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Mord im Kruger Busch

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Eigentlich fing alles ganz harmlos als durchschnittlicher Jagdrechtsfall an. Mehrere Jagdpächter hatten ein Revier gepachtet und bejagten es gemeinsam. Wie oft bei derartigen gemeinschaftlichen Unternehmungen – ob sie nun Ehe heissen oder Verein – kam es allmählich zu Zerwürfnissen.

Denn eigentlich ist der Mensch ja von Natur aus kein so richtig geselliges Wesen, sondern trachtet zunächst mal danach, seinen eigenen Nutzen zu mehren. „Der Mensch ist des Menschen Wolf“ – homo homini lupus; diese miese Charakteristik stammt ausgerechnet von einem Komödiendichter, Titus Maccius Plautus (ca 200 v. Ch.) und wurde später von Hobbes abgewandelt. Aber wir wissen, was gemeint ist, und die jüngere Geschichte ist voll von Beispielen.

Ich will das hier gar nicht beklagen, denn ein Teil der Verdienstmöglichkeiten eines Rechtsanwalts beruht ja gerade darauf, oder? Unabhängig davon also, wie richtig oder wie falsch das sein mag – alle menschlichen Zusammenschlüsse haben die Tendenz, sich zu zerstreiten, Ehen zerbrechen angeblich schon an mittig gequetschten Zahnpastatuben.

Auffällig ist das Explosivpontential bei Zusammenschlüssen von Leuten, die gemeinsam ein Jagdrevier betreiben, die also eigentlich eine gemeinsame Passion, eine gemeinsame Liebe einen sollte. Ich bin ein erfahrener Jagdrechtler mit einer jahrelangen Praxis und bin dennoch einigermassen ratlos, wenn ich gefragt werde, wieso sich gerade Jäger immer wieder derart zerstreiten, dass man häufig schon deshalb besorgt sein muss, weil die ja gleichzeitig zu den wenigen Privilegierten gehören, die mit einer Feuerwaffe herumlaufen dürfen. Grüne und Tierschützer machen es sich da natürlich leicht: der Jäger ist ein potentieller Killer ohne Achtung vor dem Leben, vom machtsuggerierenden Phallussymbol des Gewehrs beherrscht, ergo ein Arschloch.

Na ja. Es gibt in der Tat Exemplare der Spezies Weidmann, die dergleichen abstruse Theorie jedenfalls nicht a priori als bescheuert erscheinen lassen, aber tatsächlich ist die Sache dann doch erheblich diffiziler. Natürlich spielt ein bisschen Machotum mit, auch ein bisschen Beuteneid, auch Dominanzgehabe, manchmal etwas Aufgeblasenheit – aber im Grossen und Ganzen sind Jäger Naturfreunde, Tierschützer, ausgeglichene Charaktere, und rundherum vernünftige Leute.

Glaubt zwar kaum einer, aber ich bin der schlagende Beweis, oder?

Der Fall, zu dem diese langatmige Vorrede den Leser hinführen soll, zeigt die merkwürdige Gemengelage, die im Jagdbetrieb entstehen kann. Ein Mandant, nennen wir ihn Friedhelm O., erscheint eines Tages in meiner Kanzlei und bittet, ihn gegen seine Mitjäger bezw. seine Jagdgenossenschaft zu vertreten. Denn die letztere habe ihm aufgrund einer Intrige der ersteren seinen Jagdpachtvertrag fristlos gekündigt; er läuft Gefahr, sein Jagdrevier zu verlieren.

Hier höre ich zum ersten Male den Ausdruck „Kruger Busch“, ein Jagdrevier im Nordosten von Brandenburg und eines der schönsten im Lande.

Das ist also nicht etwa ein Gebüsch im afrikanischen Krüger Nationalpark, sondern ein Waldgebiet, das zum gemeinschaftlichen Jagdbezirk Kruge/Gersdorf gehört. Der Mandant nun war einer von mehreren Jägern, der in diesem schönen Jagdbezirk als einer der Jagdpächter das Privileg hatte, gerade den Teil zu bejagen, der eben Kruger Busch genannt wird – ein Gebiet, in dem es ein hervorragendes Aufkommen an Rotwild und Schwarzwild, zu bürgerdeutsch Hirsch und Wildschwein, gab und gibt.

Das Mandat war mir gleich sympathisch, denn die Gemarkungen Kruge und Gersdorf waren mir wohlbekannt.

Kruge, ein mehr als 700 Jahre alter Rittersitz, war seit 1800 etwa bis 1945 das Gut meines Onkels von Trotha, und ich habe während des Krieges dort eine wunderbare Zeit mit meinen Cousinen Putzi und Mädi verbracht, bis die Verwandten vor den Russen nach Bad Godesberg flohen. In Gersdorf, mit dem sich Kruge 1960 zusammenschloss, ging ich ein Jahr lang zur Schule und sang jeden Morgen die Brandenburger Nationalhymmne „Steige hoch Du roter Adler…“, der bekanntlich gar kein Adler ist, sondern ein roter Milan.

Zurück zum Fall. Ein Mitglied der Jagdgesellschaft, die dort jagen durfte, war aus mehreren Gründen erpicht darauf, meinen neuen Mandanten aus dieser Gesellschaft auszubooten, und zwar im kollusiven Zusammenwirken mit dem Jagdvorsteher, einem Herrn H..

Zum Verständnis jagdrechtlicher Laien:

Alle Grundstücke einer Gemeinde, die nicht zu einer Eigenjagd (einer privaten Jagd) gehören, bilden kraft Gesetzes den sog. Gemeinschaftlichen Jagdbezirk dieser Gemeinde, hier Kruge-Gersdorf. Alle Eigentümer von land- forst- oder fischereiwirtschaftlichen Flächen dieser Gemeinde bilden kraft Gesetzes eine Körperschaft öffentlichen Rechts, die Jagdgenossenschaft. Diese wählt sich einen Vorstand und verpachtet dann das Jagdausübungsrecht - gemeinhin halt: die Jagd – an einen oder mehrere Jäger, die dann eine Jagdgesellschaft bilden.

Nach jahrelangem mehr oder minder Friede-Freude-Eierkuchen-Jagen der Jäger von Kruge/Gersdorf, von Eifersüchteleien eines Herrn F., einer der Jagdpächter, wegen des schönen Jagdbezirks des Friedhelm O. mal abgesehen, erschien eines Tages ein etwas unangenehmer aber einigermassen betuchter Herr aus, wie es damals hiess, „Westdeutschland“, also ein sogenannter Wessi. Der hatte plötzlich, wahrscheinlich durch F. „aufgemüdet“, wie der Jäger sagt, ein gewaltiges Interesse daran, nicht nur Mitglied der Jagdpächtergesellschaft zu werden, sondern anstelle meines Mandanten den Kruger Busch, das jagdliche Herzstück der Jagd, dauerhaft zugewiesen zu erhalten.

Der Herr Jagdvorsteher H. versammelte sich sofort hinter dem, denn er besass in der Gemarkung in älteres und bis dato unverkäufliches Haus, welches der Wessi ihm zu gutem Preis abzukaufen versprach, wenn man für ihn meinen Mandanten loswerde. Auch dem Mitpächter F., der beruflich ziemlich in der Luft hing, wurden lukrative Versprechungen gemacht. Der sah sich schon als reicher Mann.

So begann man, O. aus der Jagd „herauszumobben“. Jedenfalls versuchte man das und erfand allerlei Verfehlungen von O. und liess ihn abmahnen und schliesslich erteilte ihm der Jagdvorsteher H. erst eine und dann weitere fristlose Kündigungen des Jagdpachtvertrages und behinderte ihn bei der Jagd und, wie gesagt, mobbte und belästigte ihn wo immer möglich. Da aber brachte O. mich als seinen Anwalt in´s Spiel.

Ich will mich nicht zu sehr aufblasen, aber, halten zu Gnaden, es kam, wie es kommen musste: Ich griff die Kündiung vor dem Amtsgericht Bad Freienwalde an, die Gegenseite versuchte alle möglichen Tricks bis hin zu Meineidszeugen und Prozessbetrug, was man allerdings können muss, sonst geht es nach hinten los; die konnten es nicht, und es ging! O. gewann wie das heisse Messer durch die Butter. F liess noch im Gerichtssaal verlauten, in der zweiten Instanz werde ihr Anwalt mir mal zeigen, wo der Hammer hängt!

Ich schon verängstigt.

Die gehen in die Berufung, und was soll ich Euch sagen: verlieren krachend auch vor dem Landgericht in Frankfurt/Oder.

Im Rausgehen sagt F. zu meinem Mandanten, er solle sich diesen Tag gut merken, denn man werde ab heute nicht eher Ruhe geben, „als bis der O. unter 1 m Erde liege!“ Ich höre das, nehme derartige dusselige Ankündigungen aber selbstredend nicht für voll.

Wir trinken im Oderturm noch ein Bier auf den Sieg, aber mein Mandant O. ist voller dunkler Ahnungen und sagt, er nehme die Drohung sehr ernst, und wie er sich schützen solle usw. Ich, ehrlich gesagt, lache ihn aus und sage, alle die, denen solche Maulhelden öffentlich mit Vergeltung drohen würden, führen immer noch Rad, und was dergleichen kluge Sprüche mehr sind. Mein Mandant bleibt melancholisch.

Wie Sie auch in dem Kapitel „Ein Gasthaus brennt“ nachlesen können, kam O. wenige Wochen später völlig aufgelöst auf unserem Hof an, in Tränen gebadet und mit den Nerven am Ende.

Warum das?

O. lud jedes Jahr mehrmals Jagdgäste ein, bei ihm auf Hirsch, Rehbock und Schwein zu weidwerken. Die setzte er nur in dem für ihn reservierten Teil des „Kruger Busch“ an, zu dem kein anderes Mitglied der Pächtergesellschaft Zutritt hatte. Wie jedermann seit Jahren – was sag´ ich, seit Jahrzehnten, wusste, so auch F. – pflegte O. seine Jagdgäste ausnahmslos bis zu ihrem jeweiligen Hochsitz zu führen, er leise vorneweg, der Jagdgast hinterher. Niemals, echt niemals hatte er von dieser Angewohnheit eine Ausnahme gemacht, nicht mal in der DDR bei der Führung von Grosskopfeten.

Kurze Zeit nach dem Gerichtstermin hat er zwei liebe alte Jagdgäste, Vater und Sohn. Die sind seit zwei Tagen da und wollen nachts zurückfahren, aber vorher noch mal bei abnehmendem Mond auf Sauen ansitzen. Bis dahin hatten sie erst einen Überläufer erlegt.

Und ausgerechnet an diesem Abend passiert eine völlig undenkbare Abweichung vom Normverhalten – da seine Jagdgäste ihre Kanzeln gut kennen, entschliesst sich O., nachhause zu fahren und die Sau aus der Wildkammer zu holen, während die beiden Gäste ausnahmsweise mal allein zu ihren Sitzen gehen. Am Waldrand trennen sie sich, der Sohn pirscht am Feld entlang weiter und Vater biegt in einen Rückeweg ein, der im dichten Tann direkt auf eine von O´s Lieblingskanzeln zuführt. Im Wald ist es einigermassen dunkel, aber, wie der Jäger sagt, gutes Büchsenlicht. Vater geht ruhig auf die hohe Kanzel zu, die sich bereits gegen den helleren Nachthimmel abzuzeichnen beginnt.

Der Sohn hat gerade die am Wald-Feld-Rand frei stehende Leiter erreicht, als im Wald, aus Vaters Richtung, ein Schuss fällt, gefolgt von einem durchdringenden Schmerzensschrei. Er dreht um und rennt am Feldrand zurück in den Wald, rufend, und stolpert über seinen am Boden liegenden stöhnenden und röchelnden Vater. Er reisst ihn hoch und schleppt ihn zum Auto, wirft ihn auf den Rücksitz und rast nach Bad Freienwalde zum Krankenhaus. Dort wird der getroffene Vater vor dem Haus aus dem Wagen gehoben und sofort ärztlich versorgt. 15 Minuten später ist der Mann tot – eine Kugel Kaliber 30-06 hat die Lunge zerrissen, eine Herzklappe angerissen, mehrere Arterien verletzt und sich im Brustkorb zerlegt.

In diesem Moment kommt O von zuhause zurück mit dem Schwein im Kofferraum, sieht den Menschenauflauf vor dem Krankenhaus, erfasst mit einem Blick den Wagen der Jagdfreunde und die Blutlache am Boden, rennt hinein und findet seinen Jagdfreund tot in den Armen des Sohnes.

Was war geschehen?

F sann erkennbar auf Rache, denn seine „best laid plans of men and mice“ waren zerstoben. Da fügte es sich, dass zu den gemeinsamen Jagdfreunden von F., H. und des Wessis ein Jäger gehörte, den sie schon mehrfach zu F. eingeladen hatten, der sich aber nicht nur als ein Mann schlichten Gemüts erwiesen hatte – auf deutsch: er war dumm wie Stulle! - sondern der nach wenigen Jagdeinladungen bereits so als „Schlumpschütze“, also als völlig unzuverlässiger Schiesser, verschrieen war, dass keiner der Jäger mehr mit ihm zur Jagd gehen wollte.

Diesem Individuum hatte F. am besagten Abend erst einmal einen oder zwei Schnäpse ausgegeben und dann gesagt, er werde ihn ausnahmsweise heute auf einen der besten Ansitze platzieren, die dieses Revier aufzuweisen habe. Die Schweine würden ihn früh anlaufen, und alles, was er tun müsse, sei, rasch und präzise zu schiessen. Der Blödmann bedankte sich freudig, und F. setzte ihn auf die Lieblingskanzel von O., von der er wie alle anderen wusste, dass sie für jedermann tabu war. F. war sich sicher, dass O. auch an diesem Abend wieder Gäste ansetzen würde, und er wusste, dass O. immer als erster zum Ansitz ging, und so drückte er sich die Daumen, dass der Schlumpschütze mal wieder einen seiner lebensgefährlichen Fehler machen werde.

Und genau das geschah, wenn es auch den Falschen erwischt hatte. Der Schlumpschütze sah etwas anwechseln im Dunkeln, rechnete nicht mit einem Menschen, und liess fliegen.

Auf den Schrei hin stürzte er von der Kanzel, rannte zu dem Verletzten, sah, was er getan hatte, hörte den Sohn kommen, rannte ins Unterholz und in einem Bogen sofort zu F. Der, mit Hilfe seiner Freundin, versteckte ihn mehrere Tage lang, während die Kripo vergeblich ermittelte. Dann hatten sie ihn so weit, dass er sich stellte, aber jede Aussage verweigerte, weil er einen Verteidiger gestellt bekam und ein sehr bedeutendes Handgeld. Der Frau des Getöteten wurde, ebenfalls mit viel Geld, die Nebenklage „abgekauft“.

Der Täter erhielt wegen „fahrlässiger Tötung“ eine Bewährungsstrafe und bereits nach 5 Jahren seinen Jagdschein wieder! Gegen F., den eigentlichen mittelbaren Täter, wurde gar nicht erst ermittelt.

O. ist heute noch ein erstklassiger Jäger. Aber im „Kruger Busch“ hat er seitdem nie wieder gejagt!

Das Leben findet während der Fahrt statt

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