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Die Burg

Dicke Steinblöcke lugen durch die Bäume, grau wie der Himmel. Geheimnisvoll wachsen sie aus den Felsen heraus, haben etwas Endgültiges. Im Wald keine Bewegung. Nur aus der Ferne das Rauschen des Bachs.

Eine kleine, runde Frau ist unterwegs zur Eyneburg. Sie hebt den Kopf und blickt in eine Baumkrone, genießt die zarten Regentropfen auf ihrem Gesicht und nimmt den Geruch feuchter Erde in sich auf. In diesem verwunschenen Wald kommt sie sich vor wie eine Prinzessin auf der Suche nach dem Glück.

Immer, wenn sie eine Person kennenlernt, die an einem ungewöhnlichen Lebensentwurf strickt, ist ihre Neugier geweckt. Diesmal hat das der magische Satz Da wirst du Augen machen fertig gebracht. Er war das Tüpfelchen auf dem „i“, als sie am Sonntagabend der Freizeitritter Knut ansprach, zu einer Uhrzeit, zu der man das Wochenende eigentlich schon abgehakt hat. Im Hinausgehen aus der Tapasbar in der Elisabethstraße sind sie aneinandergestoßen. Doch anstatt die Lokalität zu verlassen, wie es Lioba, ihre beste Freundin, todsicher gemacht hätte, nahm Valentina mit ihrer Begegnung noch einmal Platz. Sie bestellten ein Glas Wein und ein Bier, und Knut erzählte die allererstaunlichsten Sachen über sein Leben als Kelte, die mittelalterliche Kluft, sein Schwert und seine Burg.

Heute ist Valentina bereit für das Abenteuer, denn sie liebt es, Augen zu machen. Sie schätzt die Zeit ab, etwa halb zwölf, eine gute Samstagvormittagzeit. Den alten Opel Corsa hat sie nach einer holprigen Tour über einen verwurzelten Weg am Waldrand im Matsch abgestellt.

Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie sich außerhalb der närrischen Jahreszeit für eine Verkleidung entschieden, einen Umhang, wie ihn die Ritter trugen, bodenlang, erdfarben, ungefüttert. Diese ungewöhnliche Garderobe trägt sie zu Gefallen ihres neuen Herzensritters aus der Tapasbar, der vorgestern nach der Arbeit ein Paketchen bei ihr ablieferte.

„Samstag komme ich auch zur Burg“, hat sie ihm versichert, als sich dieses Gefühl von Verheißung in ihr breit machte. „Und lieben Dank für das tolle Geschenk. Ja – ich zieh’s an. Versprochen.“

Wie ein Heinzelmann schaut sie von hinten aus, wie sie, klein und rund, die Kapuze auf dem Kopf, über den aufgeweichten Weg quootscht. Sie stellt sich vor, wie romantisch es hier im Sommer sein muss, neben dem Göhlbach zu den kantigen Felsen aufzuschauen, die in die bemoosten Grundmauern der Burg münden. Und wie idyllisch sie auf der großen Wiese mit ihrem Ritter auf einer ganz unmittelalterlichen Karodecke mit Isolierbeschichtung ein Schäferstündchen halten könnte. Schäferstündchen. Sie sinnt dem Wort hinterher und lacht in sich hinein.

Das Burgareal liegt auf einer Anhöhe – genau so, wie es sich für eine richtige Burg mit Wachturm gehört. Jetzt ist sie oben angekommen, ein gesundes Rot auf den runden Wangen. Sie erwartet etwas als Belohnung für ihre Mühe. Ein Meeting, eine kleine Wochenendschlacht. Und natürlich ihren Ritter.

Als sie durch den dick gemauerten Torbogen geht, putzt sie ihr Lächeln deutlicher heraus. Am Rand des Platzes, der mit dicken Wackermännern ausgelegt ist, bleibt sie stehen. Da entdeckt sie Knut zwischen wilden Gesellen. Angestrengt führt er das Schwert und schiebt mit der freien Hand die abgerutschte Brille wieder hoch. Dabei kneift er die Augen zusammen, als würde er geblendet. Als er die runde Heinzelmännin erblickt, strahlt er übers ganze Gesicht, nickt ihr zu und ruft: „Hier geht’s gleich rund, Valentina.“

In dem Moment erscheint eine Person auf der Bildfläche, die alle Blicke auf sich zieht. Auch Valentina starrt auf die Frau in ihrem bodenlangen, dunkelroten Miederkleid mit einem Ausschnitt, dass man erwartet, jeden Moment springe einem der üppige Busen entgegen. Dazu tizianrote Locken und ein Lippenstift, der ins Schwarzrote geht. Eine Nutte, ach nein, Hure muss es heißen, wir sind ja im Mittelalter, durchfährt es Valentina, der das anzügliche Grinsen der Kämpen nicht entgeht. Auch die Zuschauer blicken ausnahmslos auf die aufgedonnerte, nicht mehr ganz junge Lady, die so ungeniert die Arme ins Hüftgold stemmt.

Nur gut, dass Lioba nicht mitgekommen ist, durchzuckt es Valentina. Sie würde sich jetzt mit ihrem typischen Muss-ich-nicht-um-mich-haben abwenden. Valentina wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn, lässt den Arm fallen, als wolle sie den Gedanken an die kritische Freundin auf den Boden werfen.

Als die Wochenendritter in Stellung gehen, martialisch mit ihren erhobenen Schwertern und voller Konzentration, erfasst Valentina die Vorstellung von Gewalt und ihren Folgen. Ein wonniger Angstschauer stellt die feinen Armhärchen in die Senkrechte. Wäre es nicht denkbar, dass die Typen gleich Ernst machen? Ob es Verletzte geben wird? Womöglich winkt dem Sieger diese Wahnsinnsfrau in Dunkelrot...

Etüden

Der Globus war nicht aus der Bahn geflogen. Und die Welt nahm keine Notiz von der Frau, deren Alltag von jetzt auf gleich seinen festen Ablauf verloren hatte. Da kam Lioba die Geige gerade recht. Sie ist ihr ureigenes Instrument, war es lange, bevor sie eine Familie gründete. So kann sie mit ihrer Hilfe an Vergangenes anknüpfen und gleichzeitig ein großes Stück Vergangenheit überspringen und damit das Gedächtnis austricksen, damit die kaputten Nerven verödet werden. Jetzt können neue nachwachsen.

Gerne wäre Lioba Orchesterspielerin geworden. Sie hätte sich gut gemacht auf dem CD-Cover bei den ersten Geigen, das lange Schwarze figurbetont, das Haar hinter den Schultern. Doch bald stand fest: Ihre Begabung reichte nur für ein gehobenes Hobbyniveau. So wechselte sie von der Musikhochschule auf Grundschullehramt und verwirklichte sich in einem kleinen Freizeitorchester.

Sie opferte die Geige der Familie, hüllte sie in ein dunkelblaues, weiches Tuch und sargte sie in den Instrumentenkoffer ein, der wiederum in den Tiefen ihres Kleiderschranks verschwand. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Nun hat Lioba die Vierzig deutlich überschritten und mehr Muße als jemals zuvor. Weil sie sich von den Etüden aus ihrer Studienzeit nie getrennt hat, ist es ein Leichtes, sie hervorzuholen und ganz bescheiden wieder anzufangen. Mit dem Geigenhals in ihrer Hand hat sie ihre Gefühle recht gut im Griff, kann sie durch das Etüdentraining bezwingen.

Jede zweite Ehe wird heutzutage geschieden. Wenn sie ihre Blusen bügelte, bügelte sie in Gedanken eins seiner Hemden. Sortierte sie den Kühlschrank, dann fiel ihr der karge Inhalt auf. Sein Bier stand nicht da, wo es gewöhnlich stand, und es fehlte an Wurst und Fleisch, war eben ein Frauenkühlschrank mit Käse, Gemüse, Joghurt, fettreduzierter Margarine, kohlensäurearmem Mineralwasser und Direktsäften. Alles in sehr überschaubaren Mengen. Aber das schlimmste war, dass ihr der Frauenplural einer Verlassenen übergestülpt wurde. Vom ehelichen Freundeskreis, vom Internetforum Partnersuchender, vom Vermieter. Und von den beiden Töchtern. Natürlich unausgesprochen.

Sie schlägt die Stimmgabel an den Couchtisch und ihr Gehör nimmt das ‚a' auf. Sie dreht an den Wirbeln und zupft die Saiten an. Wenn sie den Ton kontrolliert, sind ihre Augen vor Konzentration auf den Klang fast geschlossen. Sie wird dranbleiben, soviel steht fest.

Ohne die altmodische, zusätzliche Kinnstütze läge ihr Kopf zu schief auf dem Kinnhalter, denn ihr Hals ist lang. Schwänin hat ihr Vater früher zu ihr gesagt. Dabei hat er sie angesehen - liebevoll und ein bisschen stolz.

Schon lange vor der Trennung begann ihr Mann, wenn er nach Hause kam, eine ungewohnte Freundlichkeit an den Tag zu legen. Das hätte sie stutzig machen müssen. Wie erleichtert sie damals war. Und wie grenzenlos dumm. War sie doch davon ausgegangen, dass sie beide nach zwanzig Ehejahren den Punkt erreicht hatten, wo man die Gedanken des anderen lesen kann wie in einem aufgeschlagenen Buch.

Die einschlägigen Lektüren zur Suche nach einer passenden Lebensform liegen auf der Ablage unter dem dunklen Couchtisch, einer Notlösung aus Eiche antik mit Dackelbeinen. Einige Ratgeber für Verlassene, die in die Sinnkrise stürzten, waren durchaus ernst zu nehmen, taten nicht so, als könnten sie das Problem, dessen Diagnose auf der Hand lag, lösen. Lioba las dann häufig bis in die Nacht. Da kam doch bestimmt noch etwas in dem Buch, was für sie passte.

Doch es kam nur der Schlaf.

Nun hat sie sich damit abgefunden, dass es zurzeit keine unvorhersehbare Rolle für sie gibt. Nein, in ihrem Inneren ist nichts, das morgen flüstert, morgen ist der Tag aller Tage, morgen passiert etwas Ungeahntes, etwas Wundervolles.

Lioba wechselt die Saite

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