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1. Von der Vergeltung zur Prävention

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Fragt man nach den Ursachen der Entwicklung des Strafprozesses weg vom Konfrontativen hin zum Konsensualen spricht dabei zunächst manches für die Annahme, dass der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgte Paradigmenwechsel in der Strafzwecklehre mit dem Siegeszug der präventiven Theorien nicht ohne Rückwirkungen auf die Art und Weise der Durchführung von Strafverfahren geblieben ist.[22]

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Unter dem Regime der zuvor herrschenden Vergeltungstheorien lag es nahe, das Strafverfahren als nicht-kommunikativen, nicht-konstruktiven, nicht auf Konsens ausgerichteten Vorgang zu begreifen. Schließlich ist die Perspektive der Vergeltungstheorie rückwärtsgewandt. Es geht nicht um zukünftige Entwicklungen, um Wirkungen der Verurteilung auf den Täter oder die Gesellschaft, sondern primär um das Ideal der Gerechtigkeit, um dessentwillen der in der Vergangenheit geschehene, individuell zurechenbare Rechtsbruch eine Übelszufügung zu Lasten des Zurechnungssubjektes nach sich ziehen muss. Aus diesem Verständnis heraus ist es folgerichtig, Wahrheitsfindung und strikte Grundsatztreue einschließlich der Wahrung der Formen, stets mit dem Ziel des möglichst gerechten Urteils, möglichst ohne Abstriche zu verwirklichen.

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Durch die Präventivtheorien wird die aufklärerische Sicht von der Notwendigkeit der Strafe selbst nach vollständiger Auflösung des Gemeinwesens nicht oder jedenfalls nicht mehr in völliger Konsequenz durchgehalten. Dafür rücken – je nach Spielart der jeweils vertretenen Lehre – Gesichtspunkte wie das Signal, das von Führung und Ergebnis des Strafverfahrens für die Gesellschaft ausgeht, die Einsicht des Täters in das Unrecht seiner Tat, sein „Nachtatverhalten“ und allgemein die Frage der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Bestrafung, die nur relativ zu bestimmten damit verfolgten Zwecken bestimmt werden kann, in den Vordergrund. Das dürfte auch für die Theorie der positiven Generalprävention gelten: Wenn die Straftat ein Skandalon darstellt, auf das zur Beruhigung oder Einübung in Normtreue reagiert werden muss, dann ermöglicht es zumindest ein justiz-alltägliches Verständnis dieser Strafzwecklehre, die Art und Weise der staatlichen Reaktion in Relation zu der konkret empfundenen Befindlichkeit der öffentlichen Meinung, aber auch der Verfahrensbeteiligten zu setzen. Zugespitzt: Straftheorien, in denen Gerechtigkeit ganz oder teilweise unter den Vorbehalt der Zweckmäßigkeit gestellt wird, begünstigen ein Strafverfahren, in dem Wahrheitsfindung auch unter Opportunitätsgesichtspunkten gesehen wird.[23] Dass diese Entwicklung längst nicht abgeschlossen ist, zeigt beispielsweise die im Jahr 2009 eingeführte Vorschrift § 46b StGB[24], nach der nicht nur Aufklärungs-, sondern auch Präventionshilfe strafmildernd berücksichtigt werden kann – und das nach der ursprünglichen Fassung dieser Vorschrift selbst dann, wenn sie im Zusammenhang mit ganz anderen als der aktuell verfolgten (vermeintlichen) Tat geleistet wird.

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