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1. Rechtspolitik, Rechtsdogmatik, Rechtsanwendung

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Wie eingangs erwähnt, kann man sich aus unserer Sicht auch nach Einführung der neuen gesetzlichen Regelungen mit dem VerstG nicht auf den Standpunkt zurückziehen, die Diskussion über grundsätzliche Fragen der Urteilsabsprache sei für die Praxis erledigt und nun müssten eben schlicht die neuen Regeln angewandt werden.

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Dies gilt zum einen, weil nach wie vor gewichtige Stimmen aus der strafprozessualen Literatur (insbesondere aus der Strafprozesswissenschaft) trotz Aufnahme der Urteilsabsprache in das Gesetz behaupten, diese sei mit der StPO im Übrigen nicht vereinbar[1]. Es ist nicht überraschend, dass diese Kritik auch nach dem Urteil des BVerfG[2] – zumindest in rechtspolitischer Hinsicht – aufrecht erhalten wird.[3] Nimmt man die Kritiker ernst – und das sollte man selbstverständlich tun – so kann man eigentlich an einer Urteilsabsprache als praktisch tätiger Strafjurist nur dann mitwirken, wenn man sich zuvor Rechenschaft darüber abgelegt hat, ob es überhaupt für die gesetzlichen Vorschriften einen legitimen Anwendungsbereich gibt oder ob man sich bei jeder Urteilsabsprache, wie dies teilweise behauptet wird, zwangsläufig in unauflösbare Konflikte mit zentralen Prinzipien des deutschen Strafprozesses begibt.

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Zum anderen beeinflusst die grundsätzliche Position, die aus rechtsdogmatischer Sicht als richtig angesehen wird, natürlich ihrerseits die Auslegung der im Jahr 2009 eingeführten Vorschriften. Es liegt auf der Hand, dass derjenige, der die von vielen Autoren seit jeher beklagten Brüche zwischen Urteilsabsprache auf der einen und sonstigem Regelungsregime der StPO auf der anderen Seiten nicht oder jedenfalls nicht in dieser Schärfe sieht, wie dies teilweise vorgebracht wird, sich mit einer aus seiner Sicht dogmatisch vertretbaren Anwendung der Vorschriften leichter tun wird als derjenige, der im Grunde meint, dass allenfalls mit großer Mühe und im ein oder anderen seltenen Einzelfall die Urteilsabsprache einmal in rechtsdogmatisch vertretbarer Weise durchgeführt werden kann. Wenn es in der Vorauflage hieß, dass die Kritik aus dem Schrifttum auch dem Praktiker nicht gleichgültig sein kann,[4] so gilt dies also in gewisser Weise trotz der Reform der StPO auch heute noch. Unsere Stellungnahme fällt, um dies schon an dieser Stelle vorweg zu nehmen, so aus, dass wir die Kritik sowohl an der Dogmatik der Urteilsabsprache, wie sie bis zum Jahre 2009 von der Rechtsprechung vertreten wurde, als auch und insbesondere an der gesetzlichen Regelung für weit überzogen halten. Wir sind der Auffassung, dass die gesetzliche Regelung im Wesentlichen gelungen ist, dies im Übrigen gerade, weil der Gesetzgeber nicht versucht hat, ein völlig neues Verfahren in die StPO einzuführen. Das Gesetz enthält nunmehr klare Regelungen zu denjenigen Problemen, die in der Theorie wie auch in der Praxis tatsächlich durch das Angebot „Geständnis gegen Strafmilderung“ entstehen, und weil uns die hier gefundenen Lösungen in weiten Teilen überzeugen. Den Bedenken, die in der Literatur geäußert werden, lässt sich aus unserer Sicht hinreichend Rechnung tragen, indem die neuen Vorschriften, soweit dies möglich ist, systemkonform interpretiert werden. Dadurch ergibt sich ein praktisch nicht nur sinnvoller, sondern auch rechtsdogmatisch sehr gut begründbarer Anwendungsbereich für die Urteilsabsprache. Diesen Befund wollen wir im Folgenden in der angesichts des Zuschnitts des vorliegenden Werks als Leitfaden für die Praxis gebotenen Kürze begründen.

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Zum Hintergrund sei vorab daran erinnert, dass die Urteilsabsprache sich in der Praxis entwickelt hatte, und dass der BGH spätestens seit der grundlegenden Entscheidung des 4. Strafsenats aus dem Jahr 1997[5] die Vereinbarkeit der Urteilsabsprache mit der StPO sowie den hergebrachten und teils Verfassungsrang genießenden grundlegenden Verfahrensprinzipien des deutschen Strafprozessrechts jedenfalls im Grundsatz bejaht hatte. Es hatte sich zugleich eine etwas befremdliche Diskrepanz zwischen der nach und nach immer umfangreicher werdenden Judikatur zu Einzelproblemen der Anwendung des vom BGH entwickelten normativen Rahmens auf der einen und zum Beitrag der Rechtswissenschaft, der im Wesentlichen aus ständig wiederholter Fundamentalkritik an dem Institut der Urteilsabsprache überhaupt bestand, auf der anderen Seite entwickelt.[6]

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Misslich daran war zunächst, dass die Rechtslehre hartnäckig den Umstand leugnete, dass die StPO seit jeher auch an anderen Stellen jedenfalls im Ergebnis rechtskräftige Beendigungen von Strafverfahren mit belastenden Folgen auch für den Beschuldigten vorsieht, die von dessen Zustimmung abhängen und mehr oder weniger auch durch diese legitimiert werden. Es konnte also schon immer davon gesprochen werden, dass neben der inquisitorischen Wahrheitsermittlung, die zahlreiche Kritiker als einzige legitime Form des deutschen Strafprozesses akzeptieren wollten, auch Alternativen der Verfahrenserledigung existierten, die mit Einvernehmlichkeit zwischen den Verfahrensbeteiligten zu tun hatten. Auf diesen Aspekt wurde schon oben und wird sodann später ausführlich im zweiten Teil des Werks eingegangen. Diese Überlegung war und ist ausschlaggebend für den hier gewählten Weg, die Urteilsabsprache in den Kontext dieser, von uns als konsensual bezeichnete Erledigungsformen, zu setzen.

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Zum anderen krankte die Literatur vor Einführung des § 257c sowie der diesen begleitenden Vorschriften daran, dass sie aufgrund ihres extrem kritischen Ansatzes Schwierigkeiten hatte, Lösungen für Einzelprobleme oder gar eine Lehre zu entwickeln, die man mit Fug und Recht als Dogmatik der Urteilsabsprache hätte bezeichnen können. Wer auf dem Standpunkt beharrte, der BGH befinde sich insgesamt auf einem Irrweg und müsse einfach jedes abgesprochene Urteil als prozessordnungswidrig ansehen und am besten aufheben, konnte sich schlecht dazu äußern, welche Urteilsabsprache denn nun lege artis vorgenommen war und welche nicht. Nebeneffekt war, dass jedenfalls die Lehre über weite Strecken diejenigen Richter, Staatsanwälte und Verteidiger alleine ließ, die sich um rechtmäßiges Vorgehen bemühten.

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Man konnte die Haltung der Literatur trotz dieser Schwächen früher noch im Ausgangspunkt akzeptieren. Das lag daran, dass der Gesetzgeber noch nicht gesprochen hatte, und dass es der Rechtswissenschaft selbstverständlich nicht verwehrt ist, eine bestimmte, in der Rechtsprechung entwickelte oder von ihr mit Konturen versehene Rechtsfigur grundsätzlich abzulehnen. Das Wort des BGH ist nicht Gesetz. Diese Ausgangslage hat sich nun aber erheblich gewandelt. Der Umstand, dass eine gesetzliche Regelung existiert – die nach der Entscheidung des BVerfG vom 19.3.2013 auch nicht als verfassungswidrig anzusehen ist – zwingt nun dazu, sich mit der Frage ihrer Anwendbarkeit zu beschäftigen.

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Letzteres gilt jedenfalls dann, wenn man, wie wir es für richtig halten, die Aufgabe der Rechtsdogmatik darin sieht „im Vagheitsbereich des positiven Rechts vernünftige Entscheidungsvorschläge zu erarbeiten“[7].

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Ganz unabhängig davon, ob man die gesetzliche Regelung für gelungen hält oder nicht, ist derjenige Rechtswissenschaftler, der sich als Rechtsdogmatiker versteht und seine Arbeit nicht ausschließlich auf die Rechtsdogmatik de lege ferenda konzentrieren will,[8] also jetzt gefordert, Anwendungsprobleme des Gesetzes aufzuspüren und sie Lösungen zuzuführen, die möglichst auf plausiblen und mit dem Gesetz vereinbaren Prämissen beruhen und zueinander nicht im Widerspruch stehen.

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