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Kriegsende

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Sechsundsechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist es langsam, so meine ich, an der Zeit, mit dem unwidersprochen weltweiten Irrglauben aufzuräumen, die Alliierten hätten den 2. Weltkrieg gewonnen. Gerade in Deutschland ist das Unbehagen darüber weit verbreitet, dass es nicht einen einzigen Kriegsfilm gibt, egal wer ihn wo gedreht hat, an dessen Ende Deutschland mal gewinnt. Man ist ja schon froh, dass in der Mehrzahl der seriösen Filme die Deutschen nicht immer als teutonisch miese Dummbeutel dargestellt werden, die von pfiffigen Amerikanern in gut gebügelten Uniformen reihenweise aus der Hüfte erlegt werden.

Na ja, die Filmindustrie richtet sich eben danach, was der Markt sehen will, unter anderem gewinnende Amerikaner, tolle action und schöne Frauen.

Andererseits soll man Geschichtsklitterung da tadeln, wo man sie antrifft. Ich habe selbst als Zeitzeuge erlebt, warum die Alliierten den Krieg gewonnen haben, und Sie sollten das jetzt auch wissen.

Schuld daran ist nämlich meine Mutter!

Glauben Sie nicht? Wenn ich Ihnen erzähle, wie das alles kam und was für eine Powerfrau meine kleine rundliche humorvolle und gut erzogene Mutter war, immerhin eine geborene von der Planitz, dann werden Sie mir glauben.

Der Krieg lag in den letzten Zügen. Wir lebten in Hottendorf in der Altmark, nahe Stendal und Gardelegen, in einem sogenannten Behelfsheim der OT (Organisation Todt) und mein Vater war als Frontoffizier seit einiger Zeit verschollen – später stellte sich heraus, er war in amerikanischer Gefangenschaft und wurde dort fast zu Tode gequält, aber das ist eine andere Geschichte. Ich ging in Hottendorf in die einklassige Grundschule und lernte dort nicht nur „Frühling lässt sein blaues Band…“, sondern auch, dass die angeblich so ritterliche britische Luftwaffe – mit dem Nimbus hatte allerdings Bomber-Harris schon gründlich aufgeräumt – also dass die mit ihren Spitfire nicht nur Bauern auf dem Feld, sondern auch Schulkinder auf dem Schulweg jagten. Deshalb hatte die Verwaltung alle 50 Meter Eisenbahnschwellen über den Strassengraben gelegt und mehr als einmal gelang es mir und anderen Kindern, in letzter Sekunde da drunter zu rollen, während oben die MG-Salven auf die Bohlen knatterten! Einem meiner Kumpels gelang es allerdings nicht, rechtzeitig unter die Bohlen zu hechten und die Engländer schossen ihm eine Ferse ab.

„Let´s go shelling where they´re dwelling just as good old British airmen do…”

wie der lustige Jazz-Song so geht – ein Song übrigens, der von einer fast unbekannten Swingband, Charlie & His Orchestra, 1941 in Deutschland im Auftrage von Goebbels´ Propagandaministerium gespielt und getextet wurde; einer Band, die auftragsgemäss Jazzmusik mit subtil antiamerikanischen und anti-alliierten Texten auf Englisch herstellte – dieser Swing gehört zu den unbekanntesten und besten Leckerbissen der deutschen Jazzgeschichte.

Aber wieder zu unseren englischen Helden der Luft. Für uns Kinder "survival of the fittest" und so ein gutes Training, dass ich Jahre später in Baden-Baden reflexartig unter einen Hauseingang in ein Rinnsal hopste, als ein einmotoriges französisches Jagdflugzeug auftauchte – zur schenkelklopfenden Erheiterung meiner badischen Schulfreunde. Gelernt ist gelernt.

Die badischen Freunde aber hatten derartige Bedrohungen im Krieg nicht erlebt und konnten sich deswegen meine spontane Aktion nicht erklären

Zurück nach Hottendorf.

Dort fanden erst, entfernt, kurze Gefechte in den Wäldern statt, und beim Spielen im Wald fand man schon mal einen toten Soldaten und jede Menge Waffen, die wir frohgemut zuhause stapelten, wo sie unsere Mütter – die Väter wie gesagt auf dem Felde der Ehre bis auf einige bonzenmässigen Drückeberger – mit höchstem Entsetzen einsammelten und entsorgten, jeden Tag!

Dann kamen die Amerikaner. Sehr jung, sehr nett und unglaublich ängstlich. Meine Mutter, die zufolge ihrer adligen Erziehung fliessend Englisch sprach, wurde alsbald zum Dolmetschen hinzugezogen und berichtete, dass sie immer wieder nach dem „Werwolf“, der bedrohlichen Geheimtruppe, gefragt wurde, die es unseres Wissens ausser einem kläglichen Anfang mit wenigen Idioten nie wirklich gegeben hatte, anders als den „Volkssturm“, der sich aber überwiegend als ein aus Geronten gebildetes Filzpantoffelgeschwader entpuppte – mein Vater hat die mal von der Front geschlossen nachhause geschickt und bekam ein nicht ungefährliches Kriegsgerichtsverfahren angehängt - und etwa so kriegsentscheidend war, wie es später im Ernstfall die lächerlichen Betriebskampftruppen – verzeiht mir, liebe Neubürger – der DDR geworden wären oder die ebenso lächerliche aber stolzgeschwellte „homeguard“ der Engländer.

Die netten Amerikaner aber erzählten uns, sie würden nach wenigen Wochen weiterziehen und dann kämen die Russen.

So wars.

Die Amerikaner waren weg, es folgte ein Tag unheilvoller Stille, und dann bretterte urplötzlich, in einer Staubwolke aber zugleich zunächst einmal merkwürdig ruhig, eine Pferd-und-Wagen-Truppe ins´Dorf, Panjewagen mit kleinen Pferden davor, Panjepferde, tatsächlich aber wohl Budjonny-Pferde; darauf verstaubte tief über den Pferdehals gebeugte Kosaken mit hervorragender Bewaffnung, nämlich fast durchgängig Maschinenpistolen mit runden Magazinen – PPSh 41, wie wir kleinen Technikfreaks bald herausfanden. Die Kavalkade wirbelte auf den Dorfplatz, hielt an, alle sprangen ab, jetzt wurde es laut; Befehle und Mitteilungen an die Bevölkerung wurden gebrüllt, Schüsse in die Luft, aber auch in Scheunentore und das Kriegerdenkmal gejagt, und die Soldateska schwärmte aus zum Plündern, Vergewaltigen, Morden, Saufen – der Dreissigjährige Krieg war zurückgekehrt.

Wir waren dank unserer amerikanischen Freunde vorbereitet und steckten tief im Wald; dem Wald, in dem ich mich als einsamer mal Winnetou, mal Chingachgook die Grosse Schlange und mal Old Shatterhand besser auskannte als sogar die Förster; und dort in einer komfortablen bestens verblendeten und mit allem Notwendigen bestückten Erdhöhle,

Und zwei Tage später führte uns, mich den neunjährigen Pimpf und meine kleine dreijährige Schwester Moy, meine Mutter, diese tolle kleine tapfere unglaublich instinktsichere Tochter aus gutem Hause, zu Fuss quer durch die russische Front, durch Wald und Feld, durch Sumpf und Bruch, nachts unterwegs und tagsüber klauend oder bettelnd, zurück geradewegs nach Berlin-Charlottenburg in die Emser Strasse 22!

Zurück in das umkämpfte Berlin. Aber zurück nach Hause!

In unsere Wohnung hatte man einen rumänischen Zahnarzt einquartiert. Dem war zwar nur das Kinderzimmer nebst Badbenutzung zugewiesen worden, aber er hatte in unserer Abwesenheit die ganze 5-Zimmer-Wohnung mit Beschlag belegt und gedachte diesen Zustand gegen eine schwache Frau mit zwei kleinen Schädlingen zu zementieren.

Wie man sich vorstellen kann, war der Geduldsfaden meiner Mutter durch Krieg, Not, den böhmischen Gefreiten, die soeben beschriebene Flucht und die Sorge um meinen Vater und Angst vor der Zukunft verdammt kurz geworden. Da kam ihr der Zahnklempner vom Balkan gerade recht!

Als sie nach kurzer Zeit mit ihm fertig war, hatte er sich nicht nur, mausmässig, ins Kinderzimmer zurückverklüftet, sondern hielt seitdem das Schillerwort, wonach gelegentlich „Weiber zu Hyänen“ werden können, für die vorsichtig umschriebene dichterische Untertreibung der Literatur schlechthin. Von da an sahen wir ihn nur noch ganz sporadisch zwischen seiner Stube und dem Badezimmer oder auf dem furtiven Weg aus der Haustür, irgendwo zum Zähne ziehen oder so, und nach drei Monaten zog er leise aus.

So schwer das Leben für uns war, ich war wieder zuhause, bei den kläglichen Resten meiner Freunde von der Ludwig-Kirch-Platz-Gang, und in den Stunden bei Alarm im Luftschutzkeller wurden alte und neue Jugendbekanntschaften geschlossen. Einige Hitlerjungen waren noch aktiv und halfen in Uniform dem Blockwart und nach Angriffen. Ich war gerade mal Pimpf, hatte immerhin schon ein Koppel und ein richtiges Pimpf-Hemd, und taperte zum Leidwesen meiner total nazifeindlichen Mutter - mein Vater, wenn immer er vor der Gefangenschaft zuhaus war, starb ob ihrer Frechheiten dauernd tausend Tode - immer mit.

Unser Anführer war ein hochaufgeschossener blonder sommersprossiger Bengel, Arier vom Feinsten, angeblich 16 Jahre alt, aber wahrscheinlich erst 13 oder so, denn sonst wäre er bei der Flak gewesen. Der hatte zur Uniform einen Stahlhelm und zwei deutsche Handgranaten, Gegenstände höchster Bewunderung und der Grund für die nahezu schon schamanenhafte Verehrung, die wir anderen ihm zollten.

Eines Tages versammelte er uns auf dem Ludwigkirchplatz und eröffnete uns, „der Russe“ stehe vor Berlin und es sei unter anderem unsere uns vom Führer ausdrücklich übertragene Aufgabe, den Russen „über die Elbe“ zurückzuwerfen. Dabei wies er dramatisch mit dem Zeigefinger in Richtung Halensee.

Wer folgt mir, Männer?“

Na, wir waren gerade mal fünf Knaben und erhoben uns wie ein Mann. „Für Führer, Volk und Vaterland“ – das hatten wir schon lange drauf und so auch jetzt. Und schon setzten wir uns in Marsch, der Gedanke an die Mütter, im Hinterkopf ein wenig nagend, wurde verdrängt. Wir marschierten die Emser Strasse hoch, bogen in den Hohenzollerndamm ein und bald waren wir auf dem Weg zur Front, raus aus unserem heimatlichen Kiez.

Zwischendurch gab´s mal Alarm und wir fanden uns in einem fremden Keller wieder. Das Haus rummste, das Licht fiel zeitweise aus, ein etwas trotteliger Blockwart mit weiss-rot-grüner Taschenlampe gab sinnlose Anweisungen, keiner interessierte sich für uns und nach der Entwarnung wanderten wir durch eine leicht veränderte Umwelt – inzwischen waren ein paar Brandbomben und anderes gefallen – weiter.

Als es dunkel wurde, stiessen wir auf eine getarnte Panzerabwehrkanone und 8 Mann Besatzung, die es sich neben der Kanone in einem Laden eines halb zerbombten Hauses bequem gemacht hatten, weil es da einen kleinen Ofen gab, auf dem sie gerade was brieten. Unser Anführer gesellte sich mit einem markigen Heil Hitler dazu und bat „die Kameraden“ um Nachtquartier.

Die, ein abgekämpfter müder zerfurchter Feldwebel Marke „Steiner“ und einigermassen erschöpft wirkende jüngere Soldaten, sahen uns an, als wären wir aus der Klapsmühle entwichen. Der Feldwebel fragte unseren Fähnleinführer, ob er denn total plemplem wäre, mit Kindern im Krieg rumzulatschen. Unser Kommandant verbat sich diese wehrkraftzersetzenden Äusserungen und der Feldwebel sagte müde: „Na ja, Bengels, wenn Ihr unbedingt Helden sein wollt, denn macht ma weiter“ und gab uns was zu essen und ein paar Wolldecken hinten aus dem Laden.

So legten wir uns schlafen und ich hatte den Feldzug bereits gründlich satt. Nur die Erwartung, morgen „den Russen“ über zum Beispiel oder wahrscheinlich „die Elbe“ – keine Ahnung wo das war – zurückzuwerfen hielt mich davon ab, zu erklären, ich würde eigentlich lieber nachhause gehen.

Am Morgen, nach kurzem ständig durch Beschuss und Krach und Bomben unterbrochenem Schlaf, war ich wie gerädert und erwog soeben, den Feldzug für mich für beendet zu erklären.

Da erschien meine Mutter.

Gehetzt, verstaubt, Ringe unter den Augen, übermüdet, aber mit der Aura nicht etwa der Erleichterung, sondern geradezu jesusmässiger Wut umgeben. Sie erfasste die Situation mit einem Blick, baute ihre 167 cm vor den 190 cm unseres Anführers auf, nahm ihm mit der Linken den Stahlhelm von Kopf, haute ihm mit der Rechten eine runter, dass ihm die Birne wackelte, setzte ihm krachend den Stahlhelm wieder auf und verkündete:

Wolfgang, ab nach Hause, und mach´ Dich auf was gefasst“!

Unser Anführer sah so aus, als wollte er aufmucken, aber ein Blick auf den Feldwebel, der sich, die Hand auf der Pistolentasche, erhoben hatte, liess ihn innehalten.

Gut so, junge Frau“, sagte der Feldwebel höflich zu meiner Mutter, „schönn Tach noch!“. Und gut drei Stunden später war ich wieder zuhause; mehr erzähle ich darüber nicht.

Aber eins ist klar:

Jetzt war für „den Russen“ der Weg frei nach Berlin.

Das hatten sie meiner Mutter zu verdanken.

Und das, finde ich, sollten die Alliierten jetzt, sechsundsechzig Jahre nach dem Kriegsende, ruhig mal zugeben! Oder?

Danach führten wir kleinen Knirpse ein Abenteuerleben, wie es nur die unschuldige Jugend inmitten von Zerstörung, Angst und Überlebenskampf fertig bringt. Wir kletterten an den oft drei- und vierstöckigen Innenwänden der Häuserruinen hoch wie Freeclimber, ohne Angst, aber auch ohne unseren verbliebenen Elternteilen davon zu erzählen, und rüttelten Bleirohre los, an denen noch Badewannen hingen, und lauter solche Dummheiten. Die brachten wir zum Schrotthändler und verkauften sie. In passenden Fällen klauten wir sie des nachts wieder beim Schrotthändler und verkauften sie am nächsten Tag an einen anderen Schrotthändler.

Wir durchstreiften die Keller der Ruinen und brachten allerlei Fundstücke mit nachhause, ich auch einmal einen sechsschüssigen Colt ohne Munition aber in bester Verfassung, den ich vor meiner Mutter versteckte und jahrelang hütete wie meinen Augapfel, bis er mir als Jura-Student zu gefährlich erschien und ich ihn in den Wannsee entsorgte.

Wir kletterten in den ersten Tagen nach Kriegsende, weil die Verwaltung mit dem ganzen Arbeitsanfall und aus Personalmangel so schnell nicht Ordnung schaffen konnte, in zusammengeschossenen oder liegengebliebenen Panzern und Panzerfahrzeugen herum und nahmen dabei mancher Leiche das begehrte Koppel ab, ohne uns zu graulen – Koppel waren ein beliebtes Tauschobjekt.

Natürlich war uns klar, dass unglaublicher Mangel herrschte und die meisten Menschen in Berlin Hunger litten. Wir allerdings, das heisst meine Freunde und ich, hatten in der Düsseldorfer Strasse eine Bäckerei der Alliierten ausgemacht. Nachts schmissen meine Kameraden mich, weil ich der Leichteste war, auf das Vordach, von wo aus ich durch ein Oberlicht kletterte, mich mit einem Seil in die Backstube herabliess, und aus dem Teig, der da in grossen offenen Trögen auf den nächsten Tag wartete, kleine Bälle formte, für jeden von uns einen, und durch das Oberlicht hinauswarf. Dann kletterte ich hoch und sprang vom Vordach wieder herunter. Unsere Mütter buken aus dem Teig wundervolle Brote, die Tage lang reichten. Die Bäcker merkten monatelang nichts, bis wir eines Tages das Oberlicht geschlossen und frisch vergittert vorfanden.

Da war dann leider Schluss mit unseren "Siegerstullen".

Zu meiner Schule, der Waldschule in Eichkamp, fuhr ich immer mit der S-Bahn, die anfangs keine Fensterscheiben hatte, was uns Bengeln die Möglichkeit bot, während der Fahrt aussen an den Waggons entlangzuturnen. Das machten wir solange und mit der grössten angstfreien Unbekümmertheit, bis es eines Tages einen tödlichen Unfall gab. Da erst schaffte es die S-Bahn, Fenster einzusetzen, und das machte unserem Spuk ein Ende. Zudem machte ich zunehmend meine Schularbeiten erst in der S-Bahn zwischen Savigny-Platz und Heerstrasse, also über fünf Stationen, und hatte zu Klettereien keine Zeit mehr.

An zwei Schulkinder-Delikatessen erinnere ich mich noch deutlich: Es gab auf dem Schulweg einen Laden, wo man Brausepulver in Tüten kaufen konnte. Das, wahrscheinlich ein grausames karzinogenes Chemieprodukt, haben wir mit grossem Genuss aus der hohlen Hand gefuttert. Und im Winter gab es auf meinem Schulweg vor dem Bahnhof Savignyplatz eine Bude, die für einige Pfennige Brühe in dicken weissen Tassen verkaufte. Die war total durchsichtig und unten auf dem Tassenboden wuselten ein paar ganz kleine Krümel herum, aber sie war heiss und schmeckte, jedenfalls in meiner Erinnerung, ganz köstlich. Wahrscheinlich war auch sie ein sehr merkwürdiges und sicherlich weitgehend fleischfreies Produkt. Wenn ich allerdings die heutige Presse zum Thema gesunde Ernährung verfolge, kommt mir das alles noch paradiesisch natürlich vor angesichts dessen, was uns die Nahrungsmittelchemie heute zumutet.

Das Leben findet während der Fahrt statt

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