Читать книгу Got Me? Hardcore-Punk als Lebensentwurf - Dolf Hermannstädter - Страница 36
ОглавлениеTrust #21 – Januar 1990
Wo sind all die Leute? Aber eins nach dem anderen. Ich hab mir vor mehr als fünf Jahren ein Adressbuch angelegt, in das schön brav die Adressen von Freunden, Briefbekanntschaften und Aktivisten in der Szene usw. eingetragen wurden. Fünf Jahre sind eine lange Zeit und mein grünes Büchlein hat viel durchmachen müssen, es war einer der wenigen Gegenstände, die täglich benutzt werden. Kein Wunder also, dass es langsam aber sicher etwas unübersichtlich wurde, da sich bis Ende ‘89 beinahe tausendzweihundert Adressen angesammelt hatten. Natürlich grauste mir schon vor dem Gedanken, das Ding in mein neues Büchlein umzuschreiben, ist ja ‘ne Scheißarbeit. Nun, das Ganze hat mich wesentlich weniger Zeit gekostet als erwartet. Denn in meinem neuen Büchlein sind es nicht einmal zweihundert Adressen geworden, da ich radikal siebte und nur noch die Adressen von Leuten übernahm, die immernoch in regelmäßigem Kontakt stehen oder aber ihre Aktivität nicht aufgegeben haben oder einfach Freunde sind. Jetzt nochmal zu meiner Anfangsfrage zurück, was ist mit all den Leuten geschehen? Ich weiß in 98% der Fälle, dass ich den Kontakt nicht einschlafen ließ. Nun ist es ja nichts neues und man ist es gewöhnt, aber es an einem so krassen Beispiel hautnah mitzubekommen? Was auch immer, Hauptsache es sind wenigstens noch ein paar übrig geblieben. Das beantwortet zwar die Eingangsfage auch nicht, aber was solls.
Sehr gut, nicht mal zehn Weihnachtskarten gingen im Dezember hier ein, ich kann nur sagen »Fuck Christmas«. Auf der anderen Seite waren die drei Weihnachtsfeiertage nicht schlecht, an Hl.(?) Abend hat exakt zweimal das Telefon geklingelt, ein völlig neues Arbeitsgefühl. Am 1.Weihnachtsfeiertag bin ich dann gleich um sechs Uhr aufgestanden und hab losgelegt. Bilanz der drei Tage: Saugut vorangekommen bzw. aufgeholt, weil alle anderen beim Feiern (so wie ihr in Bremen, hallo Tribal und Thorny) oder eben Weihnachten zelebriert haben, obwohl ich mich frag, was das soll. Es gibt da einen Slogan aus Punkrockzeiten, der heißt schlicht und einfach »Fuck Religion«, das gilt für Weihnachten genauso wie die ganze Krishna-Scheiße (oder noch besser: Christian Punks). Verpissen soll sich der Kram, was gefragt ist, ist die Realität.
Wo wir gleich beim nächsten Stichwort wären, Realität. Das ist alles was zählt. Subjektive Einschätzungen sind gut und lustig, aber sobald die störend werden, hab ich keinen Bock mehr drauf. Hab echt bessere Dinge zu tun als mich mit Kinderkacke auseinanderzusetzen, (ich weiß, das hat jetzt wieder jeder verstanden).
Apropos Kinderkacke, da kommt mir diese ganze Bootleg-Geschichte in den Sinn. Voll zum Kotzen, wie die kleinen Kinder, die ihre Klebebilder sammeln und dann tauschen und sich freuen, wenn sie ihr Album zuerst voll haben. Ganz abgesehen davon ist es materialistisch, unfair und egoistisch, ganz das was wir brauchen. Außerdem stört es die Underground-Infrastruktur (denk mal nach warum …). Deshalb mein Wunsch zu diesem Thema, dass irgendeiner auf die schlaue Idee kommt, all die Bootlegs, so wie sie existieren, nachpresst und zwar so viele wie vom ›Markt‹ gebraucht werden. Damit sich die ganzen gierigen Wixer, die Scheiben bunkern, und die Bootlegger, die Kohle machen wollten, in den Arsch beißen. Also hopp, mach mal jemand.
Im übrigen bin ich die nächsten Monate wieder zu Hause. Das heißt, dass in Zukunft wieder alles (hoffentlich) so läuft, wie es laufen soll. Bitte hier auch gleich Unregelmäßigkeiten während meiner Abwesenheit zu verzeihen. Davon abgesehen sind wir keine Zeitschrift, die irgendjemanden ernähren muß. Deshalb machen wir eh was wir wollen.
Ok, das soll genügen. ‘89 war nicht schlecht, ‘90 soll noch besser werden. (Ich könnte natürlich auch schreiben, dass ‘89 schlecht war und ‘90 noch schlechter wird – kommt eben immer drauf an, was man meint, gelle.) Dann stellt sich aber die neue Frage, was macht man wenn es ganz gut (oder ganz schlecht) ist. Fragen über Fragen, ich glaub ich will jetzt als nächstes Astronaut werden.