Читать книгу Got Me? Hardcore-Punk als Lebensentwurf - Dolf Hermannstädter - Страница 22
ОглавлениеTrust #12 – Mai 1988
Woran liegt es, dass ich den Eindruck habe, die Szene würde immer unpolitischer oder täusche ich mich? In der letzten Zeit häufen sich Bands, die über persönliche Gedanken & Gefühle singen, oder aber einfach an die Basis zurück, über Saufen, Drogen und eben Spaß gröhlen. Viele Leute reden nur noch über Musik oder die nächste Party, während vor einiger Zeit noch ganz andere Diskussionsthemen bestimmend waren. Fraglich ist, ob die Szene überhaupt mal politischer war, oder ob da viele Leute einfach einem Trend hinterher sind. Anders ausgedrückt, die Szene ist genauso politisch wie vorher, nur ist es nicht so leicht zu erkennen. Genaugenommen ist es ja schon einiges an Politik was die Szene so schafft, auch wenn es nicht so stark rauskommt. Es ist eben die Politik des Beispieles. Wenn sich jemand darüber beschwert, dass Tiere getötet werden, kann er dadurch ein, in geringen Maßen, effektives Beispiel setzen und aufhören Tierhäute zu tragen und Fleisch zu essen. Wenn sich dagegen jemand beschwert wie dumm die Politiker sind, reicht es nicht, dass er sie nicht mehr wählt. In beiden Fällen ist zwar das Hauptproblem noch da, aber im ersteren Fall ist es einfach befriedigender für das Individium. Auch ist es wohl so, dass viele Leute nach langer politischer Arbeit und in endlosen Diskussionen erkannt haben, dass die Ziele gut und erstrebenswert sind, aber einfach nicht auf diese Art und Weise durchzuführen sind. Was natürlich in keinem Fall heißt, dass diese Personen die ganzen ideellen Werte aufgegeben haben, sondern vielleicht nur realistischer geworden sind und erkannt haben, dass von unten und bei sich selbst angefangen werden muß. Ja, realistisch, gutes Wort, ich hatte das ›Vergnügen‹ wieder mal die deprimierenden Realitäten voll vor Augen geführt zu bekommen. Zehn Wochen Fabrikarbeit. Wahnsinn, was es für Menschen gibt, lebende Zombies, die ohne Stechuhr und Acht-Stunden-Tag überhaupt nicht lebensfähig sind (damit meine ich jetzt gar nicht die Lohnabhängigkeit). Jeden Morgen dasselbe, das erste Bier um halb sieben, Bildzeitung lesen, arbeiten, Brotzeit mit dem nächsten Halben und heißen Würstchen, weiterschaffen, ärgern, mehr Bier, Mittag noch mehr zechen, wieder knechten, trinken und nach Hause gehen. Zwischen und zu alledem immer eine Zigarette und laufend blöd daherreden. Den Sinn des Lebens auf immer dieselben Phrasen reduziert, möglichst dem andern eins auswischen und besser dastehen, nie wirklich sagen was man will (wenn noch ein Wille da ist), aus Angst, der ›Kollege‹ könnte es dem Treppchen höher erzählen und man bekommt Ärger.
Diese Leute sind in meinen Augen das echte Proletariat, die Substanz, die Masse der Gesellschaft. Aus der Traum vom politisch engagierten Arbeiter, der mit seinen Kollegen und hochgekrempelten Ärmeln gegen die kapitalistischen Ausbeuter vorgeht. Komm mir jetzt keiner, dass die nur durch dieses ›System‹ so geworden sind, und dass ihnen gesagt gehört wo’s lang geht. Ich kenne Leute in meinem Alter, die auf dem Wege sind und die gleichen Voraussetzungen hatten und wenn man denen was sagt, nützt das meist auch nichts. Man hat schon viel erreicht wenn man’s schafft, dass es dem einen oder anderen stinkt, wenn er erkennt, sein Leben lang nur für Geld geknechtet zu haben. Mit den meisten ist es eh nicht möglich ›vernünftig‹ zu reden, das ist schon was anderes als in der Szene-Kneipe mit Gleichgesinnten mal was zu schnacken. Revolution des Proletariats, nee meine Freunde, geht mal an die Substanz der Bevölkerung und ihr werdet erkennen, dass es noch viel zu tun gibt. Glücklicherweise(?) waren die Erfahrungen nicht neu für mich, mir wurde einfach, wie gesagt, die Realität wiedermal etwas aufgefrischt (ich glaube aber ich wäre ganz schön vor den Kopf getreten, hätte ich das so zum ersten Mal gesehen). Es ist einfach nicht so, dass wir auf der einen Seite sind und unsere Feinde auf der anderen, dazwischen ist noch ‘ne ganze Menge Scheiße (ist das jetzt unmenschlich?) und was mit der gemacht werden soll … Und schwupp, während noch gegrübelt wird wie das neue Entsorgungsproblem (das sollte man aber nicht sagen) gelöst werden kann, schmeiß ich auch schon zwei neue Wörter rein, die sehr viel erklären – REAKTION & KONSEQUENZ. Wie anders, werde ich ein einfaches Beispiel anführen. Nehmen wir mal an, X geht gegen Y, gewalttätig oder nicht, vor, dann muß X als Konsequenz die Reaktion von Y in Kauf nehmen, die er (X) einmal, aus eigenem Interesse oder Überzeugung, mehr oder weniger provoziert hat. Auf der anderen Seite darf Y sich nicht beschweren, wenn er nach einer Provokation gegen X auf einmal die Konsequenz der Reaktion von ihm (X) tragen muß. Ob nun X oder Y ›politisch‹ im recht oder unrecht, also gut oder böse, sind, ist im Moment des Geschehens nicht maßgeblich (was nicht heißt, dass es unwichtig ist, und ich weiß auch auf wessen Seite ich stehe). Aber so gesehen verhält sich X genau wie Y, daraus folgt X=Y, mathematisch richtig (oder?) und in jedem Fall logisch. Jetzt will ich noch was zu einem ganz anderen Thema sagen – MUSIK. Es scheint ja, dass ein, auch in diesem Heft, viel diskutierter Trend am Verschwinden ist, ich will das Wort garnicht schreiben, ihr wisst schon was ich meine. Das war vorauszusehen und ist auch gut so. Jetzt zeigt sich eine neue Entwicklung an, wobei ich nicht das 60’s-oder was auch immer-Revival meine, mit dem wirds ähnlich gehn wie mit einigen Trends davor. Die neue Entwicklung ist, dass die Leute in der Szene musikalisch aufgeschlossener werden, ohne dabei ihre Wurzeln abzukappen. Außerdem haben zur Zeit viele ›Independent-Szene‹-Leute Interesse an der Musik die wir hören und hörten, ob das ein Trend ist bleibt abzuwarten. Auf jeden Fall scheint sich mal wieder in der Punk/HC-Szene die Musik weiter zu entwickeln, was gut und wichtig ist, da es sonst auf Dauer langweilt. Man wird sehen … Wenn ihr dieses Heft in der Hand habt bin ich auch schon wieder unterwegs in Europa, aber wohl hauptsächlich in Deutschland, ab ca. Juli dann wieder in Augsburg. Was soll ich machen, ich find live und draußen einfach geil. Dort wo ich bin, bin ich.