Читать книгу Lioba wechselt die Saite - Doro May - Страница 12

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und eine peinliche Begegnung

Die folgende Woche hält ein Konzert bereit.

Der bärtige Cellist, ein untersetzter Mann mit vollem, grauen Haar und braunen Augen, ist das Ziel von Liobas Fantasie. Die Tagträumerin vergisst, dass sie heute mit Angela, einer Ehepaarhälfte aus vergangenen Zeiten, im Konzertsaal sitzt und verliert sich in der bohrenden siebten Sinfonie Bruckners. Ihr Begehren spinnt einen gemeinsamen Nachhauseweg mit dem Musiker in ein Ambiente, das nichts mit ihrer zusammengewürfelten Wohnung in dieser wenig ansehnlichen Gegend mit ihrem dichten Straßenverkehr, dem Abgasgestank und der Lautstärke gemein hat. Jugendstil sieht sie vor sich, viel Weiß, den Garten voller Statuen zwischen Büschen, Rhododendren, Efeu und Blumen. In Bruckners sehnsuchtsvoller Hochstimmung würden sie sich zu ihrem abgeschiedenen Ort begeben, wo es zum nächsten logischen Schritt kommt, den sich Lioba genussvoll ausmalt. Am nächsten Tag würden sie einen Ausflug zu der kleinen Kapelle am Schneeberg machen. Nur ihn wird sie einweihen, wo das Kirchlein steht, das ihr vor mehr als zwanzig Jahren ein kauziger Eremit gezeigt hat. Der Einsiedler, der längst gestorben ist, bewohnte eine winzige Klause von zwei Quadratmetern in unmittelbarer Nähe der Kapelle.

Das Gelände ist ein Ort, den Lioba immer mal wieder ansteuert, wenn ihr danach ist, um sich, wenn sie die winzige Kapelle wieder verlassen hat, auf die Bank zu setzen, den verschwiegenen Fleck auf sich wirken zu lassen. Ein kleiner persönlicher Kraftplatz, im Grunde wenig spektakulär. Aber für sie und ihren Cellisten wäre er unbedingt passend...

Am Samstag holt Lioba wie jeden Morgen die Zeitung am Kiosk gegenüber und wie jeden zweiten Morgen zwei Brötchen beim Bäcker um die Ecke. Wie immer isst sie nur eins, steckt das andere in eine kleine Plastiktüte und legt es in den Gefrierschrank. Es wäre ihr nicht eingefallen, im Geschäft nur ein einzelnes Brötchen zu verlangen. Sie streicht Butter und Marmelade, mal mit, mal ohne Quark drauf. Manchmal nimmt sie Honig oder eine Scheibe Käse. Nie Wurst oder Schinken. Eine Zeitung abonnieren will sie nicht, weil sonst der Gang zum Kiosk wegfallen würde.

Heute Morgen steht in der Zeitung: Mann verprügelte Frau in Hochzeitsnacht. Frau nahm mit Krummschwert tödliche Rache."

Was so alles geschieht, denkt Lioba und liest den ganzen Artikel, der sachlich schildert, dass der nicht mehr ganz junge Bräutigam, Liebhaber mittelalterlicher Waffen, betrunken war und aus Eifersucht seine zehn Jahre jüngere Braut geschlagen hat. Diese habe daraufhin mit besagtem Krummschwert den frisch Angetrauten erstochen.

Kurze Zeit später schlendert Lioba über den von Valentina angekündigten Handwerkermarkt, mischt sich zwischen die sich unterhaltenden Gruppen, hebt gelegentlich den Kopf in Richtung eines Sprechers, als gehöre sie dazu. Sie hat eine Strickjacke übergezogen, weil es noch kühl ist. Die mittelblonden Haare sind zu einem akzeptablen Pferdeschwanz zusammengefasst.

Marias blaue Linie steht auf den Kärtchen vor blauer Keramik, die einfach hinreißend aussieht. Lioba befingert die runden Tassen. Handschmeichlerisch.

Mitten in ihre Gedanken hinein quatscht sie jemand mit „Ja aber Hallooo“ von der Seite an. Sie zuckt zusammen.

„Da sehn wir uns ja doch noch mal", dröhnt es.

Diese Trompetenstimme. Der Mann räuspert sich laut. Die fleischig rosige Faust hält er vor den Mund. „Darf ich dir Andrea vorstellen?"

Wie sich sein Gesicht verzieht, wenn er redet, mit einer eigenartigen Spannung um Nase und Äuglein. Schweinsäuglein. Eine kleine, brünette Frau streckt eine üppig beringte Hand aus. Lioba greift automatisch zu. Allmählich dämmert ihr, dass Karl-Georg vor ihr steht. Das Internet hat ihm offenbar eine passende Begleitung spendiert. Einen Arm hat er um Andreas Taille gelegt, die wurstigen Finger in voller Größe auf dem Ansatz ihres ausladenden Hinterteils ausgebreitet. Die vollschlanke, tief gebräunte Frau mit einer riesigen Sonnenbrille, die auf dem schwarzen Haar drapiert ist, trägt ein eng anliegendes Kleid unter hellem Angora-Strick, die leichten Sandalen mit ihren sehr dünnen Riemchen sprechen eine andere Sprache als die noch recht kühle Witterung. Lioba blickt sich um, als erwarte sie jemanden hinter sich, der ihr aus der unangenehmen Situation heraushelfen könnte.

„Immer noch verliebt in die Musik der Klassiker, was?", dröhnt der Koloss.

Lioba lächelt und findet sich dämlich. Nickt ein paar Mal.

„Suchst du immer noch übers Internet nach..."

„Nein!", fährt Lioba dazwischen. Für ihren Geschmack etwas zu schrill.

„Hat sich also auch für dich was Passendes gefunden?"

„Jaha", lügt sie gedehnt und ahnt, dass es keiner besonderen Sensibilität bedarf, um die Wahrheit in ihren Augen zu lesen.

Eine Pause entsteht. Deutlich zu lang. Peinlich.

„Einen schönen Tag noch", brüllt Karl-Georg, der anscheinend auch nicht weiß, was er noch sagen soll. Gott sei Dank geht er weiter.

Lioba verspürt Lust, ihn in seinen unmännlich fetten Hintern zu treten und grinst ihre Schuhspitzen an. Aus den Augenwinkeln beobachtet sie, welche Richtung er mit seinem possierlichen Anhängsel einschlägt. Sie muss daran denken, wie bescheuert sie diese laute Art fand, als sie zu dem einzigen Treffen gegangen war. Dass Karl-Georg ziemlich korpulent ist, hat sie nicht gestört. Ihr Cellist ist auch nicht gerade schlank. Aber der strahlt diese Sensibilität aus, auf die Lioba steht.

In dem guten Gefühl, mit dem Geschäft der Internetverpartnerung ein für allemal abgeschlossen zu haben, schlendert sie weiter.

Angelegentlich betrachtet sie einen frisch geschmiedeten riesigen Schlüssel. An dem Stand ist es unglaublich heiß. Es riecht nach Feuer und Arbeit. Der Schmied und sein Geselle arbeiten im deutschen Feinripp. Lioba betrachtet die kräftige Gestalt des Meisters, sein dichtes dunkles Haar mit ersten grauen Fäden, das Muskelspiel, wenn er den Hammer schwingt. Sie folgt jeder seiner Bewegungen, stellt sich vor, dass er ein Schwert schmiedet. Seine zupackenden Hände stecken in derben Handschuhen. Eine Fliege setzt sich auf seine Schulter. Er dreht seinen Kopf zur Seite und pustet sie an. Jetzt holt er aus und schlägt kraftvoll auf ein unbehauenes Stück Eisen.

Als sie die enorme Hitze des Ofens spürt, zieht sie ihre Jacke aus, verschränkt die Arme, fährt mit den Daumen langsam über ihre Haut. Ein sanfter Schauer überkommt sie, die Härchen auf ihren Unterarmen stehen senkrecht. Ihr Blick ist weiter auf den Schmied geheftet, der sich umdreht, um das fertige Stück, einen Wandhaken, ins Wasser zu tauchen. Seine schlabberige Arbeitshose lässt einen festen, nicht zu kleinen Hintern erkennen. Als der Mann sich mit dem fertigen Teil in der Hand wieder den Zuschauern zuwendet und zufällig Lioba anblickt, sieht sie rasch weg und geht abrupt weiter.

Weil sie Valentina morgen etwas mitbringen möchte, geht sie in die Bücherstube, wo sie Stammkundin ist. Es gibt eine Kaffeemaschine und seit Jahren dieselbe nette Buchhändlerin.

„Möchten Sie stöbern oder kann ich helfen, Frau Schulte?"

„Ich suche etwas für meine Freundin - also ungefähr für mein Alter."

„Was liest denn ihre Freundin so? Belletristik? Krimis? Was Erotisches?"

Kurze Pause.

„Krimis wären nicht verkehrt.“

„Krimis sind nie verkehrt.“ Die Buchhändlerin lächelt.

„Stimmt. Aber", Lioba blickt sich suchend um, „mir fällt gerade ein, dass sie sich fürs Mittelalter interessiert."

„Mittelalter ist zweifellos gefragt. Boomt schon seit einigen Jahren." Die Frau lächelt wieder. „Die Leute sind verrückt nach Burgen, Burgfesten, Ritterliebchen und Schwerterklängen."

„Gibt es auch etwas, das in der aktuellen Mittelalterszene spielt? Meine Freundin ist Insider."

„Das sind inzwischen viele. Neulich kam hier einer rein in so einem Umhang und legte sein Schwert neben meine Kasse."

„Reenactment", entfährt es Lioba.

„Wie bitte?"

„Er reanimiert die alte Zeit. Lässt zum Beispiel Kelten und Berserker neu aufleben."

„Sie sind wohl firm auf dem Gebiet der Moderitter?"

„Von wegen. Ich bete nur meine Freundin und meinen großen Freund Google nach."

Sie lachen.

Dann sagt die Buchhändlerin: „Mit Mittelalter mache ich richtig Umsatz." Ihr Blick geht ins Regal. „Hier ist eine ganz neu erschienene Untersuchung." Sie greift ein schmales Bändchen und reicht es Lioba. „Schauen Sie einfach mal hinein - vielleicht ist das ja was."

Lioba hält das Buch in Händen. Auf dem Cover ist eine Burg abgebildet, über der Rückzug ins Mittelalter und als Untertitel Über die wachsende mittelalterliche Subkultur" steht. Sie liest die Rückseite.

Seit Jahren ist zu beobachten, dass sich viele Menschen in eine Subkultur zurückziehen, die nicht auf eine bestimmte Altersgruppe beschränkt zu sein scheint.

Theo Dyramo, der bekannte, leider kürzlich verstorbene Soziologe, zeigt auf, wie mittelalterliche Spectacula die Sehnsucht nach sozialen Gruppen wie den Stammesbünden befriedigen. Diese bieten eine Alternative zu der hoch technisierten Welt mit ihren unkontrollierbaren Finanzmärkten. Die zunehmende Ohnmacht des Bürgers treibt ihn dazu, nach unverrückbaren Säulen zu suchen. Das Mittelalter liefert sie.

Mein lieber Scholli, davon war bei Valentina neulich nicht die Rede, denkt Lioba, lässt sich mit einem Kaffee und dem Buch in der Leseecke nieder und wendet sich dem Vorwort zu.

In Deutschland hat sich eine Subkultur gebildet, die als Antwort auf das gesellschaftliche Schweigen zu den desolaten Zuständen unseres Landes mittelalterliche Verhältnisse zelebriert. Rituale und Gemeinschaftsleben bieten einen Rundum-Ersatz für die zunehmende Vereinzelung des Menschen, für Schnelllebigkeit und Konsum.

Allerdings bietet der Sozialstaat weiterhin das Auffangnetz, wenn man lieber auf Aderlass und Brenneisen verzichten will. Welcher Neuzeitritter möchte in Zusammenhang mit seinem ganz persönlichen Leib und Leben schon gerne daran erinnert werden, dass Chirurgie ursprünglich Gewaltmaßnahme bedeutete?

Lioba muss grinsen, obwohl es sie schaudert. Vor ihrem geistigen Auge spielt sich das Anlegen der Aderpresse nach blutigen Sägearbeiten am lebenden Subjekt ab, ohne Schmerzmittel, ohne Narkose. Auch wandern ihre Gedanken Richtung Hygiene. Ob sie ihre Burg ab und an putzen? Ein imaginärer Gestank modernder Essensreste, billiger Kohlsorten, ungelüfteter Räume und löchriger Feudel streift ihre Geruchsnerven. Davor schieben sich Bilder grandioser offener Feuer, Tafelrituale bis hin zu Saufgelagen und zügellosem Sex. Eine Sehnsucht nach der Ergründung tief verborgener Geheimnisse sorgt für ein wenig Gänsehaut. Lioba, allein in ihren Gedanken, blättert ein bisschen vor sich hin, bis sie an einem Kapitel mit der Überschrift „Sozialkontakte und Wir-Gefühl" hängen bleibt.

Warum diese Gegenwartsflucht in eine Zeit, die als ‚finsteres Mittelalter' in die historischen Annalen eingegangen ist?

Der Szene liegt offenbar ein Bedürfnis nach der Gruppe zugrunde, wie es schon aus Überlebensgründen im Mittelalter üblich war. Mythen und Rituale laden dazu ein, archaische Verhaltensmuster jenseits von Pünktlichkeit und Buckelei neu zu beleben.

Welchen Aufschluss gibt das Neo-Mittelalter über den realen emotionalen Zustand unserer heutigen Gesellschaft?

Meine Güte, Theo, durchfährt es Lioba. Laut sagt sie: „Ich kaufe das Buch. Aber einen Krimi nehme ich außerdem. Falls meine Freundin soziologisiert auf den Rücken fällt, kann sie sich mit einem zünftigen Mord wenigstens wieder aufrichten.“

Lioba wechselt die Saite

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