußen in Richtung Kirche. Längst hatte Vahldieck ihn angerufen und von dem schrecklichen Fund vor dem Gotteshaus berichtet. Doch die eisige Kälte hielt den Geistlichen zurück, das Pfarrhaus zu verlassen. Er sah die Sanitäter den geschlängelten Weg zur Kirche hinauflaufen.
Als nun auch zwei Polizeibeamte erschienen, eine junge Frau mit blonden langen Haaren und ein etwas älterer Mann mit kurzen grauen Haaren, beide in Dienstuniform, hielt es den Pfarrer nicht mehr länger zurück. Ihm schien die grimmige Kälte auf einmal egal zu sein, die ihn bislang abgeschreckt hatte. Er zog sich warm an. Dann verließ er das Haus und ging ebenfalls zur Kirche, wo sich etwas Unerfreuliches ereignet hatte.
Als er an der Kirchentür ankam, wagte er einen Blick zu dem Mann am Boden, dessen Tod von einem Notarzt festgestellt wurde, woraufhin die Rettungssanitäter ihre Erste-Hilfe-Koffer wieder verschlossen.
Nun bückte sich die junge Polizistin zu dem Toten hinunter und durchsuchte seine zerrissene Kleidung. Alles, was sie fand, war ein gut erhaltenes Foto, das der Verstorbene in der Innentasche seines dreckigen Mantels verstaut hatte. Einen Pass oder Ausweis, der über seine Identität hätte Auskunft geben können, fand sie hingegen nicht.
Kirchenvogt Vahldieck kam nun aus der sich langsam ausbreitenden wohligen Wärme des Gotteshauses ebenfalls in die Kälte nach draußen und grüßte die dort Anwesenden kurz. Dann kam es zu einem klärenden Gespräch zwischen ihm und dem Polizeibeamten, das der Pfarrer interessiert mitanhörte.
Die Polizistin stellte zeitgleich fest, dass ja die Staatsanwältin im Anmarsch sei, woraufhin Pfarrer Ebeling sich überrascht umdrehte und seine Angebetete den geschwungenen Weg zur Kirche heraufkommen sah.
Cora Dennigsen wünschte einen guten Morgen und machte gleich danach die Einschränkung, dass ein Morgen nicht mehr gut sein könne, der mit einem Toten begänne. Sie schüttelte niemandem die Hand und beachtete auch Ebeling nicht, worüber er sich natürlich erleichtert zeigte. Einen Augenblick hatte sein Atem gestockt. Heimlich bewunderte er die hübsche Frau, die ebenfalls eine Pudelmütze trug, unter der ihre langen dicken braunen Haare zum Vorschein kamen.
Die Juristin besah sich nun auch den Toten und zeigte sich von dessen Alkoholfahne angewidert. Die junge Polizistin teilte ihr unaufgefordert mit, dass sie keinen Ausweis bei ihm gefunden habe und deshalb nichts über dessen Identität aussagen könne. Sie händigte der Staatsanwältin das Foto aus, das sie in der Mantelinnentasche des vermutlich erfrorenen Mannes gefunden hatte, der allem Anschein nach ein Stadtstreicher gewesen sein musste.
Cora Dennigsen besah sich das Foto genauer. Pfarrer Ebeling stellte sich hinter seine Angebetete und begutachtete das Bild ebenfalls. Er genoss ihre Nähe, zeigte sich von dem Duft angetan, der sie umhüllte, und wusste, dass niemand Verdacht schöpfen würde, wenn er ihr in diesem Moment so nahe war.
Notarzt und Rettungssanitäter zogen ab. Der Polizeibeamte fragte die Staatsanwältin, ob er einen Bestatter verständigen dürfe und wohin der Tote gebracht werden solle.
»In die Gerichtsmedizin. Da wir keine Identität des Toten besitzen, möchte ich ausschließen, dass Fremdeinwirkung die Todesursache gewesen sein könnte«, sagte Cora Dennigsen.
Wegen der bitteren Kälte gingen Staatsanwältin und Pfarrer zusammen zum Pfarrhaus und verschwanden dort im Innern des Gebäudes.
Kirchenvogt Vahldieck störte sich nicht daran. Er hatte die Staatsanwältin schon des Öfteren in der Kirche gesehen. Nun war sie aus dienstlichen Gründen hier erschienen.
Ebeling taute regelrecht auf, als er in Begleitung von Cora sein Haus betrat. Beide legten ihre warme Kleidung ab und setzten sich über Eck um den Küchentisch, von dem aus sie einen ungehinderten Blick auf die Kirche und somit das Geschehen vor deren Tür hatten.
Verliebt schaute der Pfarrer die Staatsanwältin von der Seite an. Sie genoss das und beschloss, nicht Nein zum Interesse dieses Mannes an ihr zu sagen.
»Die ganze Zeit, in der ich hier jetzt der Pastor bin, hat es so etwas nicht gegeben. Und nun erfriert ein Mensch vor meiner Kirche. Früher war die Tür nie verschlossen. Aber seit vielen Jahren schließen wir sie aus Sicherheitsgründen ab. Der Kirchenvorstand hat es so beschlossen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, Gottes Haus zu verschließen und den Menschen den Zutritt dazu zu verwehren«, sagte er gedankenversunken vor sich hin.
Cora Dennigsen hatte Mühe, auf Ebelings Gedankenwechsel einzuschwenken. Seinen Blicken nach zu urteilen, hätte sie nicht vermutet, dass seine ersten Sätze in ihrer Gegenwart dem Toten vor seinem Gotteshaus gelten würden. Sie zeigte sich innerlich ein bisschen enttäuscht.
»Der Tote war ein Stadtstreicher und stinkbesoffen. Vermutlich hat er in der Kirche Zuflucht vor der eisigen Kälte gesucht«, reagierte sie nun etwas schroff und sachlich.
»Rettende Wärme und Geborgenheit. Er hat sie dort gesucht, wo er sicher war, sie zu finden und sie hätte finden müssen. Aber Gott hatte geschlossen. Keine Sprechstunde, auch nicht für Notfälle«, sinnierte der Pfarrer.
Sprach er nur von Wärme und Geborgenheit in der Theorie und wollte er nicht sehen, dass Cora ihm in diesem Augenblick innerlich so nahe war, dass er nur zuzufassen brauchte? All ihre Ängste vor Konsequenzen mit der Ehefrau und den Gemeindegliedern schienen in diesem Moment von ihr gewichen. Doch den Pfarrer beschäftigte im Augenblick nur der Tote. Also ging die Staatsanwältin sogleich darauf ein.
»Hierher hat sich doch in all den Jahren noch nie ein Penner verlaufen, oder?«, rückversicherte sie sich.
»Nein. Noch nie. Man konnte nicht davon ausgehen, dass so etwas passiert. Was wirst du jetzt machen? Du bist extra aus Goslar angereist.«
»Als ich gehört habe, dass es sich um deine Kirche handelt, dachte ich mir, fahr doch mal rüber.«
»Nett von dir«, lächelte Ebeling sie an und schien sich wieder auf sie zu konzentrieren.
Doch Cora blieb jetzt gezielt dienstlich. »Sie sollen ihn obduzieren, auch wenn das vermutlich Blödsinn ist. Der neue Oberstaatsanwalt wird mir wahrscheinlich Übereifer vorwerfen.«
»Er ist doch ein Hardliner. Begegne ihm genau dort, wo er abgeholt werden will. Sag ihm, dass du ein Verbrechen ausschließen können musst.«
»Der dreht alles so, wie er es braucht. Ich weiß noch nicht, wie ich die nächsten Jahre mit diesem Mann an der Spitze in unserm Justizpalast verbringen soll. Vielleicht lasse ich mich versetzen.«
»Au ja. An die Ostsee. Ich komme mit.«
Betreten sah Cora Jörg von der Seite an.
»Zeig mir noch einmal das Foto, das der Tote bei sich hatte«, bat Ebeling die Staatsanwältin, um sie von einer möglichen Antwort auf sein Ansinnen abzulenken.
Sie zog argwöhnisch die rechte Augenbraue nach oben und nahm es aus ihrer Aktentasche, in der sie es verstaut hatte. Auf dem Küchentisch strich Cora das Foto glatt.
Sie besahen es sich beide ein weiteres Mal. Es handelte sich um eine ziemlich alte Aufnahme, deren Farben stark verblasst waren. Im Vordergrund stand ein Mädchen mit langen blonden Haaren, einem weißen T-Shirt, einer Bluejeans mit breitem Schlag und hölzernen Klapperlatschen an den nackten Füßen.
»Jeans mit einem solchen breiten Schlag waren in den Siebzigern ebenso große Mode wie Klapperlatschen. Fast jedes Mädchen, aber auch viele Jungen sind damals mit diesen Holzdingern durch die Gegend gelaufen. Doch ich frage mich, warum der Tote keinen Ausweis, aber dieses alte Foto bei sich hatte. Im Gegensatz zu seiner Kleidung ist es bestens erhalten. Warum? Wer ist das Mädchen mit den Klapperlatschen?«
»Wie alt mag sie da sein?«, wollte die Staatsanwältin wissen.
»Fünfzehn oder sechzehn, würde ich sagen.«
»Das heißt, dann ist sie inzwischen um die sechzig, wenn sie damals wirklich so jung war und heute noch lebt und das Foto tatsächlich so ungefähr Mitte der Siebzigerjahre aufgenommen worden ist.«
»Auf über sechzig würde ich den Toten auch mindestens schätzen«, merkte Ebeling an.
»Mal sehen, was die Obduktion ergibt«, stellte Cora Dennigsen fest und steckte das Foto wieder ein.
»Heb das gut auf!«, riet ihr der Pfarrer.
»Wenn kein Verbrechen vorliegt, handelt es sich auch um keinen Fall. Dann bringe ich es dir wieder mit und schenke es dir. Nun muss ich ins Büro, sonst zieht mir mein neuer Chef die Hammelbeinchen lang.«
»Um deine wunderschönen Beine kümmere ich mich lieber selbst«, lachte der Pfarrer.
Doch Cora Dennigsen überging seine zweideutig eindeutige Bemerkung mit einem müden Lächeln. Der Moment war verstrichen, der alles hätte verändern können. Ein Toter lag zwischen ihren Gefühlen und genoss höhere Priorität.