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Der Körper als Geist

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In Wirklichkeit waren unser Körper und unser Geist nie mehr in Einklang miteinander als zu der Zeit, da wir noch Primitive waren; sie waren nie mehr in Harmonie mit unserer unmittelbaren Erfahrung, nie mehr in Berührung mit dem Heiligen. Wir können eine enorme Menge an persönlicher Kraft zurückgewinnen, wenn wir unsere Rationalität dazu überreden können, mit mehr Respekt auf die Information unseres primitiven Gehirns zu hören, die dieses uns durch unseren Körper zukommen lässt. Ihm wohnt tatsächlich Genie inne.

Der Film Der letzte der Mohikaner stellt die Macht der Primitivität sehr eindringlich dar. In der ersten Szene, die ich hier nach dem Drehbuch nacherzähle, hören wir den Wald, den Ruf einiger Vögel in der Ferne und ein Rascheln, das näher kommt und lauter wird. Plötzlich schnellt ein mit einem Mokassin bekleideter Fuß durch das Bild. Es ist ein Indianer, der schnell läuft, und wir hören seinen Atem schwer, aber regelmäßig, gehen. Es ist ein junger Mann, tätowiert und mit kahl geschorenem Kopf. Dies ist Uncas, der letzte der Mohikaner. In einer Hand trägt er ein Steinschlossgewehr. Sein Baumwollhemd ist in der Taille über seinem Lendenschurz von einem Wampumgürtel mit kleinen weißen Perlen zusammengerafft. Ein Tomahawk mit langem Stiel steckt in seinem Gürtel.

Schnitt, und wir sehen einen anderen Teil des Waldes, wo ein Mann mit einer schweren Kriegskeule in der Hand durch das Unterholz läuft. Er hat eine massivere Statur und ist älter. Über seiner linken Augenbraue sehen wir eine eintätowierte Schlange. Dies ist Chingachgook, Uncas’ Patenonkel. Während er läuft, knickt er keine Halme um oder bricht Zweige ab; er macht keinerlei Geräusche, während er parallel zu Uncas durch den Wald läuft. Sie laufen durch die Kathedrale des Waldes mit den hoch aufragenden Bäumen, über Bäche, Felsen, umgestürzte Bäume, hinab in eine Schlucht.

Erneuter Schnitt zu einem anderen Teil des Waldes, wo ein Mann mit langem schwarzem Haar pfeilschnell durch den Wald schießt. In seiner Rechten trägt er ein Gewehr mit langem Lauf. Dies ist Nathaniel Poe, der weiße Mann, den die Irokesen Hawkeye genannt haben. Er rennt durch das Unterholz und hält plötzlich inne. In etwa 200 Meter Entfernung sehen wir die Farben eines Tiers durch die dichten Blätter schimmern. Hawkeye hebt das Gewehr an die Schulter. Es gibt einen lauten Klick, als Hawkeye das Gewehrschloss mit dem Stück Feuerstein spannt. Bei diesem Geräusch erstarren Uncas und Chingachgook mit einem Mal in ihrem Lauf. Hawkeye schießt und beim Geräusch des Schusses springt der große Hirsch nach vorn – genau in die vorauskalkulierte Schussbahn, wo er von dem Projektil niedergestreckt wird. Bevor Chingachgook das Tier ausweidet, kniet er nieder und betet: Es tut uns leid, dass wir dich töten mussten, Bruder. Vergib uns. Ich ehre deinen Mut und deine Geschwindigkeit und deine Kraft.2

Das Ganze ist ein Bild von Männern, die mit ihrer Umgebung und miteinander eins sind sowie mit ihrem Ziel, die lebensnotwendige Nahrung für ihr Volk zu beschaffen. Es ist, als wären die Männer, die Landschaft und das Tier Teile eines Körpers, der sich in einem fließenden Ablauf vorwärtsbewegt durch die Zeit, die immer Hier und Jetzt ist. Das primitive Gehirn ist im Wesentlichen außengelenkt. Es lebt in der äußeren Welt, fokussiert den Geist auf den gegenwärtigen Augenblick und benutzt den Körper, um die Welt zu lesen und darauf zu reagieren. Tiere sind vor allem, wenn nicht sogar ausschließlich, außengelenkt. Sie reagieren augenblicklich auf visuelle, auditive und taktile Reize aus der Umgebung. In der Wildnis hält das primitive Gehirn die Aufmerksamkeit fest auf das gerichtet, was da draußen geschieht.


Der Film illustriert ebenfalls den kreativen, weitgehend innengelenkten Geist, den das höhere Gehirn hervorbringt. Er manifestiert sich in den Gerätschaften, die die Männer bei sich tragen, in ihrer Kleidung, in der Selbstdarstellung durch ihre Tätowierungen, die geschorenen Köpfe, der Perlenstickerei sowie in dem Gebet, das Chingachgook neben dem niedergestreckten Hirsch spricht. Die Einzigartigkeit der Menschen zeigt sich darin, dass sie, anders als die Tiere, gleichzeitig sowohl innengelenkt als auch außengelenkt sein können. Die Sinnesinformationen, die vom primitiven Gehirn vermittels des Körpers gesammelt werden, werden in einen anderen Teil des Gehirns weitergeleitet, wo sie in die Sprache der Emotionen übertragen werden. Dies ist der Teil von uns, der das, was im Augenblick geschieht, sieht, riecht, hört und registriert und dann bestimmt, welche Gefühle wir mit dem, was wir wahrnehmen, verbinden. Die sensorischen und emotionalen Daten passieren dann das höhere Gehirn, wo sie mit früheren Informationen, Erinnerungen und angesammeltem Wissen abgeglichen werden. Sinneswahrnehmung, Gefühl und Verstand stehen nicht im Widerstreit; sie sind aufeinander eingestimmt und erzeugen eine Resonanz, wie es sie zwischen den drei Kriegern gab, und sie bringen so das der Situation angemessene Verhalten hervor.

Dies ist der Weg des Kriegers. Es ist auch der Weg der großen Führer, die in der Lage sind, Kohärenz in ihre innere und äußere Erfahrung zu bringen. Sie achten auf die äußere Situation, sie lesen die Äußerungen und Absichten der Menschen und sie fühlen die Atmosphäre im Raum. Sie spüren die emotionale Resonanz oder Dissonanz, die vorhanden ist. Sie interpretieren ihre eigene gefühlsmäßige Reaktion zutreffend und wissen damit umzugehen. Wenn alles wie von einer Linse gebündelt zusammenkommt, dann formulieren sie eine Antwort, welche hilft, die vorliegende Situation in einem größeren Kontext zu begreifen. Ein guter Lehrer, Menschenführer oder ein gutes Elternteil, sie alle zeichnen sich durch dieselbe integrierte Daseinsweise aus. Sie ist es, die einen Makler an der Börse erfolgreich macht oder eine Ehe gelingen lässt.

Angesichts der Art und Weise, wie der moderne Mensch mit dieser Erde umgeht, kann man wohl behaupten, dass er nicht so integriert und deshalb nicht so lebendig ist wie unsere Vorfahren. Wir neigen zu einer sehr viel stärkeren Innenlenkung. Wir sind sehr viel weniger auf die Erde eingestimmt und haben oft den Kontakt zu unserer unmittelbaren körperlichen Erfahrung verloren. Das Ergebnis ist, dass wir weniger fähig sind, die Sprache unseres Körpers in Aktion zu übertragen. Man könnte auch behaupten, dass unsere Vorfahren bessere Gehirne hatten als wir. Die Wissenschaft hat herausgefunden, dass körperliche Anstrengung in der Tat einen neurologischen Zustand erzeugt, der „angereicherte Umgebung“3 genannt wird. Die Wildnis zwang unsere Vorfahren dazu, körperlich aktiver zu sein, und das Gehirn reagiert auf körperliche Anstrengung durch die Bildung einer größeren Anzahl von Nervenzellen, was zu einem größeren Gehirn führt. Das Gehirn benutzt diese neuen Zellen, um den Cortex auszubauen, die Synapsen zu stärken und mehr Verzweigungen zu bilden, sodass wir unser Potenzial verwirklichen können. In der Wildnis war ein entwickeltes Gehirn notwendig. Man braucht schon eine Menge Gehirnstrukturen, um die kinetische Intelligenz und die mentale Zähigkeit entwickeln zu können, mit denen man einen Hirsch zur Strecke bringen kann.

Es sieht ganz so aus, als wollten wir moderne Menschen zu bestimmten Zeiten gar nicht in unserem Körper sein. Wir sind sehr viel stärker innengelenkt und neigen dazu, uns mehr auf unseren Kopf als auf unser Herz zu verlassen, mehr auf Logik und Rationalität als auf unsere Intuition. Wir versuchen eher, die Dinge zu verstehen, als uns mithilfe unserer Gefühle zu orientieren. Wir führen ein hoch strukturiertes Leben und ziehen Vorhersagbarkeit der Spontaneität vor. Das kann zur Folge haben, dass ein Mensch den Kontakt zur konkreten Realität verliert und nicht mehr geerdet ist. Wir neigen dazu, unser Leben weniger im Augenblick zu leben, weniger in unserer direkten Erfahrung, und dafür immer mehr in unserem Denken, sodass wir schließlich nicht mehr fähig sind, die vom Körper erzeugten Gefühlszustände zu entschlüsseln. Das kann uns unentschlossen, pedantisch, eindimensional und sogar verrückt machen. Manchmal fühlen wir uns deshalb der Außenwelt entfremdet, ohne ein Gefühl für das zu haben, was wir sind und warum wir hier sind.

Die Tatsache, dass das Menschenwesen über die Wildnis hinausgewachsen ist, bedeutet nicht, dass wir das Vermögen, ein stärker integriertes Leben zu führen, verloren haben. Ein Spaziergang in der Natur ist genug, um das starke Herz und den starken Geist unserer Vorfahren wieder zu erwecken – wenn wir mit Gewahrsein gehen. Alles, was dazu nötig ist, ist, unseren Geist zu beruhigen, unserem Atem zu folgen, den Boden unter unseren Füßen und den Wind auf unserer Haut zu spüren, den Vögeln, dem Rascheln der Blätter und dem Glucksen des Wassers zu lauschen und die Insekten zu beobachten, während wir mit unseren Fingerspitzen durch das hohe Gras fahren. An einem bestimmten Punkt fangen Innen und Außen an, miteinander zu verschmelzen. Körper und Geist beginnen sich zu umschlingen wie Liebende. Unsere Schwierigkeiten beginnen sich aufzulösen und zur natürlichen Ordnung der Dinge zu werden. Unser Geist lässt ab von dem Verlangen, jedes spezifische Problem unbedingt verstehen zu wollen, und beginnt sich in ein tieferes Verständnis des Lebens einzufühlen. Dies ist der Prozess, durch den bloße Rezeptivität zu Kreativität wird, durch den Hören zu Zuhören wird, durch den Sinneswahrnehmung zu Sensibilität und Verständnis zu Mitgefühl wird – und durch den das alles zusammen zu Liebe wird. Vielleicht spüren wir sogar, wie die Spontaneität unseres wilden Herzens wiedererwacht und wir bereit sind, das Risiko einzugehen, es mit etwas Neuem zu versuchen, das unser Leben ändern könnte.

Die Mohikaner, Hopi, Sioux, Huichol und andere Indianerstämme – wenn nicht gar alle Eingeborenenkulturen – haben schon lange begriffen, dass unsere primitive Natur in Harmonie mit unserem höheren Geist arbeitet, um eine Intelligenz zu erzeugen, die sich, zu bestimmten Zeiten, mystisch anfühlt. Sie entspringt einer inneren Größe, welche die natürliche Größe, die uns umgibt, durchdringt. Auch Albert Einstein verstand dies. „Das schönste und tiefste Gefühl, das wir erfahren können“, schrieb er, „ist die Empfindung des Mystischen. Es ist die Quelle aller wahren Wissenschaft.“ Es scheint klar zu sein, dass der primitive Geist die Grundlage dieser Erfahrung darstellt, die Neurowissenschaft beginnt heute, Beweise dafür zu finden. „Primitive Gehirnstrukturen“, sagte der führende Kognitionswissenschaftler des MIT, „könnten die Maschine sein, die selbst unsere fortgeschrittenen intelligenten Lernfähigkeiten auf höchster Ebene antreiben.“4

Das stressfreie Gehirn

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