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Ein Leben mit Verletzungen

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Die Verletzungen der Kindheit prägen Ihr ganzes Leben – meist, ohne dass Ihnen das so klar ist. Sie bilden den Erfahrungshorizont, in dem Sie vor allem unbewusst operieren. Dieser – und die daraus resultierenden Verhaltensweisen – wird zum größten Teil vor dem siebten Lebensjahr in uns angelegt. Kaum bemerkt, hat er großen Einfluss auf unsere Physis sowie unsere Lebensumstände. Die unbewussten Verhaltensweisen werden zu einem Zeitpunkt heruntergeladen, zu dem unser eigener Intellekt noch kaum ausgeprägt ist, ungefähr zu der Zeit, in der wir unsere bleibenden Zähne bekommen. Diese unbewussten Überzeugungen und Verhaltensweisen wurden uns von unseren Eltern und von deren Eltern überliefert. Denken Sie einmal darüber nach. Wenn Ihre Eltern meinen, dass ein ganz wesentlicher Teil von Ihnen, etwa Ihre starke Empathie, etwas Schlechtes ist, dann stammt diese Einschätzung womöglich nicht von ihnen allein. Wahrscheinlich haben wiederum ihre Eltern diese Vorstellung an sie weitergegeben.

Wenn man uns also nahelegt, dass etwas mit uns nicht stimmt, bekommen wir Schuldgefühle und meinen, nicht gut genug zu sein. Ist es erst einmal so weit gekommen, werden wir von dem überstarken Bedürfnis getrieben, unseren Wert unter Beweis zu stellen. Wir entwickeln ein unstillbares Verlangen nach Zustimmung von anderen, damit wir uns selbst in Ordnung fühlen. Unsere ganze Persönlichkeit, einschließlich unserer Supereigenschaften sowie alle Bindungen, die wir mit anderen eingehen, sind dann unseren Verletzungen geschuldet, nicht aber unserer inneren Größe und Stärke. Denn die tiefsten Überzeugungen, unseren Wert in der Welt betreffend, entstammen den Verletzungen, die uns zugefügt worden sind. Diese und die Bindungen, die aus ihnen erwachsen, führen am Ende zu einem Leben, bestimmt von Wut, Schuldgefühlen, Schuldzuweisungen und Beurteilungen, die uns im Gefühl des Abgetrenntseins und der Wertlosigkeit stranden lassen.

Bis ich anfing, an der Heilung meiner eigenen Verletzungen zu arbeiten, hatte ich gar nicht bemerkt, wie sehr sie mein Leben geprägt hatten. Doch sie sind eben der Grund, warum ich so leidenschaftlich dafür bin, Frauen die Augen für die wahre Kraft des eigenen Körpers zu öffnen. Sie sind auch der Grund, warum ich in der Lage war, so stark für mich allein zu stehen. Aber sie sind auch der Grund, warum ich in Beziehungen war, die eigentlich nicht wirklich zu meinem wahren Wesen passten, gefangen in Situationen, die mich von mir selbst und meinem seelischen Potenzial entfremdet haben.

Vor Kurzem wurde ich in einer Sitzung mit einem erfahrenen Heiler angeleitet, herauszufinden, woher meine Grundüberzeugungen über das Leben herrührten. Nachdem der Heiler meine Führer und Engel – und auch seine eigenen – zu dieser Heilsitzung angerufen hatte, legte er seine Hände auf meinen Bauch. Dabei kam immer und immer wieder die Zeit um das 12. Lebensjahr zum Vorschein. Er „sah“ mich neben einem Zaun weinen und sagte, dass er seit damals starken Schmerz fühlen konnte. Und da hatte er recht. Als ich 12 war, bekam ich starke entzündlich bedingte Fußsohlenschmerzen, eine Hornhautverkrümmung und auch meine Periode fing an, schmerzhaft zu werden. Meine Periodenschmerzen waren so stark, dass ich jahrelang jeden Monat aus der Schule nach Hause gehen musste. Und später musste ich ihretwegen sogar manchmal Operationen abbrechen. Einem Heiler gelang es später, gewisse Schmerzen aus meinem Körper zu leiten, aber ihr Ursprung blieb im Dunklen – bis mir später in der Nacht desselben Tages ein Traum die Augen für eine tiefe Verletzung öffnen sollte.

Im Traum war es noch immer am selben Tag. Ich war mit meiner Familie zusammen, mit allen samt ihren Ehepartnern und Kindern. Mein Vater war auch da (obwohl er starb, als ich 28 war). Ich hatte die Nacht in einem Haus verbracht, das ich nicht kannte, und am Morgen musste ich früh raus, weil ich den Zug und ein Flugzeug kriegen musste, um irgendetwas zu arbeiten. Meine Schwägerin brachte mir meinen Koffer, der jedoch leer war. Ich konnte keines meiner Kleider finden, obwohl sie alle am Abend zuvor in eine Kommode gekommen waren. Mir lief die Zeit davon, ich musste den Zug erwischen. Also bat ich meine Familie, mir bei der Suche zu helfen. Doch man ignorierte mich. Immer wieder flehte ich alle an: „Bitte helft mir. Kann mir nicht jemand helfen, bitte?“ Und dann bin ich in Tränen aufgewacht und habe meine Traurigkeit im Alter von 12 in jeder Faser meines Körpers gespürt. Für ein paar Stunden blieb ich einfach bei den Gefühlen, die dieser Traum ausgelöst hatte. Ich weinte und weinte.

Offensichtlich hatte die Heilung den Deckel auf dem Gefäß meines Unterbewusstseins gelöst. Mir wurde klar, dass ich im Alter von 12 Jahren – als das schwarze Schaf der Familie – die Entscheidung getroffen hatte, dass mir niemand je helfen würde, meine Ziele zu erreichen, zu sehr unterschieden sie sich von denen der Familie. Ich war eine Einserschülerin in einer Familie, die eher an sportlicher Leistung und Bergsteigen interessiert war. Als ich einmal um einen ruhigen Ort zum Lernen bat (ich musste den Gallischen Krieg von Cäsar aus dem Lateinischen übersetzen), sagte mein Vater: „Wir können nicht alle unser Leben für dich auf den Kopf stellen.“ Hätte ich wie meine Schwester Olympionikin werden wollen, hätten sie natürlich Himmel und Erde für mich bewegt. Meine Mutter fuhr meine Schwester jedes Wochenende zu Skiwettkämpfen – 10 Stunden Fahrtzeit pro Strecke – während ich in ihrer Abwesenheit Abendessen für die Familie machte. Ich habe dieses Arrangement nie infrage gestellt, weil wir alle so stolz auf meine Schwester waren. Sie war damals das jüngste Mädchen auf dem Weltcupkurs und sehr begabt. Ist es immer noch. Unserer Familie hat das viel positive Wertschätzung eingebracht.

Nach diesem Traum war mir klar, dass ich im Alter von 12 Jahren entschieden hatte, dass ich nur mir selbst vertrauen konnte und mir niemand helfen würde. Wenn ich irgendwo hinpassen und Wertschätzung erfahren wollte, musste ich wohl oder übel herausbekommen, wie ich für andere von Nutzen sein konnte. Kochen und backen vielleicht. Oder aufräumen. Oder improvisierte Harfenkonzerte für Besuch – ob ich wollte oder nicht. So habe ich mein Leben jahrzehntelang gelebt. In dieser Zeit hielt ich viel von dem, was mir wirklich etwas bedeutete, unter Verschluss, lernte, mich an fast jede Situation anzupassen – egal ob sie mir behagte oder nicht. Darunter waren etliche Campingausflüge im Regen, Bergsteigen mit schwerem Rucksack, Kälte und Nässe auf den Skipisten, Golfcaddie für meine Mutter sein oder auf Teufel komm raus Golf und Tennis lernen, während sich meine Geschwister und Eltern über mich lustig machten, die natürlich alle Sportskanonen waren. Für viele klingt meine Kindheit ideal. Doch für mich war sie in vielerlei Hinsicht eine Qual. Zugleich war sie eine prima Vorbereitung auf das Medizinstudium und die chirurgische Ausbildung. Und ich weiß auch, dass meine Seele das alles gewählt hat. Ohne diesen Hintergrund hätte ich nie die Ausdauer und Disziplin aufgebracht, um die Arbeit zu machen, die ich bis heute gemacht habe.

Doch wie hat nun die Situation mit meiner Familie zu meinen Symptomen im Jugendalter geführt? Denkt man an die Pubertät, dann ist das vor allem die Zeit, in der man Antworten auf Fragen wie „Wer bin ich?“ sucht oder „Warum bin ich hier?“ Für mich führten diese Fragen zu Antworten wie „Ich bin nicht gut genug“ oder „Ich gehöre nicht dazu“. Das hat bei mir zu Selbstzweifeln und dem Gefühl geführt, verbergen zu müssen, wer ich wirklich war.

Scham, Schuld und Wut führten schließlich – auch wenn ich mich nicht erinnere, damals wütend gewesen zu sein – zu Kopfschmerzen, Augenproblemen und Menstruationsbeschwerden.

Doch bedenken Sie auch, dass der Schmerz, den ich im Traum hatte, der Schmerz einer verletzten 12-Jährigen war und nicht der Erwachsenen, die ich heute bin. Meine Familie hat mich in vielerlei Hinsicht unterstützt, u.a. durch das Bezahlen und Fahren zum Musikunterricht, das Bezahlen des Studiums und den Kauf einer Konzertharfe. Aber Schmerz ist Schmerz. Und es macht mich sprachlos, wenn mir klar wird, dass diese traurige 12-Jährige, die beschloss, niemandem trauen zu können, mein Leben jahrzehntelang auf ganzer Linie prägte. Schmerz kommt dann an die Oberfläche, wenn man ein starkes Ich und genügend Reife entwickelt hat, um damit umzugehen. Offensichtlich war es Zeit für mich, mehr zu vertrauen und die Vergangenheit loszulassen.

Die Verletzungen meines Lebens – und meiner früheren Leben – haben mich dazu geführt, die zu werden, die ich bin, aber nun war es Zeit, sie gehen zu lassen. Dies war die Heilung, die zu erfahren ich in diesem Leben auf die Erde gekommen bin.

Vom Schatten ins Licht

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