Читать книгу Ärzte der Kultur statt Manager in der Kultur - Die heillose Kultur - Band 1.2 - Dr. Phil. Monika Eichenauer - Страница 10

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Demokratisches Shaping

Diese heillose Kultur ist Folge des weltweiten Wettbewerbs der Wirtschaft und zerreißt uns und unser Leben innerlich wie äußerlich. Die Wirtschaft wird gepriesen, obwohl sie so viele und immer wieder ähnlich schädliche Wirkungen für Menschen hervorbringt. Politik und Medien finden ständig rhetorische Mittel, um die Realität zu verharmlosen. Hierbei sticht die Art und Weise, wie Missstände aufgegriffen werden, hervor und erfreut sich in der Öffentlichkeit zunehmender Beliebtheit. Das Benannt-gebannt-Prinzip, so möchte ich es einmal nennen, ergänzt durch den Ohrwurm: permanente Wiederholung − bis der Bürger im Schlaf singen kann, wie es zu sehen und zu verstehen ist und wie er, der Bürger, sich verhalten soll. Stets so, wie man es politisch und wirtschaftlich haben möchte.

Um Missstände zu beheben, passiert nicht viel: Unvollständige und einseitige Aufklärung reicht für diese Form der Demokratie. Man denkt auf Seiten der Politik, es müsste nun zugehen wie im Märchen: Sobald das Zauberwort gesagt ist, setzt das Wunder ein − und alles ist gut. Der Bürger soll denken, es sei alles bestens, „Oben“ wisse man Bescheid und kümmere sich. Die Mediatoren in der Kultur, die Moderatoren und Journalisten, ziehen mit betont anständiger Haltung durchs Land, die Aufrichtigkeit vermitteln soll. Aber es sind Kunststücke in einer so in tausend Teile gespaltenen Welt notwendig, damit auch zweifelsfrei „rüberkommt“, was wirklich gemeint ist. Jeden Tag aufs Neue ziehen sie auf die kulturelle Bühne und zeigen die diversen Krisenfelder vor der Kamera – und stellen unbequeme Fragen, deren Antworten zu keinerlei grundsätzlicher Veränderung führt. Manchmal wird es echt schräg – so wie gestern Abend: DKP-Mitgliedschaften, die in der Linken nicht mehr gewünscht sind und die Verstaatlichungsbestrebungen (neben der Forderung nach der Stasi) derselben. Auch hier wird das Ziel nicht deutlich, wo es für wen hingehen soll. Ein demokratischer Staat sollte sich nicht blind in Konzeptionen von Verstaatlichung noch „dem Bürger-alles-abnehmen-wollen-Politik“ noch „freie Handpolitik“ für die Wirtschaft versteigen. Einer Wahlkampfdemokratie fehlt der Grundsatz der generell zu verwirklichenden Bedürfnisse und Notwendigkeiten für Menschen. Wahlkampfpolitik leitet nur oberflächlich aus Tagesthemen und Hiobsbotschaften kurzfristig ab, was scheinbar Wählerstimmen einbringt. Es geht hier aber nicht um den Erhalt von Parteien und Wählerstimmen, sondern um Menschen im Land, die leben müssen und nicht wissen, wie.

Einschränkungen werden mittels Gesetze und Verordnungen bewirkt, bis sich gedanklich niemand mehr bewegen kann: Die Menschen in der Zweiklassengesellschaft werden damit eingefroren. Nichts geht mehr. Alles ist auszuhalten, was von Oben verordnet wird. Hält man sich nicht daran, gibt es Gesetze, die regeln, dass Menschen sich daran halten. Wer heutzutage noch etwas gesetzlich richtig oder falsch machen kann, ist ein Künstler. Zumal zusätzlich die kurzen Zeiträume einwirken, in denen Änderungen herbeigeführt werden. Das Rechtsempfinden wird in die Irre geführt.

Der Einsatz von Heilungsinstrumenten gegen Menschen mittels Kommunikationsstrukturen ist legendär. Anpassung dank manipulativ angewandter Methoden, wie sie aus der Verhaltenstherapie bekannt sind oder auch berechnende politische Entscheidungen im Sinne provokativer Psychodynamiken auf Staats- und Wirtschaftsebene, bei denen das Verhalten der Bürger schon als angepasste Reaktion vorweggenommen wird und mit der „man dann arbeiten“ kann. Diese Methoden werden − fachfremd − zur Umsetzung von Strategien in Wirtschaft und Politik eingesetzt, um Bürger willig zu machen. Kurz, die Bürger werden mittels pseudopsychotherapeutischer Strategien politisch in Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnisse manipuliert. Ähnlich wie im Straßenverkehr die Polizei, müssten Psychotherapeuten in der Kultur entsprechende Verwarnungen an derart missbräuchlich handelnde Mitglieder unserer Gesellschaft aussprechen. Insofern ist dieser Fachbereich zur Mitteilung bewusst durch Politik und Wirtschaft eingesetzter Abwehrstrukturen im Volk mittels politischer Maßnahmen verpflichtet:

Es muss aufgezeigt werden, wie Widerstände gebrochen werden, um ein bestimmtes Ergebnis in den Menschen hervorzurufen. Wie Menschen dazu gebracht werden, mitzumachen, was verordnet wird. Zumindest sollten neu erdachte Abhängigkeits- und Unterordnungsstrukturen moralisch und ethisch ohne Scheu benannt werden können: Damit jeder Mensch weiß, was in ihm provoziert wird und er nicht denke, er sei nicht ganz richtig im Kopf und seine Gefühle völlig realitätsfern. Denn mittels der anwendungsbezogenen Transformation unserer Methoden und Erkenntnisgrundlagen in politisch- funktionales Alltagswerkzeug in Kommunikationsstrukturen wird der im Grundgesetz verankerte freie Wille der Bürger verletzt.

Ein freier Wille setzt voraus, dass die notwendigen Informationen vollständig vermittelt werden und das Wissen, das in einer Zeit vorhanden ist, auch angewandt wird: Wenn also Offenheit und Gleichheit, dann nicht halbe Offenheit und halbe Gleichheit.

Doch in unserer Demokratie werden allzu gerne Halbwahrheiten zu absoluten Wahrheiten erhoben – dazu wurden Politiker aber nicht durch das Volk gewählt. Die Mittel, mittels derer Deutsche in Deutschland für dumm verkauft werden, sind so perfide, dass man im Ergebnis der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse auch nur sagen kann: Dafür braucht man auch dumme Menschen, die wieder glauben sollen, was da glaubhaft gemacht werden soll. Aber, so ließe sich kontern: So dumm sind die Deutschen denn doch nicht! Dennoch haben sie immer wieder den Fuß vertrauensvoll in das angeblich gleiche Boot, in dem man gemeinsam sitze, hineingesetzt und vor allen Dingen eines getan: Gearbeitet und geglaubt. Ora et labora! Ich glaube, und da haben wir es schon, Politik ist Religion geworden, die das Kapital gleich mit in diese Kirche aufgenommen hat und es heilig gesprochen hat und mit allen Mitteln verteidigt. Dafür müssen Menschen weiter beten und arbeiten und alles abgeben!

Die wahren Motive hinter bestimmten Gesetzen bleiben im Dunkel, während der Öffentlichkeit das Gegenteil als gutes und erstrebenswertes Ziel „verkauft“ wird. Demokratie im besten Sinne hieße, jeder Bürger hätte die gleichen Voraussetzungen zur Meinungsbildung und gleiche Rechte, um seinen Standpunkt zu vertreten, indem er grundsätzlich alle notwendigen Informationen bekäme.

Aber dem ist nicht so. Oben denkt und handelt für Menschen Unten. Das ist nicht verfassungskonform.

Ob diese Auffassung juristisch ableitbar darzustellen wäre, muss hier offen bleiben. Doch es ist eine moralisch-ethische Auffassung, und sind Moral wie Ethik einer Kultur nicht der juristischen Plausibilität vorgeordnet? Die Juristen hätten somit die Aufgabe, die moralisch-ethische Perspektive rechtlich abzusichern, und zwar so, dass sie für alle Bürger lebbar und verbindlich ist. Gleiches Recht für alle! Damit auch Anspruch auf Vollständigkeit von Informationslagen.

Soziologische Modelle, die von der Offenheit geschlossener Systeme sprechen, sind in der Gegenwart insofern nachzuvollziehen, als die meisten Bürger mit ihren Versuchen, etwas Neues anzufangen, scheitern. Oder versuchen Sie einmal, mit nichts in der Tasche eine neue Existenz in Deutschland aufzubauen. Da wird Ihnen höchstens gesagt: „Du bist Deutschland“ − und dann können sie wieder in ihr reduziertes Leben mit noch weniger Geld in der Tasche und noch ein Stück frustrierter zurückgehen. Sie hatten eben nicht das richtige Ticket, um ins System eingelassen zu werden. Denn nicht alle Bürger haben gleiche Rechte, Chancen und Möglichkeiten. Aber unsere Demokratie zaubert immer wieder schicke Vorzeigeprojekte in die Öffentlichkeit, die geeignet sind, das Gegenteil von dem, was das Gros der Menschen erlebt, zu belegen.

Wir leben in einer Pro-forma-Demokratie, in der darüber hinaus alles, was der Bürger an Meinung entwickeln könnte, schon von jemand anderem formuliert wird – zwar nicht in der ursprünglichen Intention des Bürgers, aber so, dass der Bürger sich nicht mehr äußert, denn: Es ist ja schon alles gesagt worden. Anders formuliert: Ihm sind eigene Standpunkte durch den allgemeinen genommen worden – und damit wird politisches Handelns letztendlich eingeschränkt. Man muss keine neuen, eigenen Ideen entwickeln – dafür sorgt die Meinungsbildung.

Vermeintliche (und kurzfristige) Erfolge heilungswidrig angewandter Shaping-Strategien (Anpassung an gewünschtes Verhalten) werden von der Politik schnell als „Erfolg“ verbucht. Bei politischen wie wirtschaftlichen Erfolgen wird jedoch verschwiegen, wer darunter leiden muss. Zumal die Opfer ja gar keine Opfer sind, solange sie vom Sozialstaat versorgt werden. Verschwiegen werden auch die langfristigen Folgen – und hinterher heißt es dann: Das konnte man nicht wissen, nicht prognostizieren, nicht ahnen – und schon gar nicht berechnen: So wenig wie die Renten und neuerdings die Pleite mit der Rister-Rente.

Diese Trilogie einer konfliktträchtigen Ausgangsbasis – 1. Symptom 2. gewünschte Verhaltensänderung 3. in einem bestimmten (politischen) Zeit-Raum-Kontinuum – wird bei der Betrachtung von Ergebnissen gern ausgeblendet. Denn nicht selten bringen kurzfristige Symptomreduzierungen langfristig Symptomverschiebungen hervor. (Die haben wir im Oktober 2008: Hätte man Bankkontrollen vernünftig formuliert und gesetzlich festgeschrieben, hätten wir nun eine andere finanztechnische Situation in Deutschland. Stattdessen hat man auf Gesetze gebaut, die Banken und Kapital freie Hand lassen und der Staat sich nicht einmischen konnte. Aber der Staat muss diese Gesetze doch erörtert und rechtens gemacht haben?)

Genauso gern wird der engere Bereich der tatsächlichen Verhaltensänderungserfolge auf alle Symptome generalisiert. Ein Beispiel:

Die Bürger haben sich den Armutsstrukturen angepasst – sie revoltieren nicht. Das könnte politisch als Erfolg gewertet werden. Was nicht begriffen wird: Armut kann in Familien Defizite in allen möglichen Bereichen hervorbringen und sich verheerend auf Kinder auswirken. Diese werden sich aufgrund ihrer Erfahrungen psychisch in eine Richtung entwickeln, die dann wiederum in der Gesellschaft in vielerlei Hinsicht negativ zu Buche schlägt. Das heißt, ein Anpassungserfolg generalisiert auf völlig verschiedenen psychischen Ebenen im Menschen und gleichzeitig auf sozialen Ebenen in der Gemeinschaft: Narzisstische Störungen nehmen zu, Gewalt nimmt zu, Krankheit nimmt zu … Die Kinder werden sich nicht entsprechend ihres eigentlichen Vermögens entwickeln können – und wer wollte sagen, dass nicht jeder Mensch in Zukunft wichtig ist und dass mit politischen Armutsprogrammen zugunsten der Wirtschaft nicht gerade ein neuer Einstein begraben wird? Die Abiturquoten „deutschstämmiger“ Abiturienten, wie es oben hieß, nehmen ab.

Ein weiteres Beispiel: Die Wirtschaft kann für sich die Erfolge von Fernsehgeräten verbuchen – und gleichzeitig durch die Art und Weise der filmischen Darstellung Wahrnehmungsdefizite und psychische Fehlentwicklungen bei Kindern und Erwachsenen maßgeblich fördern. Die Wirtschaft hat die Gewinne über den Fernsehgeräteverkauf, die Sender haben ihre Gewinne durch die Werbung für sich und die werbenden Firmen eingefahren. Auf der Strecke bleiben behandlungswürdige Menschen, deren Behandlung durch die Krankenkassen finanziert werden müsste – aber nicht wird, weil die geeigneten Methoden sehr speziell und daher nur privat zu erhalten sind. Stichwort: ADS – Defizitäre Störungen der Aufmerksamkeit.

Auf Bürger mittels politischer Gesetzgebungen angewandt, wird der „Mund“, sprich die eigene Stellungnahme und Handlungsmöglichkeit, aufgelöst. Die Bürger passen sich den Gegebenheit an und tun, was man von ihnen erwartet, mit der Aussicht, eine kleine Belohnung zu bekommen. Sind die Bürger aber erst einmal so weit angepasst, wird die Belohnung weiter reduziert. Schließlich müssen ja Gewinne erzielt und Defizite ausgeglichen werden. Das heißt, man bringt Menschen dazu, bestimmten Vorgängen kurzfristig zuzustimmen und Verzichtsleistungen zu erbringen − ohne Rücksicht auf die möglicherweise verheerenden langfristigen Folgen. Nur wer spricht, kann etwas verändern. Derjenige der schweigt, akzeptiert und erhält.

Das, was untergeht, weil es nicht gesagt wird, könnte genau das sein, was in unserem System „Kultur“ gebraucht wird, um vorwärts zu schreiten. D.h., es ist nicht im Voraus zu beurteilen, was besser nicht gesagt werden sollte. Dies ist eine Erkenntnis aus meinem Fachbereich: Fragt man Menschen direkt, bekommt man oftmals nicht die Antwort, die in einen Entwicklungsprozess weiterführen. Entwickelt der Behandler aber das Vertrauen, dass der betreffende Mensch schon erinnern und erzählen wird, was im Lösungsprozess eines Konfliktes oder Problems an Information für die Lösung fehlt, erzählt er wie nebenbei plötzlich und noch unwissend, was fehlte. Ist der Behandler aufmerksam, kann er die Teile und Informationen zusammenfügen.

Wenn wir es versäumen, uns jetzt für die Heilung einzusetzen, werden aufgrund der aktuellen und zukünftiger Gesund-heitsreformen möglicherweise Tausende Menschen so behandelt, dass man sie irgendwann nicht mehr gesund behandeln kann oder, noch schlimmer, überhaupt noch irgendeine psychotherapeutische, sozial indizierte oder medizinische Behandlung nützt oder vielleicht sogar überhaupt nicht mehr gesellschaftlich von Oben gewünscht ist. Es gibt viele Arten, das Leben anderer Menschen zu verspielen. Aufklärung über „Risiken und Nebenwirkungen“ tut not.

Unter einer anthropologischen Sichtweise − die ganze Bibliotheken gedanklich bewegt und beinhaltet − also auf Menschheitsgeschichte und Entwicklung des menschlichen Wesens bezogen, richtet der Kapitalismus langfristig furchtbare Schäden an: kulturell ebenso wie im generellen Leben, im Körper und in der Seele des Menschen. Aus der Not heraus werden sich neue Abwehrstrukturen entwickeln, die Menschen entweder körperlich und psychisch kränker und schwächer oder sie abwehrbereiter werden lassen. Momentan sieht es so aus, als würden Menschen durch zahllose und nicht enden wollende Verluste innerlich zerrissen, zerstückelt, nur noch halb oder gevierteilt, wie eine blutende oder einfach offene oder eiternde Wunde. Alle Gefühle, die in Trauerprozessen um nahe stehende Menschen mitgeteilt werden, beschreiben gleichfalls emotional die Verluste in allen anderen möglichen Lebensbereichen. Es geht um Existenz, um das Leben von Menschen in Deutschland und, ebenso global, um die Existenz und die Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen in allen Erdteilen. Ja, es geht sogar um den Bestand der Welt, der Erde und des Menschen schlechthin: Es geht eben nicht „nur“ um uns in der Gegenwart. Aber wir sollten uns wichtig genug sein, dieses Thema Verlust, Umgang mit Verlust und den dazu gehörigen Gefühlen zu formulieren und damit aufhören, als wäre das alles gar kein Problem! Und als hätte der Umgang mit diesen Verlusten und fehlender Gefühlsausdruck keine Konsequenzen. Aus meinem Fachbereich heraus gesprochen: Er hat sogar eklatante Folgen, die sich an der Zunahme psychischer Erkrankungen und generell anhand steigender Zahlen chronischer Erkrankungen zeigt.

An dieser Stelle entwickelt die verhaltenstherapeutisch transferierte Induktion der Anpassung von Menschen durch das politische Shaping eine neue Dynamik, die auch hinsichtlich ihrer psychoanalytischen Kräfte sowie systemisch betrachtet werden sollte.

Verändere eine Kleinigkeit, und das Ganze wird sich verändern. So etwa wäre es anhand eines Grundsatzes aus Gestalttherapie und Systemtheorien zu beschreiben. Oder laut Chaosforschern und Systemtheoretikern: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in China kann das Klima in Europa verändern. Und schon wäre man in der Betrachtungsebene der sich durch politische Veränderungen freisetzenden Psychodynamik in Bürgern − auch jenseits deutscher Grenzen. Fakt ist: Die ökonomisierte Heilungsperspektive greift an vielen Stellen in das Leben von Bürgern ein. Schamlos werden Kontinuität der Wahrnehmung, Lebensführung und Lebenspläne zerrissen, zerhackt; und ökonomisch wie sozialpolitisch wird der Mensch irgendwohin auf Pfade gelenkt: Dort dürfen sie vorangehen … Und wehe, sie weichen ab. Wo das Gros der Bürger landen wird, kann gegenwärtig wohl keiner mit Gewissheit sagen. Generell etabliert diese heillose Sichtweise wie die Parallelwerte den Zweiklassenlebensvollzug.

Wie Sie bereits bemerkt haben werden, bietet die psychologische und psychotherapeutische Sichtweise auf gesellschaftliche Prozesse nicht gerade rosige bzw. die Politik bestätigende Gegenwartinterpretationen oder Zukunftsversionen für unser Leben an. Umso wichtiger ist es, dass psychotherapeutische Methoden nicht länger als notdürftige Abdeckmittel in individuellen Einzeltherapien betrachtet und − wahrlich heilsam − eingesetzt werden, sondern auch als Analysemittel für eine verkorkste, ökonomisierte Kultur, deren Verzweigungen geordnet werden müssen. Mit der psychologischen und psychotherapeutischen Perspektive auf die Gegenwart entwickelt sich ein sozialkritischer Blick, der viele verschiedene Aspekte unseres Lebens aufnimmt und auf tieferer Ebene veranschaulicht, wie Menschen in dieser Wettbewerbskultur sozial, ökonomisch und psychisch zerrissen und aufgefressen werden.

Wie das funktioniert? Schalten Sie doch mal heute Abend einen Spielfilm im Privatfernsehen an, erleben Sie, wie der Film an spannenden Stellen unterbrochen wird. Sieben Minuten Werbeblock … Auf der Wahrnehmungsebene wird ihr Wahrnehmungszusammenhang mittlerweile mit größter Selbstverständlichkeit zerrissen, und Sie lernen, mit dem Frust zu leben, dass Sie nicht sofort die Informationen bekommen, die Sie in dem Augenblick möchten. Ihnen wird die Kontrolle entzogen. Sie haben nun drei Möglichkeiten: Sofort einen anderen Kanal anzuwählen, den Fernseher ganz auszuschalten – oder sich in aller Gemütsunruh die Werbung anzutun oder in der Küche etwas zu erledigen. Wahrnehmungsunterbrechungen sind Gesundheit schädigend und Risiko behaftet und werden besonders an Kindern hinsichtlich der Folgen deutlich. So zeigt Prof. Manfred Spitzer (2006) auf, wie Kinder mittels des spezifischen Lernens über das Fernsehen zu Konsumenten erzogen werden.

Werbeunterbrechungen fehlen, wenn zusätzlich gezahlt wird. Ausnahme ist das Deutsche Fernsehen mit dem Ersten, Zweiten und WDR. Zahlen müssen Sie auch bei biologisch einwandfreien Lebensmitteln, giftfreier Kleidung und Kosmetika. Ein beliebtes Instrument der Wettbewerbsideologie in unserer Kultur, um aus etwas, das früher selbstverständlich war, zu Luxusgütern mutieren zu lassen und abzukassieren. Das Selbstverständliche wird zum Luxus und ist folglich nur noch für jene da, die es sich leisten können. Das heißt Wettbewerb. Und auch in der Gesundheitswirtschaft heißt diese Entwicklung Wettbewerb – oder meinen Sie, unsere Medizin, Behandlungen und Therapien würden durch Wettbewerb für alle Menschen besser?

Obwohl mit verseuchten Lebensmitteln gefüttert, psychisch der natürlichen Kontinuität der Wahrnehmung entfremdet und sozialpolitisch manipuliert, versuchen die Menschen dennoch, sich irgendwie gesund zu halten und in dieser Gesellschaft zum Bestand unseres Lebens beizutragen. Aber auch das Selbstwertgefühl wird weiter abgebaut, und nicht zuletzt dadurch werden zahlreiche neue Krankheiten hinzukommen. Die erste Krankheit dürfte in diesem Zusammenhang die Essstörung in verschiedenen Variationen sein. Eine andere ist ADHS, deren differentialdiagnostische Symptomatiken in Unterkategorien gesondert in Diagnosen verschlüsselt werden.

Narzisstische Probleme werden aktuell offenbar notdürftig verhaltenstherapeutisch versorgt: Bundesweit sollen 10 % der Menschen in Deutschland unter der „Angst vor Beurteilungen anderer“ leiden – wie über WDR 2 (6.12.2007) mitgeteilt wurde. Dass diese Menschen Angst vor negativen Beurteilungen haben, liegt auf der Hand – sonst hätten sie diese Störung nicht. Zumindest habe ich noch nicht gehört, dass ein Mensch Angst vor positiven Rückmeldungen und Lob gehabt hätte. Eine passende Behandlungsmethode wird empirisch durch die Universität Bochum und das Landeskrankenhaus in Dortmund-Aplerbeck untersucht: Bei 60 Menschen ist es gelungen, diese Ängste zu reduzieren! Das freut mich für die Betroffenen – aber das vorhandene soziale Grundproblem zwischen Oben und Unten wird auf diese Weise nicht bewältigt. Ebenso ist zweifelhaft, ob den behandelten Menschen nun klar ist, weshalb sie diese Ängste entwickelten! Sicherlich glauben sie, es liege an ihnen und nicht am gesellschaftlichen System! Diagnostisch würden derartige Ängste – oberflächlich betrachtet – als Anpassungsstörung eingeordnet. Darauf werde ich in Band 3 zu sprechen kommen.

Eine andere Möglichkeit wären die berühmten Scheuklappen, diesmal in Stahlausführung, was das Abspalten der kulturellen Wirklichkeit erleichtert, den Menschen aber bestimmt nicht gesund erhält. Menschen werden sich weiter in sich zurückziehen, in der Hoffnung, sich vor schädlichen Einflüssen schützen zu können und irgendwann stellen sie fest, dass sie vereinsamt sind, misstrauisch über beide Ohren, keine Freude und Freunde mehr finden – dann wissen sie, dass das nicht der richtige Weg war, kampflos und wortlos das soziale Feld verlassen zu haben. Oben zieht man in andere Länder – dann merken die Unten nicht mehr so viel von den unterschiedlichen Werthaltungen und der Parallelwelt im Alltag – das heißt, sie werden weniger Neid und Misstrauen entwickeln, weil sie nicht sehen, wie andere, die mehr haben, leben. Der Anfang der Chancenungleichheit ist mit der Schaffung von Eliteuniversitäten für die Zukunft längst vollzogen. Und niemand kann mir erzählen, dass die Internationale Universität nicht eindeutig definiert ist nach der Höhe des elterlichen Bankkontos. Damit ist klar, wer in den nächsten zehn Jahren auf welchen Stühlen in der Gesellschaft sitzen und sagen wird, wie Unten weiter gelebt werden soll und muss.

Ich trete ein für Werte, die das menschliche Wesen in den Mittelpunkt und an die Spitze der Gesellschaft stellt. Wirtschaft und Politik haben an ihm vorbei regiert.

Anstand zu wahren oder zumindest die Einhaltung des demokratischen Auftrags in unserem Land sicherzustellen, das sind offenbar Erwartungen, die mit dem deutschen Alltag nichts mehr zu tun haben, so wenig wie die Heilung in unserer gesellschaftlichen und kulturellen Mitte Ziel politischer Bemühungen ist. Mittels Shaping und (psycho-)politischer Maßnahmen werden Menschen und Bürger in eine demokratieferne Realität eingepflegt, damit sie in die Vorstellungswelt des Oben passen – egal, ob die Menschen Unten dabei psychisch und/oder körperlich krank werden, verarmen, sich gegenseitig umbringen: Hauptsache, sie tun und zahlen, was von ihnen verlangt wird.

Ärzte der Kultur statt Manager in der Kultur - Die heillose Kultur - Band 1.2

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