Читать книгу Ärzte der Kultur statt Manager in der Kultur - Die heillose Kultur - Band 1.2 - Dr. Phil. Monika Eichenauer - Страница 8

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Geist ist geil

Unter diesem Slogan wurden vor einiger Zeit Geisteswissenschaftler gesucht, die zusammen mit Wirtschafts- und Finanzexperten neue Systeme ausklügeln sollten. Vermutlich ein journalistischer Ausläufer der Initialzündung „Pro Geisteswissenschaften“, die im Jahr 2005 von VW, Thyssen-Krupp und der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ ins Leben gerufen wurde.

Ich wähle diesen Titel „Geist ist geil“ für dieses kleine Kapitel für den menschlichen Geist – im Gegensatz zum pervertierten ökonomisierten Geist, wie ich andernorts hinsichtlich des Begriffs „Ökonomismus“ differenzierte.

Diese zeitgenössische Formulierung – angelehnt an den „Geiz ist geil“-Werbeslogan – spiegelt unsere sexualisierte Welt wider und zeigt die geschickte und ökonomistisch geniale Kombination von einer – eigentlich – negativen Eigenschaft mit einem – eigentlich – im sexuellen Bereich beheimateten eher (zunächst) als positiv zu bewertenden Gefühl.

Hier werden zwei Inhalte in einen Zusammenhang gesetzt, die einander im Grunde ausschließen: Geiz ist assoziiert mit „zurücknehmen, festhalten, für sich behalten, nichts teilen und nichts abgeben“, geil hingegen mit „Erregung, konzentriert, auf ein Objekt gerichtet, lüstern und lustig, abgebend, teilend“.

Mit diesem Trick erzielten Werbefachleute eine raketenartige Wirkung und ließen den Bürger entgegen jeden Verstandes etwas von den angepriesenen Produkten kaufen – obwohl er kein Geld hat. Warum? Mit dem vom Adjektiv geil abgeleiteten Verb nähert man sich der Erklärung an; denn geilen bedeutet nach etwas gieren. Und auch der Geiz „giert“. Sein Sinn und Zweck ist es, alles zu behalten und bloß nichts abzugeben oder – und das wäre die Verlängerung: die Gier des Geizes – mit dem Festhalten sogar noch etwas dazu zubekommen!

Hier kommt das schöne Wort „Habgier“ ins Spiel. In der Gier verschmelzen die oberflächlich gegensätzlichen Inhalte von geizen und geilen miteinander, die ein normaler Bürger und Mensch erst mal nicht in Beziehung setzen würde, im „Bauch“ gefühlsmäßig zusammen: Und im Bauch des Bürgers findet sich logischerweise der durch die Globalisierung erzeugte Mangel. Ein Mangel wird jedoch auch assoziativ bei „Geiz“ und „Gier“ spruchreif: Und wer einen Mangel hat, möchte ihn beseitigen. Wenn man Durst hat, möchte man trinken. Dito: Mangel erinnert und provoziert das Gegenteil, nämlich das Bedürfnis, etwas haben zu wollen, und schon wendet sich das im Bauch erzeugte Gemisch von Geiz und Gier dann folgerichtig wiederum nach Außen – die Gier ändert nach der Ist-Soll-Prüfung im Bauch des Menschen die Richtung und hält Ausschau nach Befriedigung des Mangels.

Der Mensch, der diesen Spruch liest oder hört, fühlt sich zweifach entlastet: Er fühlt sich verstanden – insbesondere vor dem Hintergrund der Euro-Umstellung und Arbeitslosigkeit, die zusätzlich von vielfältigen steuerlichen und preislichen Erhöhungen begleitet wurden und werden. Weiter fühlt er sich bestätigt, nämlich auf diese wirtschaftliche Entwicklung mit „Geiz“ zu reagieren. Geiz wird nicht länger als Negativ und drum’ zu vermeidendes Verhalten deklariert, sondern als nicht nur positiv, sondern gesteigert zu „geil“, auch noch geradezu als legitimiertes und lustvolles Erleben! Ist-Soll-Prüfung soll bedeuten: Ich habe eigentlich nichts im Portemonnaie, nur noch ein wenig und ich sollte besser aufpassen, was ich mit meinem Geld und meinem Bedürfnis, doch etwas haben zu wollen, anfange: Also schaue ich doch, dass ich für möglichst wenig Geld (Geiz) maximal viel (geil) Befriedigung meines Bedürfnisses bekomme. Und schon geilen und gieren Menschen und kaufen ein! Statt zu sparen.

Das ist perfekt! Vielleicht kennen Sie das: Sie haben Gäste und die Befürchtung, es könnte zu wenig von allem da sein! Was sagen Sie? Ich habe gelernt zu sagen: „Kinder, greift zu, es ist genügend da!“ Und bislang gab es niemals die peinliche Situation, dass jemand feststellen musste: Das stimmt ja gar nicht! Wenn Sie aber sagen: „Oh, das ist jetzt die letzte Schale Reis …“, dann wird urplötzlich jeder sooooo einen Appetit auf Reis entwickeln, und alle befürchten, zu wenig abzubekommen.

Das heißt: Wenn Menschen den Eindruck des Mangels haben, setzt die Gier ein und gibt keine Ruhe, bis sie eines hat: Befriedigung – also nicht anders als bei Geilheit und Geiz!

Die botanischen Wurzeln der beiden Worte muss ich Ihnen noch kurz mitteilen, weil sie so schön anschaulich sind:

„Das in älterer Zeit fachsprachlich im Gartenbau übliche Geiz Nebensprößling’ (Anfang 18. Jh.), dafür heute Geiztrieb, geht von der Vorstellung aus, daß dieser den Pflanzen gierig den Saft aussauge.“ Und: „(…) geil(e) ‚Üppigkeit (8. Jh.), Fröhlichkeit, auch ‚Hoden’. Geil‚ fruchtbar, üppig wachsend, wuchernd, von Tieren und Pflanzen (15. Jh.) ist vom 19. Jh. an selten.“ (Etymologisches Wörterbuch, 1995, S. 414 und 416)

Dieser Nebensprössling Geiz aus dem 18. Jahrhundert avanciert in Gemeinschaft mit dem Wort geil, dessen Bedeutung sich zehn Jahrhunderte lang vor allem in den Fahrwassern von „Üppigkeit, Fröhlichkeit“ bewegte, wird erst in neuer Zeit mit „sich sexuell erregen“ assoziiert. Eine Assoziation, die von den kapitalistisch-globalistischen Stromschnellen der vampiristischen Wettbewerbsideologie gerne mitgerissen wurde. Denn wenn auch nur der leiseste Verdacht besteht, beim Bürger sei noch etwas zu holen, dann wird der Ökonomist dieser Fährte instinktiv nachgehen – und auch der Bürger folgt seinem Instinkt, angesprochen von diesem Slogan, obgleich er nichts in der Tasche hat.

Im Übrigen haben da die Politiker von den Ökonomisten, sieht man sich die Steuergesetzgebung an, gelernt: Nur holen sie sich das Geld bei den Armen statt bei den Reichen! Aber dieser Spruch „Geiz ist geil“ ist ja auch nicht für die Reichen. Es ist ein typischer Spruch für Unten, so, wie man sich die Menschen Unten so vorstellt, dass sie funktionieren sollen: Sex sells.

Der kapitalistische Wettbewerb müsste diesen Slogan mit einem Siegerpreis krönen ob der Perfektion und Chuzpe, mit der er Menschen dazu bekommt, doch noch die Tische leer zu kaufen, selbst wenn sie kein Geld dafür haben. Wofür gibt es schließlich Kreditanstalten! Wie man weiß, sind inzwischen viele Bürger nicht unerheblich verschuldet. Das liegt selbstverständlich nicht nur an diesem Werbeslogan, sondern an der generellen Halbierung des Einkommens durch die Euroumstellung und die vielen zusätzlichen steuerlichen Abgaben und (Verkehrs-) Kontrollen – und durch Arbeitslosigkeit.

Geilen und Geizen verbindet also in der Tiefe das Gieren: Eine explosive Mischung, die negative Eigenschaften ins Positive verkehrt und zusätzlich mit sexueller Kraft potenziert. Sozusagen eine ökonomistische Alchemie, aus Dreck Kunst oder besser Gold werden zu lassen: Kleinvieh macht auch Mist. Damit schafft der Slogan eine neue Werteordnung, wie sie auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene der Politik und Ökonomie erwünscht ist: Konzentriert und maskiert streift er die Bedeutung politisch-ökonomischer Umwälzungen auf der negativen und die „Schuld“ verkehrenden Resultatebene: Geiz. Auf der Handlungsebene hingegen wird zu einem verkehrenden Verhalten aufgefordert: Der Bürger soll keineswegs „nichts“ kaufen, sondern er soll preiswert einkaufen, er soll ebenfalls zum Vampir werden, der aufgrund und wegen seines Mangels kauft. Diese Verbindung − weniger haben, aber dennoch kaufen − harmonierte haargenau mit den Hoffnungen von Politik und der Ökonomie: Der Binnenmarkt drohte vollständig abzusacken. Die Bürger waren angesichts der Euroumstellung sehr schlecht gestimmt, und so wurde schlagartig weniger gekauft. Die Werbebranche musste sich etwas einfallen lassen.

Das Ergebnis: Die Scham über die negativen finanziellen Veränderungen in den einzelnen Haushalten der Bürger wurde schlagartig abgeschafft, und die der Verarmung zugrunde liegende Realität des finanziellen Mangels öffentlich thematisiert.

Das „Zuwenig“ „alchemisierte“ man in eine aktive Bürgerhandlung, nämlich Geiz. Damit fand eine Angleichung mit den Besitzenden statt – denn Gier und Geiz ist ihnen als Wesensmerkmal mit in die Wiege gelegt: Natürlich nicht sich selbst gegenüber, sondern generell den Besitzlosen gegenüber. Natürlich wurden die Menschen nicht plötzlich geizig; sie mussten schließlich mit fünfzig Prozent weniger Kaufkraft zurechtkommen. Das Opfer, das aufgrund der Euroumstellung spürbar weniger im Portemonnaie, einen Arbeitsplatzverlust zu ertragen und somit eine komplette Neujustierung seines Lebenswandels auf eine festgelegte Quadratmeterzahl vorzunehmen hat, dieses Opfer der Globalisierung wird nun zum „Täter“: Er, der Arme und Verarmende, ist derjenige, der geizig ist oder es sich gestatten soll, geizig zu sein! Er soll sich nicht mehr schämen, die Preise zu vergleichen – nein, er soll ins Rampenlicht mit seiner Gier, etwas haben zu wollen! Er ist der Vampir, der den Hals nicht voll genug bekommt, der bitteschön preisbewusst handeln und zum Unternehmen eilen soll, um sich die Vorteile zu sichern!

Er, der Bürger, soll sich nicht grämen über die Verluste, die er hinzunehmen hat, nein, er soll fröhlich und aktiv mit der Situation umgehen und als Sieger aus dieser wirtschaftlichen Misere herausmarschieren. Mach dir einfach die Geiz-Haltung zu Eigen – und schon geht es bergauf.

Der Spaßfaktor „geil“ garantierte zudem, dass diese Wendung finanzieller Anpassung in einigermaßen positive, statt in negative und depressive wie schamhaft-emotionale Fahrwasser gelenkt wurde. Der Wettbewerb, möglichst genau zu schauen, wie viel man wofür bezahlt, wurde favorisiert. Je billiger, desto besser – je geiziger und gieriger einer ist, der nichts im Portemonnaie hat, desto geiler! Eine Gegenkultur zum Je teurer, desto besser. Je exklusiver die Marke, desto mehr ist der Markenträger wert war geschaffen. Hiermit ist eine Alchemie angesprochen, die Gefühle und reale wirtschaftliche Verhältnisse in Einzelhaushalten sowie Handlungsmodi und Selbstwertgefühle manipulierten – pünktlich zum weiteren Grundausbau der Zweiklassengesellschaft. Denn damit war klar, welcher Wert für Unten favorisiert wird und welcher für Oben. Die Geld- und Auftraggeber der Werbe- und Medienagenturen lassen den heiligen Geist der kapitalistischen Ökonomie in tausend Zungen sprechen, um den Bestand der Wirtschaft und der Politik zu gewährleisten. Und so hätte der „Geiz ist geil“- Slogan auch von der Regierung als neue Orientierung herausgegeben werden können.

In die gleichen Katakomben der Scheinheiligkeit führt der von der deutschen Unternehmerinitiative entworfene Slogan „Du bist Deutschland“, dessen Analyse ich mir an dieser Stelle erspare, da dieser Slogan zusätzlich die gesamte deutsche Geschichte mit ins Gefühl und auf den Seziertisch transportiert.

Nur so viel: Obwohl die Unternehmen und Manager innerlich schon lange nicht mehr mit dem deutschen Bürger verbunden sind und das Land auch äußerlich verlassen haben, sprechen sie hier so etwas wie ein „Wir-Gefühl“ an, das sich angesichts der bedrückenden Arbeitslosenziffern und steigenden Verarmungsraten als Fata Morgana entpuppt: Der halb verdurstete Bürger wird mit diesem „Du bist Deutschland“ in die Wüste geführt, als handele es sich um eine sprießende Oase! Diesen Slogan einfach nur als „frech“ zu bezeichnen wäre euphemistisch; denn dieser Slogan ist böse. Während „Geiz ist geil“ noch einen gewissen Witz hat, der die innere und zu vollziehende Wandlung des einzelnen Bürgers auf den Punkt bringt, wird der Bürger mit „Du bist Deutschland“ in seinen Gefühlen bis in die tiefsten existenziellen Abgründe geführt.

Ihm wird vorgegaukelt, er könne seine Lage ändern, er müsse sich nur etwas einfallen lassen und solle mit seinen „guten Ideen“ nur an die Türen klopfen und ihm würde durch die deutsche Wirtschaft aufgetan. Das widerspricht der deutschen Realität, wie an anderen Stellen noch zu lesen sein wird: Zum Beispiel bzgl. Seilschaften in der Industrie oder der Tatsache, dass nur derjenige in Deutschland weiterkommt, der den richtigen Familienhintergrund vorweisen kann. Dieser Slogan stand der neu zu realisierenden Realität in Deutschland völlig konträr gegenüber. Der Bürger wurde manipuliert und realiter seiner selbst entledigt. Er, der so gnadenlos wirtschaftlich und politisch gedemütigt wurde, sollte zur Krönung auch noch so tun, als seien existenzielle Probleme überhaupt kein Problem und man könne enthusiastisch seine Idee, die man nur aus dem Ärmel zu schütteln brauchte, präsentieren und durchstarten in die Globalisierung. Zusätzlich wurde über den deutschen Spalt der jüngsten deutschen und viel diskutierten Vergangenheit gesprungen und so getan, als sei es nun endlich wieder an der Zeit sagen zu können: Du bist nicht nur ein Deutscher, sondern Du bist Deutschland! Der geschichtliche Spalt, der die Ambivalenz von „Deutschland“ und „Deutscher“ noch gären ließ und lässt, war plötzlich ebenso kein Problem mehr – ebenso wenig wie die sich anbahnende Realität zunehmender Verarmung, wie sie sich durch Menschen und Menschengruppen zog!

„Du bist Deutschland“

zählt zu dem Kapitel deutscher Erleuchtungsprogramme, deren Bedingungen kein Ashram in der Welt besser organisieren könnte: Den besitzlosen Menschen wurde immer mehr genommen, gesagt wurde ihnen mehr oder weniger deutlich, wir geben so viel und so gut wie wir können! Wir fahren unsere Globalisierungsgewinne ein und ihr fegt derweil den Hof für einen Euro: Damit qualifiziert ihr euch! Ihr verliert nicht die Lust am Arbeiten und am Leben! Es dient dem Land! Und wenn es uns besser geht, überlegen wir uns was Neues, eine neue Übung, für euch: Dann dürft ihr vielleicht, wenn ihr gelernt habt, zu dienen und euch als treu zu erweisen, auf die nächst höhere Stufe kommen, die wir aber gerade (Mittelstand) abgeschafft haben! Also das kann dauern! Denn wir sind Deutschland und wir sagen, was ihr dürft und tun müsst! Und ein Geschichtsbewusstsein brauchen wir auch nicht mehr – und wenn wir keine Geschichte mehr haben, keine persönlichen Erfahrungen und Erkenntnisse, dann kann es auch keine unterschiedlichen Schichten oder Klassen geben. Denn: Dann sind wir wieder Deutschland – das ist das wichtigste, dass wir jetzt zusammenhalten und ihr uns nicht verlasst oder gar auf dumme Ideen kommt!

Denn: Du bist Deutschland! Und wir nehmen es mit der ganzen Welt auf! Das wollen wir doch mal sehen, ob wir uns von der Globalisierung und den vielen Konflikten und Problemen unterkriegen lassen! Wir Deutschen nicht – egal, ob du was im Portemonnaie hast oder nicht! WIR werden in der weltweiten Siegerreihe als Deutsche stehen! Gerade wenn uns das Wasser bis zum Hals steht, verzagen wir nicht: Das schaffen wir alle gemeinsam! Denn:

Du bist Deutschland!

Festzuhalten bleibt, „Geiz ist geil“ ist ein zeitgenössisches kulturelles Faktotum, anhand dessen psycho-ökonomischer Analyse der kapitalistische Geist glasklar ablesbar wird und woran Philosophen wie Marx und Hegel ihre Freude gehabt hätten. Kein Stuhl, kein Gebäude oder Maschinenteil, sondern ein geistiges Objekt, an dem der Geist der Zeit in seiner unmissverständlichen Teleologie und Funktionalität wie ein Esel an einem Strick zum Bestaunen festgezurrt werden kann.

Geist hingegen ist generell von sich aus durchdringend und manifestiert sich in vielerlei Hinsicht in verschiedenen Objekten und Vorgängen. Zweifelsfrei steckt in dem Slogan „Geiz ist geil“ der ökonomische Geist in einem frivolen Gewand. In unserer Kultur mutet es fremd an, darauf hinzuweisen, dass es noch andere Naturen von Geist als den ökonomischen gibt. Ich muss ihn „humanistischen Geist“ nennen, denn auch in dem ökonomischen Geist ist ja menschlicher Geist enthalten – wenn auch eingesetzt, gegen das Menschliche, gegen die Seele und den Menschen. Unter humanistischem Geist verstehe ich im Gegensatz zum ökonomischen den Geist, der sich für den Erhalt von Mensch, Natur und schlechthin Leben einsetzt. Setzt man ökonomisierten Geist ein, werden den Menschen innere Kraftquellen, die eigene Reaktionen hervorbringen könnten, genommen. Der Vampir sitzt schon am Hals. Und der Mensch handelt gegen seine eigenen Interessen, handelt manipuliert. Der einzelne Mensch hat es mit zwei Widersachern zu tun:

Zum einen mit dem luziferischen Götterboten des Werbeslogans, der ihm seine berechtigten Gefühle nimmt, sie ins Gegenteil verkehrt, so dass der Mutige damit rechnen muss, als „Spielverderber“ bezeichnet zu werden – und zum anderen mit jenem Feind, der es auf seine existenzielle Situation abgesehen hat. Die Politiker handeln wie ihre Artgenossen in der Wirtschaft: Dem Bürger wird genommen – und wird ihm vordergründig „etwas gegeben“, so kann man sicher sein, dass es ihm von anderer Seite doppelt abgezogen wird.

Die menschliche Existenz – auch im humanistischen Sinne – wird weltweit massiv attackiert, dank der Medien- und Werbearbeit geschützt von einem bunten, geilen Tuch, so dass die Menschen sich gewöhnen und es „sich gefallen lassen“.

Angesichts dieser bedrohlichen Doppelspitze werden kritisches Bewusstsein und die Fähigkeit, genau zu differenzieren und wahrzunehmen, was vor sich geht, zwangsläufig zum Überlebensfaktor: Entweder man lässt sich politisch einseifen, oder man bleibt seinen eigenen Gefühlen treu und schaut, was man tun kann. Gegenwärtig bleibt nicht viel zu tun übrig, weil ja alles so gut für uns, die Bürger, organisiert ist und jeder Versuch, etwas zu ändern, im Sande verläuft. Ein Fakt, der in der offiziellen Darstellung eines modernen, demokratischen Deutschland freilich nicht durchschimmern darf. Und so ruft die Politik dazu auf, selbst etwas zu tun − selbstverständlich in dem (beruhigenden) Wissen, dass der Bürger sich sowieso weder vorwärts noch rückwärts bewegen kann.

Geist wird in dem Moment machtvoll, wenn er benennt, was nicht benannt werden soll: Das, was in diesem Land und in der westlichen Welt der vermeintlich endlosen Tabubrüche und Tabufreiheit tabuisiert bleiben soll. Jedes gesellschaftliche Tabu hat eine Kultur erhaltende Funktion. Sie regeln das Zusammenleben. Daher ist das Bewusstsein des Menschen für Tabus und Tabubrüche äußerst sensibel, weil es bei Tabubrüchen immer um Leben und Tod ging – und geht. Tabus regeln das Miteinander in Kulturen – werden diese Regeln, die zum Schutz des Funktionieren der Gemeinschaft errichtet werden, von einzelnen Mitgliedern missachtet, werden sie bestraft bzw. ausgeschlossen. Der Ausschluss oder die Bestrafung Einzelner ist kleiner als das Übel, wenn die Gemeinschaft zusammenbräche. Da die Wettbewerbsgesellschaft im Kapitalismus davon lebt, Gewinne zu erzielen, indem einzelne Mitglieder (oder Manager) wiederholt Regeln und Konventionen moralischer und ethischer Natur verletzen und erst, wenn sie erwischt werden, Regeln eventuell neu festgelegt und die betreffenden Regel- oder Tabuverletzer bestraft oder ausgeschlossen werden, wurden in allen das Gemeinschaftsleben regelnden moralischen und ethischen Bereichen Tabus bis zur Unkenntlichkeit entschärft: Der Kapitalismus zersetzte jeden menschlichen Bereich. Jeder Mensch hat Opfer zu bringen. Sie werden als das kleinere Übel deklariert. Unzählige Übel in der Kultur häuften sich in jeder Hinsicht an und lassen sich in der Spitze so zusammenfassen: Es ist das kleinere Übel, dass Millionen von Menschen Angst um ihre Existenz haben und viele sie bereits verloren haben statt sich mit dem Übel im System des Kapitalismus zu beschäftigen. Oder: Es ist besser, dass Millionen Menschen hungern statt dass Manager weniger Geld verdienen und eindeutige Berufsgrenzen gesetzt bekommen, die Menschen in vielerlei Hinsicht nicht schädigen dürfen. Alles, was sich kapitalisieren lässt, wird zu Geld gemacht, ob in sexueller Hinsicht mittels jeder noch so abartigen Perversion und/oder Kinderpornografie. Oder in Filmen und Darstellungen, die mit drastischen Gewaltszenen durchsetzt sind. Oder generell durch den Werbeterror und den gezielten und kontinuierlichen Unterbrechungen menschlicher Wahrnehmung, um Verkaufszahlen zu fördern: Selbst bei Kindern. Darauf werde ich noch an anderer Stelle zu sprechen kommen. Oder, dass Menschen den Halt verlieren, weil ständige Veränderungen von Tarifen, Arbeitsbedingungen, Gesetzesinhalten vorgenommen werden, um noch ein paar Cent einsparen zu können. Die Wettbewerbsprinzipien, die von irrsinnig gut bezahlten Managern erdacht werden, hetzen Menschen wie die Tiere in existenzielle Engen, denen sie zu entkommen trachten. Die hier aufgezählten „Übel“ sind alle samt die kleineren Übel neben dem großen Übel der Kapitalgier derjenigen, die sich für die Befriedigung der ureigenen systematischen Gier des Kapitalismus verdingen und selbst verkaufen.

Insofern sind die Formulierungen von Regeln oder Tabus für eine Kultur oder für die entstehende globale und weltweite Kultur aller Menschen gegenwärtig absolut dringend und vorrangig! Es geht um das Sein oder Nichtsein von vielen Millionen Menschen. Es fehlt ein Tabu, das verbietet, das menschliche Wesen für Kapital und/oder Macht zu opfern. Da diejenigen in dieser Welt Macht haben, die das Geld haben, sieht es sehr schlecht mit Entwürfen für eine am Menschen orientierten Welt aus. Bezüglich der Bankenkrise im Oktober 2008 liest man als Überschrift: „Banker ohne Reue.“ (Mark Schieritz, 2008, Titelseite)

In unserer Wettbewerbskultur wird eine Freiheit propagiert, die über alle Grenzen hinausgeht: Da die gewachsenen und unterschiedlichen Kulturen weltweit durch den Wettbewerb zerstört werden und höchstens noch kunsthistorisch, künstlerisch, geschichtlich und von touristischem Wert sind, muss ein Tabu nach dem anderen gebrochen werden. Zugunsten von Verkaufszahlen und Gewinnen. Tabus stehen in einem Kanon von Regeln, Handlungsanweisungen und Gefühlen, die den Bestand der Kultur sicherstellen, wie ich oben ausführte. Nun legen Menschen ihre inneren Regeln keineswegs so schnell und folgenlos ab, wie die Ökonomisten es gern hätten. Vielmehr leben sie in den Empfindungen des einzelnen Menschen weiter – ebenso wie Tabubrüche, die bestenfalls innerlich verkapselt als tiefe Beschämung und im schlimmsten Falle als tiefe Angst ihre psychische Repräsentanz behalten. So behalten innere Regeln ihre psychischen Wirkungen auch in der Gegenwart, nur stehen keine Rituale zur Abwehr böser Geister mehr zur Verfügung.

Dafür gibt es Flächen wie Bewusstsein abdeckend nun ausschließlich einen Ersatz: den ökonomischen Geist. Er regelt nach klaren Maßstäben Anforderungsprofile, Ausbildungsniveaus, Kontenhöhen, Kleidermarken, Rechtssprechungen usw. Damit ist alles erlaubt. Nur die kapitalistischen Besitzverhältnisse sind unantastbar. Das Kapital ist unantastbar. Auf den höheren Rängen geht es allein um Geld – und diese Gier wird freilich in süßesten Tönen der Sirenen zelebriert, denen man bitte nicht anhören möge, dass man noch nicht genug hat und die Falschheit des Gesanges nicht erkennen möge. Der Bürger soll im Labyrinth der Verkehrungen blind gefangen bleiben. Er soll glauben, er könne in die höheren Hallen des gesellschaftlichen Oben über einfache Stufen gelangen. Nicht sofort ist ersichtlich, dass diese Stufen so gepfadet sind, dass sie zwar unter Umständen die Eingangstüren noch mittels niedrigsten Kapitalniveaus, z. B. staatlich gefördert, passieren können. Aber schon im Schritt auf die nächste Stufe zu, zeigt sich, dass das Ticket, das Einlass gewähren sollte, doch nicht das richtige war und der Kredit nicht mehr ausreicht. Aber immerhin, der Bürger war abgelenkt, hat sich einen Kredit besorgt, um im Existenzkampf zu bestehen – und die Wirtschaft wie die Banken verdienen auch an Pleiten.

Denn mit Pleiten vollendet sich der Kreiskauf: Das Feuerrad, das mit einer zündenden Idee in Brand gesteckt wurde und so verheißungsvoll startete, ist für den Bürger dann spätestens ausgebrannt, wenn er pleite ist und abzahlen kann. Er zahlt nun für die gute Idee im System, die Banken ihm finanzierten und möglicherweise Politiker ihm nahelegten.

Um das in einem Land und seinen Bürgern zu erreichen darf selbstverständlich niemals die Wahrheit ans Licht kommen. Nietzsche bezeichnete dies als den höchsten Tabubruch. Ergo hat man in unseren sozialpolitischen Zusammenhängen alles anders darzustellen, als es sich in Wahrheit verhält.

Der kapitalistische Geist hat die Welt in einer Art und Weise verändert, wie viele Menschen es nicht glauben woll(t)en. Nun erleben sie es. Das, was Karl Marx analysierte und wovor er warnte, ist verwirklicht. Jegliche Warnung und Empfehlung wurde in den Wind geschlagen. Die Revolution, die Angleichung von Besitzverhältnissen, wurde umschifft. Nun beginnt sich beispielsweise die Energiewirtschaft tatsächlich mit den Windrädern zu retten, die sie einst bekämpfte und abwertete, ja lächerlich machte. Atomkraftgegner wurden mit Polizeigewalt bekämpft und kriminalisiert – bis man nun gezwungenen ist, nach Alternativen zur Atomkraft zu suchen und die Energiequellen aufzugreifen, für die sich damalig die Demonstranten einsetzten. Derweil hat die Energiewirtschaft viel Geld verdient – und wie es scheint, werden Preisabsprachen nun ein Fall für das Kartellamt (November 2007). Die Triebfeder des Kapitalismus heißt Konkurrenz und, modern und amerikanisiert, Wettbewerb, der auch demjenigen eine Chance gewähren soll(te), der eigentlich keine hat(te). So wurde der deutsche Kapitalismus im dritten Reich nach dem Krieg mittels der Antikartellgesetze dezentralisiert. Passend zur weltweiten Zentrierung von Geld und Macht wurden auch in Deutschland die Kartellgesetze dem globalen Markt angepasst. Beispiel: „Der Dachverband der Verbraucherzentralen (vzbv) forderte die Zerschlagung der Stromkonzerne, um für Wettbewerb und niedrige Preise zu sorgen. Es gebe auf dem deutschen Strom- und Gasmarkt viele „strukturelle und verhaltensbedingte Wettbewerbsbeschränkungen“, heißt es im Bericht der Monopolkommission. Stromerzeugung und Gasangebot seien auf wenige Unternehmen konzentriert, dazu kämen „vielfältige“ Verflechtungen der marktbestimmenden Betreiber der Strom- und Gasnetze.“ Als besonders kritisch sieht die Monopolkommission die Beteiligung der vier größten Energieanbieter E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW an Stadtwerken und anderen kleineren Versorgern an.

(Vgl. WR, 7.11.2007)

Nebenbei gesagt, bleibt Vattenfall seiner bekannten Kommunikationsstrategie treu: „Seit Wochen versucht der Energieriese Vattenfall sich mit einer gigantischen Marketingkampagne grünzuwaschen. Mit dem irreführenden Titel Klimaunterschrift stellt er sich europaweit als besorgter Konzern dar, dem Klimaschutz besonders wichtig ist. Trotzdem steckt Vattenfall Milliarden in den Bau klimaschädlicher Kohlekraftwerke. Lassen Sie sich nicht verkohlen!“ (Mit Vattenfall ins Klimachaos: http://.klimaunterschrift-vattenfall.de/)


Aber es kann auch noch an weiteren Hebeln im Kapitalismus zur Steigerung der Profite gedreht werden. Wie in einem anderen Energiebereich wie die des Öls gerade verfolgt werden kann. Gegenwärtig kostet ein Liter Benzin ca. 1,46 und Diesel 1,33 Euro. Barbara Meyer-Bukow vom Mineralölwirtschaftsverband in Hamburg schiebt den Schwarzen Peter den Spekulanten zu: „Man hat den Eindruck“, so Meyer-Bukow, „dass sich Broker und Fondgesellschaften die 100 Dollar-Marke geradezu zum Ziel gesetzt haben, das es jetzt zu erreichen gilt.“ (WR, 8.11.2007) Ein prognostiziertes ungebremstes Wachstum des Weltenergieverbrauchs bei gleichzeitiger Beschränktheit der Ölreserven bringt Angebotsengpässe bis 2015 hervor, die weitere Erhöhungen von Ölpreisen auslösen können, wie die Internationale Energie Agentur aus ihrer Verbrauchsprognose schließt. (Vgl.: WR, Titelseite: Mineralölkonzerne machen Kasse 8.11.2007)

Daraus ist zu schließen, Gesetze werden im Kapitalismus nicht als Grenze zum Schutz menschlicher und sozialpolitischer Entwicklungsmöglichkeiten verstanden, sondern als wettbewerbsträchtige Herausforderung zur Nutzung eigener Profitvorteile. Missgunst und Gier gehen einher mit präzisem Konkurrenzverhalten im nationalen und international freien Wettbewerb und beschreiben seinen Wesenskern. So, wie der Kapitalismus ist, so sollen alle Menschen sein: Ökonomisiert, geizig und geil. Kurz und präzise: Menschen werden danach eingestuft, ob sie die Nachfrage der Teilfertigkeiten im kapitalistischen Markt bedienen können oder nicht – und ob sie bezahlen können, was sie einkaufen. Da sie was zum Essen, zum Wohnen und Leben brauchen und der weltweite Markt auf Käufer angewiesen ist, muss dafür gesorgt werden, dass sie auch Geld zum Einkauf haben. À la: Stell dir vor, wir können alles anbieten und keiner kauft es! Das haben aber viele besitzlose Menschen nicht mehr – also werden Kredite aufgenommen. Kurz sei ein aktueller Blick auf dieses Thema in Deutschland vom 8. November 2007 eingeschoben: Zur Mittelschicht zählen sich nach subjektivem Empfinden 60 % der Bevölkerung, wie in einem Artikel in der Westfälischen Rundschau von Andreas Böhme unter obigem Datum mitgeteilt wird.

Am Beispiel einer vierköpfigen Familie mit monatlichem Nettoeinkommen von 3.500 Euro wird die Unmöglichkeit des Sparens, was vor einigen Jahren noch möglich war, aufgezeigt. Realität ist im Gegenteil die zunehmende Angst zu verarmen, weil das Geld nicht mehr bei den steigenden Preisen reicht: „Die Angst vor der Armut ist von den Rändern der Gesellschaft zur Mitte gewandert“, wird der Soziologe Ulrich Beck (München) im Artikel zitiert. Ebenso wie das Institut für Wirtschaftsforschung (Berlin) zitiert wird und mitteilt, dass die Mittelschicht über ein Pro-Kopf-Einkommen von jährlich 16.450 Euro netto aufwärts (2005) verfüge. Dies würde ein monatliches Nettoeinkommen von 1.370 Euro pro Person festlegen. Wenn dem so wäre, fiele die von Herrn Böhme ausgewählte vierköpfige Familie mit einem monatlichen Einkommen von 3.500 Euro schon aus der Einsortierung zur Mittelschicht heraus: Dann müsste diese Familie 5.483,34 Euro im Monat zur Verfügung haben müssen – und zwar im Jahre 2005. Es fehlen also 1.983,34 Euro monatlich für die Einstufung zur Mittelschicht – oder muss man bei einer vierköpfigen Familie die Köpfe der Kinder nicht mit zählen? Kinder ernährt man mal eben nebenher und kosten nichts, wie es früher mal hieß: „Ein Esser mehr oder weniger, darauf kommt’s nicht an!“ Wenn in der Tat nur die Köpfe der Erwachsenen zählten, dann schwämme die Musterfamilie freilich noch fett in der deutschen, durchschnittlichen Mittelschichtberechnung oben: Dann bräuchte sie nur „2741,67 Euro“ im Monat an Gesamtnettoeinkommen statt der 3.500 Euro aufweisen, um noch „drin“ zu sein. Dann hätte allerdings die Musterfamilie seit 2005 entweder bereits Kredite aufgenommen oder wäre aus dem gemieteten Einfamilienhaus mit einer monatlichen Miete von 560 Euro – die ich im Übrigen nicht für realistisch halte und doppelt so hoch sein dürfte – ausgezogen. Oder hätte das Auto abgeschafft. Oder hätten die Eltern die Kinder animiert, statt Abitur und Studium anzustreben, lieber bei einem Lehrangebot zuzugreifen und generell Secondhand-Kleidung zu tragen. Urlaub käme generell nicht mehr in Frage – da fährt man an den nahe gelegenen See und setzt sich auf die Bank.

Da die Preise inzwischen seit 2005 weiter gestiegen sind, sieht es heute für die vierköpfige Familie noch miserabler aus – vermutlich haben sie schon einen Kredit aufgenommen, zahlen zusätzlich monatlich daran ab und befinden sich im freien, schleichenden Fall nach Unten. Warum benennt Herr Böhme diese Berechnung nicht? Es reicht nicht, zu zitieren, dass nichts Unvorhergesehenes in mittelständischen Familien passieren darf und das acht Jahre alte Auto noch halten muss! Offenbar werden Einkommensstufen in Deutschland noch mit zur Mittelschicht gezählt, die schon rechnerisch nicht mehr der offiziellen Mittelschicht seit 2005 zugezählt werden dürften. In Deutschland reicht es scheinbar nicht mehr, Preisvergleiche und Angebote von irgendwelchen Handyanbietern, Energiekonzernen oder sonstigen Firmen mit dem Taschenrechner berechnet zu vergleichen – nein, wenn man Zeitung liest, braucht man den Taschenrechner, um zu errechnen, was der Autor durch diesen Artikel eigentlich mitteilen wollte: Es nützt nichts, sich „gefühlsmäßig“ noch der Mittelschicht zuzuzählen und zu beten, dass man keine Neuanschaffung tätigen muss und deshalb noch keinen Kredit aufnehmen muss(te) und ebenso deshalb an allen Ecken und Kanten auf alles ehemals Mögliche zu verzichten hat. Realiter nutzt nur, die Gefühle genau da zu verorten, wo sie täglich neu entstehen und wie sie täglich gelebt werden müssen, um damit, mit dieser Erfahrung, die eigene Position in der Gesellschaft festzustellen – und die medienwirksame Brille „Geiz ist geil“ abzulegen, die diesem Leben noch eine sportliche Wettbewerbsnote, es dennoch zu schaffen, „drin“ (in der Mittelschicht) zu bleiben, verleiht. Wie bleibt er drin? Ein Beispiel:

2011 während des Sommers sind an bestimmten Tagen die Tankstellen völlig überlaufen, weil der Benzinpreis herabgesetzt ist - und der Bürger stellt sich mit seinem Auto wie zu DDR-Zeiten für Apfelsinen geduldig in die Warteschlange, bis er für ein paar Cent weniger pro Liter seinen Tank volltanken kann... Der Bürger wird erzogen, dirigiert und getrimmt auf wirtschaftliche Entscheidungen, die seinen Lebensalltag strukturieren.

Insofern sind die Prinzipien des internationalen Konkurrenzkampfes eines „Geiz ist geil – Slogan“ in jeden „privaten“ Haushalt getragen worden – obgleich die Voraussetzungen im Oben und Unten völlig ungleich sind. Der Mittelständler ist solange mit „drin“, wie er Rücklagen hat. Hat er sie nicht mehr, ist er raus. Es nützt den Menschen nicht viel, wie die Unternehmer im Rahmen der Globalisierung nur für ihren eigenen Vorteil zu kämpfen, zu geizen und zu geilen und über alle menschlichen Grenzen zu gehen: Unten wird um die Existenz gespielt und gekämpft und Oben um Profitraten. Oben hat kein Interesse am Erhalt der Mittelschicht: Sie soll nur alles, was sie sich erspart hat, im Markt umsetzen, damit sie Gewinne machen können. Insofern sind mittelständische Privathaushalte schon vor Jahren als Käuferschicht kalkuliert, berechnet und ausgerechnet worden: Wie lange halten sie durch, wann sind sie „platt“, wann muss die Politik reagieren (wie mit Entschuldungsregelungen) – wie führt man die 60 % Mittelschicht langsam aber sicher nach Unten und macht es ihnen schmackhaft, das Leben dort als erstrebens- und lebenswert anzunehmen: Wie weckt man den Kampfgeist der Mittelschicht, dass sie ideologisch nicht abtrünnig werden und trotzdem weiterhin für die Profite der Besitzenden Oben in ihrem privaten Leben kämpfen – und wie macht man sie glauben, dass sie selbst schuld sind, wenn sie dieses Programm nicht absolvieren konnten – und dann genau da landen, wo sie nicht hin wollten?! Wie sieht das deutsche sozialpolitische Auffang- und Legitimationsprogramm der geizig-geilen global unsere Welt besetzenden und besitzenden kapitalistischen Profitgeier aus – wie sollen zukünftig 80 % der Menschen in Deutschland getröstet werden, die für diese Wirtschaft und für diese Politik alles gegeben haben, was sie konnten?

Am Verhalten der Familie Wirtz, einer Familie, die an 36. Stelle der reichsten Familien Deutschlands steht, und denen die Firma Grünwald in Berlin gehört und das Mittel Contergan in den sechziger Jahren auf den Markt brachte, lässt sich ablesen, wie mit sozialer Verantwortung in der Gegenwart umgegangen wird: Der Enkel des Gründers und nun Firmenchef Wirtz ging in einen Rechtsstreit mit dem Filmemacher Adolf Winkelmann: Der Film „Contergan“ sollte nicht gezeigt werden. Wirtz und seine Familie denken offenbar seit zehn Jahren darüber nach, wie er, und ob er und in welcher Form er sich an Renten der durch Contergan geschädigten Menschen beteiligen soll. Schließlich gab es ja ein Urteil: Das Unternehmen zahlte 100 Millionen Mark – und die waren zusammen mit den 220 Millionen Mark des deutschen Staates 1997 aufgebraucht. Nun zahlt der Steuerzahler, also wir, die Renten in Höhe von ca. 570 Euro monatlich für jeden Contergan geschädigten Menschen. Wirtz will noch nicht einmal öffentlich darüber sprechen. Die verursachende Firma ist sozial abgesichert, die Geschädigten werden notdürftig versorgt und die Bürger zahlen die Rente anstelle und für Unternehmen. Diese Zusammenhänge wurden in der Diskussion „Hart aber Fair“ im Anschluss an den Film von Adolf Winkelmann verdeutlicht. Die Wirtschaft ist nur für Profite verantwortlich und tritt nicht in sozial angemessener Form für Folgen des Wettbewerbs ein?

Am 26.7.2010, also 13 Jahre später, ist in der Presse nachzulesen, die Conterganopfer hätten eine bundesweite Kampagne „zum Boykott von Produkten der Dalli-Gruppe gestartet.“(Ruhr Nachrichten 26.7.2010) Sie richtet sich gegen die Unternehmer-Familie Wirtz, der auch der Pharmakonzern und frühere Conterganhersteller Grünenthal gehört. Mit Flugblättern forderten die Opfer Kunden vor dem Werksverkauf in Stolberg zum Kauf-Boykott von Waschmitteln und Parfüms auf. ‚Wir fordern von der Familie Wirtz, dass sie mit ihrem Firmenkonsortium den Gesamtschaden von acht Milliarden Euro ersetzt’, stellten zwei Opferverbände fest.’“ (Ruhr Nachrichten: „Conterganopfer starten Boykott.“ 27.7.2010)

Im Prinzip glauben Menschen erst dann etwas wirklich, wenn sie es gesehen und/oder gefühlt, erlebt und /oder erlitten haben – und, alles gemacht haben, um zu verhindern, was ihnen bereits jahrelang Angst einjagte. „Ein Bündel Ruten bricht man Einzeln“, wie es in obigem Film hieß – jeder wird in seinem eigenen Leben gebrochen. Und Kapitalismus hat eine reflexionswürdige Ideologie – ganz im Gegensatz dazu, wie es gern dargestellt wird: Wettbewerb sei gerecht – jeder hat die gleiche Chance. Er ist penetrierend, lässt seine Anhänger glauben, es ginge um den Erhalt von Menschen und Leben, erzeugt aber faustisch das Gegenteil: Zerstörung. Ja, Kapitalismus propagiert sogar Ideologiefreiheit – ebenso wie der oben ausführlich reflektierte Slogan „Du bist Deutschland“.

Am Ende des Jahres 2007 gibt es eine neue Variante: Die Grundaussage der Verdummung gegen die „Wir sind Deutschland-Anhänger“ sympathisch reizend und verkehrend: Eine riesige Anzeige mit bunten, kleinen Ikea-Spielecke-Bällen als Hintergrund auf der einen DIN-A3-Seite und auf der anderen in den Bällen sitzend ein kleiner Junge, von dem nur die Arme und Haare aus dem Berg der Bälle hervorlugen. Auf der rechte Seite schwarz auf weiß und riesig gedruckt:

Du glaubst noch an den Weihnachtsmann.

Der bringt braven Kindern wie dir tausendmillionentrillionen Geschenke.

Die Zahnfee gibt es auch: Die kommt nachts und kauft deine ausgefallenen Milchzähne.

Und der Osterhase ist ein Kumpel von dir.

Der plant gerade ein Ostern im Herbst.

Zumindest erzählst du uns das.

Hier wird offen der Erwachsene als der Dumme angesprochen, und das Kind erscheint als der Wissende. Wer von den Eltern hätte dieses Wissen über den Weihnachtsmann und die übrige Gefolgschaft nicht seinen Kindern erzählt! Ohne diesen Spruch nun in der Tiefe auszuloten sei lediglich festgehalten, dass der Leser als „Du glaubst noch an den Weihnachtsmann“ angesprochen wird. Aber eigentlich handelt es sich um eine Kommunikationsstruktur zwischen dem Jungen, der den Erwachsenen anspricht: Die Bälle des Inhaltes des Textes werden hin- und hergegeben – und reichen über den auf den beiden Seiten entsponnenen Dialog als Persiflage auch in den politischen Verhaltensdialog zwischen Oben und Unten hinein: Es wird ausgesprochen, was an Bedeutsamkeit oder Kritik an dem Spruch „Du bist Deutschland“ vorgebracht werden könnte – und mit der Nennung ausradiert, gelöscht: Dann kann man den Spruch auch wieder annehmen! Und weiter machen wie bisher.

Doch wer von den Bürgern in Deutschland glaubt denn nicht an den Weihnachtsmann – in Form des Kapitalismus in einem demokratischen Land? Ein Kapitalismus, der wie ein Schokoladentrüffel daherkommt, zart schmelzend, verführend und vorführend von anderen, was man alles haben könnte, wenn..., ja, wenn man genügend Geld hätte! Also gibt es ihn doch, den Weihnachtsmann: Die Hoffnung wird aufrechterhalten, es gäbe eine gute Wende für alle. Aber so wenig die leckersten Trüffel für alle sind, so wenig ist der Kapitalismus in seiner jetzigen Form für alle gut!

Ein humanistischer Geist ist deshalb im Sinne von sinnlich überschäumend, nicht zu zähmen, präzise fühlend und penetrierend besonders geil, weil er sich von diesem kapitalistischen Tabu „Rühre den Kapitalismus nicht in seiner Wurzel an“ nicht beirren lässt: Das Bewusstsein bleibt. Der Kapitalismus hat einen eisigen Kern, der sich mit Mensch und Leben nicht verträgt. Denn der Instinkt – der warme menschliche Kern mit phönixartigen Wesen – bleibt und steht dem Einzelnen als potenzielle Kraftquelle zur Verfügung. Der Wille zum Leben bleibt. Wahrheit wird fühlbar und für jeden einsehbar und ablesbar, wenn der Mensch seinen Instinkt zur Einschätzung seiner Lebensumstände zu Grunde legt und zu Rate zieht. Wenn er seinen Gefühlen traut – statt den ideologischen Auswüchsen und Slogans im Kapitalismus, wie sie es sehen sollen!

Der einzige Ausweg für den Bürger ist die Schaffung von Bewusstsein über diese kulturelle Lage und den selbsttreuen Erhalt eigener Gefühle. Gefühle müssen wieder in den Dienst von Leben, Mensch und gesunder Wirtschaft gestellt werden.

Denn Gefühl wie Instinkt dienen der Existenzsicherung. Insofern muss Geist begeistern und emotional Scheintote zum Leben erwecken. So, wie die Welt gerade von der folgenden Botschaft aus Kenia überrascht wurde: Von den Frauen eines Dorfes in Kenia, die geschlossen ihre Männer verließen, die Kinder mitnahmen und ein eigenes Dorf gründeten – eine zweifelsfrei emotionale Reaktion auf ständige Demütigung, Schläge und Abwertung – mit wahrhaft revolutionärer Wirkung. Es sind Samburu-Frauen, die mit Perlen ähnlich geschickt umgehen wie die Massai und damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Obwohl Samburu-Frauen traditionell durch ihre Ehe zum Besitz ihrer Männer werden, haben sie ihre Männer verlassen. Sie leben seit 7 Jahren in Umoja, dem einzigen Frauen-Dorf in ganz Ostafrika. "Umoja" heißt gemeinsam – und die Frauen gehen seit Jahren diesen Weg der Unabhängigkeit in Kenia allein. Der Bericht wurde im Weltspiegel am 4.11.2007 im Ersten gezeigt. Ihnen geht es nun menschlich und wirtschaftlich viel besser als vorher. So, wie die unabgesprochene Reaktion von gebildeten Frauen in Deutschland, die keine Kinder mehr in diese deutsche Welt in den letzten Jahren setzten – und auf Befragen begründet auch nicht woll(t)en.

Diese beiden letzten Beispiele dienen als Gegenbeispiele von Tabubrüchen, die nicht dem ökonomisierten Geist entspringen. Diese Tabubrüche brechen mit der alten kapitalistischen und patriarchalischen Welt.

Frauen, die nicht mehr bei brutalen, egoistischen und letztlich gefühllosen Männern ihr Leben als Sklavinnen oder Eigentum fristen wollen – und gebildete Frauen, die nicht hoffnungslos in Arbeit und Verantwortung versinken wollen, weil Männer (oder männliches Denken in Frauen) und Gesellschaft um die Nöte und die völlige Überforderung von Frauen gar nicht wirklich wissen, noch angemessen reflektieren, noch wirklich für Abhilfe sorgen wollen!

Ebenso wollen sicherlich besitzlose Menschen nicht weiterhin zusehen, wie Besitzende und deren politische Vertreter sie schamlos in die Irre von Hartz IV oder 1-Euro-Jobs als erstrebenswertem Leben führen wollen. Oder Frauen in zig Doppelbelastungen, die sie letztendlich egal in welcher Hinsicht wieder allein tragen müssen, hineingeraten wollen: Vielleicht so, wie sie es bei ihren (starken) Müttern erlebten, die sie allein, ob alleinerziehend oder in Familien, groß zogen und „nebenbei“ auch noch einen Beruf hatten. Die Zerrissenheit in Frauen aufgrund ständig zunehmender Verantwortung und Anforderung im patriarchalisch geprägten Kapitalismus in Doppel- und Dreifachbelastungen ist grausam – und wird demnächst, wenn die gegenwärtig diskutierten Änderungen im Scheidungsrecht Recht und Gesetz werden soll(t)en, dazu führen, dass dann Frauen weder heiraten, noch Kinder gebären werden: Weil sie nicht sicher sein können, wo sie in ein paar Jahren landen, wenn sie das sozialpolitische Anforderungsprofil, Heirat, Beruf, Kinder gebären, aufziehen und erziehen, Familie leiten und Haushalt führen, glauben nicht erfüllen zu können – zumal am Ende vielleicht eine Scheidung stehen könnte, die in erster Linie die Kinder versorgt. Die Ehefrau und Mutter muss dann selbst sehen, wo sie bleibt: In diesem Leben als Mensch. Sie geht dann für den eigenen existenziellen Unterhalt arbeiten, bewerkstelligt den Haushalt und versorgt ihre Kinder „nebenbei“. Oder sie lebt allein, geht arbeiten und sieht ihre Kinder alle 14 Tage am Wochenende.

Sollen solche Erwägungen, wie hinsichtlich des „neuen Scheidungsrechtes und seiner Konsequenzen“ diskutiert eine Fortsetzung von „Emanzipation“ darstellen?

Erst werden Frauen in Familien völlig kräftemäßig und menschlich ausgesaugt – dann sollen sie nach der Scheidung sehen, wie sie wieder auf die Beine kommen – oder sollen sie während der Ehe auch schon arbeiten gehen, damit sie nicht so eine große Umstellung haben?

Wo ist hier irgendwo in Deutschland ein Gesetz formuliert, dass Männer und Kapital Verantwortung haben für (ihre) Kinder – wenn schon keine menschlich-männliche und zeitliche, so doch zumindest eine finanzielle. Die Zahlen nicht zahlender Väter nach Scheidungen dürften in den letzten Jahren kaum gesunken sein: Da greift der Staat nicht durch! Wo gibt es ein Gesetz, das Männer zu einer Verhaltensänderung zwingt? Die Männer sind doch nicht emanzipiert – sie haben doch Entwicklungsdefizite in Familien- Partner- und Kinderbeziehungen – auch hier trifft der Zusammenhang: Geizig und geil! Wenn Konsequenzen, Verantwortung und finanzielle Verantwortung auf sie warten, sind sie im Nu und im Gros weg! Und, wie eben in diesem Kapitel aufgezeigt, zeigen sie nicht unerhebliche Defizite im Wettbewerb gesteuerten Berufsleben. Ein Standpunkt wie von Eva Herman formuliert, der auf Untersuchungsergebnissen aus Psychologie, Sozialisationsforschung und psychoanalytischen Entwicklungsphasen beruht und auf die Wichtigkeit von Bindungen zwischen Mutter-Kind verweist, der wird „braun“ angestrichen und zusammengestrichen. Welchem Geist folgt denn ein derartiger gesellschaftlicher Diskurs? Im Prinzip spiegelt sich hier wieder eine typische Ignoratio-Elenchie-Haltung, wie sie systemimmanent für den Kapitalismus zu Erfolgen geführt hat: Man liegt und lebt voll neben der Sache in Sicherheit mit mehr Geld, Kapital und Macht – und bestimmt, wie die Welt zu funktionieren hat.

So ambivalent und diskussionswürdig der Slogan „Geiz ist geil“ – oder aktuell: „Geiz bleibt geil“ – auch ist, so hat er dennoch auch in einer weiteren Bedeutungsdimension dafür gesorgt, dass eine Vielzahl von Bürgern nicht in Scham versank, als sie realisieren mussten, dass sie nur noch die Hälfte im Portemonnaie hatten. Vor der Euroumstellung hatten es die Deutschen nicht nötig, öffentlich über Geld zu reden: Man hatte es einfach, auch wenn im bescheidenen Umfang. Doch dann sah die Situation plötzlich anders aus. Und mit diesem Werbespruch fühlten sich viele Bürger sicherer und konnten auf der Handlungsebene zeigen, dass sie in den Billigläden einkaufen gehen. Eine bewusste Entscheidung für die „Geizhaltung“. Geiz im Sinne eines bürgerlichen Kaufverhaltens, den Wettbewerb der kämpfenden unternehmerischen Titanen um die Euros im Portemonnaie der Bürger zu würdigen: Wir sind alle geizig! Wir verschenken nichts! Dies bedeutete aber auch, dass man anfing, auf das Geld Acht zu geben – auch wenn es nichts nutzte, wie man heute weiß: Das Geld, die Ersparnisse sind futsch. Und was ist von Politikern und Wirtschaftsfachleuten zu halten, die so eine Entwicklung wie die Währungsumstellung von DM auf Euro nicht voraussahen?

Die Politiker teilten zwar nachträglich ihr Mitgefühl und ihr Bedauern mit – tja, was soll man da noch machen? Rechtfertigte der Geiz-ist-geil-Spruch gar politisches Nichthandeln? Immerhin wurde der breiten Masse ja mitgeteilt, wie man damit umgehen kann.

Die Quelle, aus der heraus etwas kreiert oder getan wird, scheint wichtig zu sein. Hier sind mitunter chamäleonartige Botschaften verpackt, die vielen Herren dienen und in ihrem Sinne so benutzt werden, wie man sie haben möchte. So wirken die bekannten Unbekannten kreativen Geister in der Kultur als kulturelle Stellgrößen des Ökonomismus, damit dem „Oben“ nichts geschieht. Diese ökonomistischen Geister der Kultur ähneln Enki, dem Herrn des Grundwassers und Gestalter des Lebens auf Erden, wie es in den sumerischen Schöpfungsmythen heißt. Enki ist der Gefährte von Enlil, dem Herrn der Welt. Enki baute sich einst seiner Herkunft gemäß im Sumpfgebiet von Euphrat und Tigris einen Tempel, das „Haus des Abgrunds“. Sylvia Brington-Perrera, eine südamerikanische Psychoanalytikerin, sieht die Aufgabe von Enki oder Enkis – den „kleinen kreativen Wesen im Schlamm“ – darin, aus dem, was im Schlamm und im Wasser ist, etwas Neues entstehen zu lassen. Es wird dasjenige zum Leben erweckt, was unbeachtet blieb. Sie benutzt diese Mythologie zur Erläuterung des endgültigen Abschiedsprozesses, wenn Menschen sich in Krisen völlig verausgabt haben oder sich von wichtigen Säulen in ihrem Leben verabschieden mussten. Irgendwann kommen sie auf dem Grund ihrer Seele an und weben sich dann aus dem, was sie vorfinden, etwas Neues. Enkis, die kleinen Helfer, sind es Sylvia Brington-Perrera nach, die diesen seelischen Prozess vorantreiben. Schlamm ist sehr fruchtbar, wie man weiß. Aber er bietet keinen festen Stand und ist von der Zusammensetzung her ein Gemisch aus Erde und Wasser. Wasser steht im psychoanalytischen Verständnis für „Gefühl“. Die kreativen Meister in der Medien- und Werbebranche haben nun tagtäglich mit diesen Prozessen zu tun: Sie müssen einen politischen Auftrag nach „Erde“ und „Wasser“ sortieren, um aus dem diffusen Schlamm herauszugelangen, um ihren Fundus in ihrem Werk ans Tageslicht zu bringen. Dabei müssen die Gefühle derjenigen berührt werden, die laut Auftraggeber erreicht werden müssen, damit es ein Medienerfolg für ihn wird. Der Kapitalismus hat die Medien völlig auf sein Interesse justiert; und sie, die kreativen Geister, sind wirkliche Meister der Manipulation geworden, wie ich anhand der kleinen Analyse zu „Geiz ist geil“ versucht habe aufzuzeigen. Ich glaube, keiner kann länger glauben, man kreiere so einen Spruch aus Jux und Dollerei bzw. lediglich, um die Verkaufszahlen hochschnellen zu lassen. Nein, solche Sprüche haben psychische Nebeneffekte, die weit über das zu verkaufende Produkt hinausreichen. Dies ist eine psychoökonomische Wirkung, die von allen Seiten das System stabilisiert und manipuliert wie es sich selbst offenbart.

Das Leben der letzten zehn Jahre ist in diesem Spruch meisterhaft wie widerlich ekelhaft eingefangen worden – darüber hinaus besitzt er in nuce kapitalistischen Ewigkeitswert. Unsichtbare Verflechtungen vielfältiger Dimensionen kapitalistischer Tätigkeitsfelder mit Zusatz von Gesetzgebung und Rechtsbasis in einem demokratischen Land, konzentrieren sich in ihm und führen für viele Menschen in einen Alltag hinein, als wären sie Teil in einem Schüttelkugelbild: Alles ist nett aufgebaut – und dann kommt jemand von außen, schüttelt ein wenig und bringt alles durcheinander oder es fällt „Schnee“, nicht schön weiß und kuschelig, sondern grau, eiskalt und widerwärtig: Wie schön, dann können Menschen wieder von vorn anfangen, ihr Leben zu durchpflügen, mit dem Ziel erneut alles zusammen zu kratzen und einzusparen, um diese politisch verordneten Notwendigkeiten für die Wirtschaft dann auch noch zu überleben. Wirtschaft und Politik betrachten die Bürger als die wahren Gelderschaffer. Sie nehmen den Menschen noch den letzten Cent. Statt Menschen im positiven Sinne als Sparschweine für eine sich positiv zu entwickelnde Kultur zu betrachten, in die alles hineingesteckt wird, werden die Sparschweine und Reserven der Menschen aus Raffgier in jeder Hinsicht geplündert. Der Terror von Tarifänderungen, Gesetzesänderungen, Preisvergleichen, Hiobsbotschaften über Lohnkürzungen und Honoraren fängt ständig wieder von vorne an: Unser Leben ist in ihm gefangen und fixiert durch gesetzliche Verordnungen und dem Wirken psychoökonomischer Konstanten. Wir können uns ein wenig bewegen, planen – solange man es Oben zulässt. Die Ignoranz gegenüber den Bedürfnissen und Nöten der Menschen ist generell zu konstatieren: Existentielle Notwendigkeiten werden zur Nichtigkeit, ja zum generellen Nichts erklärt. Menschen haben sich an die psychischen Orientierungen zu halten, wie sie gesellschaftlich vorgegeben werden.

„Die Probleme sind so groß, dass sie zwangsläufig Leute und Ideen hervorbringen, die ihnen gewachsen sind,“ wie Nils Miknkmar in „Rückkehr der Linken“ Hegel zitiert. (FAZ, Nr. 23, 12.6.2006, S.33)

Möge sich diese Schlussfolgerung möglichst rasch bewahrheiten. Denn noch ist offen, wann die „breite Masse“ im Dienste des individuellen und gesellschaftlichen Fortbestandes ihre ersten entscheidenden Schritte vollzieht. Wann realisieren sie zum Beispiel, dass sie nicht nur finanziell völlig ausgeblutet werden, sondern zusätzlich gesundheitlich längst nicht mehr optimal versorgt werden? Wie wollen Menschen diese wirtschaftspolitischen Strategien zu Gunsten der Gewinne von Oben durchhalten?

Mit Verlaub, man könnte mit dem Philosophen Heidegger, einem Existenzialisten, sagen: Es nichtet in Deutschland. Das strahlende Licht ist auf die Gewinne fokussiert – das Nichts der Bürger versinkt im Dunkel und wird gegenstandslos für politische Ziele: Es ist niemand da, der es sieht und von der Wurzel her aufgreift. Der Besitzlose versinkt im Nichts. Der Kapitalismus bringt durch diese künstliche Einteilung von Menschen in Besitzende und Besitzlose Künstlichkeit und Entfremdung im Leben von Menschen hervor. Tag und Nacht der gleiche Rhythmus des Lebens auf unserer Erde: Die einen leben im Licht, die anderen werden ins Dunkel von Not und Krankheit geschickt. Zu Weihnachten 2008 sind Steuerbegünstigungen politisch in der Diskussion, die in Einkaufsgutscheinen übersetzt für gute Verkaufzahlen der Wirtschaft sorgen sollen. Da lässt sich doch nur fragen: Wieso verkaufen die Unternehmer nicht mal ihre Immobilienbesitze, die sie von Gewinnen mittels Steuerbegünstigungen finanziert zu ihrem persönlichen Besitz machten? Warum plündern sie nicht ihre fetten, privaten Konten und stecken vorübergehend Kapital in ihre eigenen Firmen, statt nun im Bettelkleid daher zu kommen und den Staat um Geld anzubohren? Bürger verloren ihre Häuser, ihren Arbeitsplatz, ihre Wohnungen, ihr Lebensumfeld und nun sacken ihre Kinder psychosozial und seelisch ab, verlieren ihre Freunde, ihr Umfeld, ihre Gesundheit und ihre Kultur. Begünstigt und mit Licht bedacht, wird nur das, was das Leben Besitzender betrifft und was im Hochsicherheitstrakt der Banken für sie liegt. Wie langweilig: Sollen sie doch behalten, was ihnen statt Menschen am engen Herzen liegt – das ist ihre Entscheidung. Wir aber können etwas anderes tun und anders leben – wie, das wird sich zeigen. Zunächst sind die von Bürgern gezahlten Steuern für kapital- und arbeitslose Menschen und deren Notwendigkeiten zu reservieren und einzusetzen. Die Fähigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden, haben Menschen und damit lässt sich sicherlich wieder etwas schaffen. Auch Menschen in sogenannten Schwellenländern erwachen und setzten sich für ihre Menschen- und Arbeitsrechte ein. Es nützt also nicht mehr viel, den Standort zu verlagern. Das Kapital hat alle Vorteile und jeden ökokulturellen Billigproduktionsvorteil skrupellos ausgenutzt. Die Wirtschaft hat „nur“ das harte oder zerreißbare, nicht essbare Kapital.

Ärzte der Kultur statt Manager in der Kultur - Die heillose Kultur - Band 1.2

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