Читать книгу Rho - E. S. Schmidt - Страница 12

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Die Rotoren waren noch lauter, als Moira es von den Helikoptern der Notärzte kannte. Jeder Transporter hatte drei davon und trotzdem erhoben sich die Maschinen nur schwerfällig in die Luft. Vermutlich waren sie hoffnungslos überladen.

Sie stiegen schwankend auf und Moira klammerte sich an den Sitz, auf den man sie geschnallt hatte. Die Zivilisten waren entlang der Seiten aufgereiht, von den Soldaten standen viele ungesichert in der Mitte des Helikopters und hielten sich an Schlaufen fest. Die Tür war noch immer offen und zeigte einen kleinen Ausschnitt der Stadt. Er wirkte völlig unversehrt. Vielleicht war der Angriff doch begrenzter gewesen, als sie befürchtet hatte.

Sie holte die Kamerabrille wieder aus der Tasche, und entgegen ihrer Befürchtungen funktionierte sie noch. Es zog sich nur ein feiner Strich durch das Bild, aber das würde sie retuschieren können. Oder vielleicht beließ sie es auch so, als Zeichen besonderer Authentizität.

Ein Soldat mit einem roten Helm, vermutlich ein Offizier, gestikulierte in ihre Richtung. »Entschuldigung, Ma’am. Kein Streamen erlaubt. Im ’Kopter befinden Sie sich auf dem Gebiet der MinerVa Inc.«

Sie nickte. »Ich filme auf die Speicherkarte.«

»Sie müssen sich alles vor der Veröffentlichung freigeben lassen. Auch für einen privaten Blog.«

»Werde ich.«

»Sir!«

Ein Soldat zeigte in den Himmel und Moiras Magen krampfte, als sie die bewegte Wolke dort sah. Sie mühte sich, die Übelkeit unter Kontrolle zu halten und drehte sich zu Rho um, der schräg vor ihr stand. »Können wir über sie drüber fliegen?«

»Nein, Ma’am. Sie können einen ‘Kopter erreichen, wenn sie es darauf anlegen.«

Moira schaute wieder zur Tür, hinter der nun der Horizont wegsackte. Ihr wurde klar, dass sie eine Kurve flogen, weg von den Mantis. Es dauerte nicht lange, bis der Horizont zurückkehrte und die Ebene der Kaikari-Wüste grün unter ihnen schimmerte. Die Farbe rührte von oxidiertem Kupfer im Sand her.

»Wir fliegen in die Wüste?«, fragte Moira. »Die Mantis kommen doch aus der Wüste.«

»Der Angriff kam aus der südlichen Wüste. Ma’am. Wir fliegen nach Norden.«

»Und wohin genau?«

»Zum Stützpunkt Noshades.«

»Warum nicht tiefer in die Dämmerungszone? Weg von den Mantis?«

»Befehle, Ma’am.«

Befehle. Dagegen ließ sich nicht argumentieren, zumindest nicht mit einem Soldaten. Er war bloß ein Befehlsempfänger. Im Grunde hatte sie genau deshalb bei MediCare gekündigt. Wegen diesem permanenten Gefühl, nichts als ein Befehlsempfänger zu sein.

Plötzlich entstand Unruhe unter den Soldaten. Moira bekam ein paar Wortfetzen mit. Sie erhöhte die Aufnahme-Lautstärke der Kamerabrille und tatsächlich verstärkte das die Außengeräusche, die in den kleinen Bügellautsprecher neben ihrem Ohr übertragen wurden. Es verstärkte leider alle Geräusche gleichermaßen, auch das Knattern der Rotoren. Dennoch konnte sie die Worte einigermaßen verstehen.

»… steigen auf, als hätten sie auf uns gewartet. Oberste Priorität hat das Leben der Bios!«

Sie hatte das Gefühl, dass der Helikopter an Höhe gewann.

Rho wandte sich ihr zu. »Diese Brille«, rief er durch den Rotorenlärm. »Kann sie splittern?«

Sie schüttelte den Kopf. »Sportgeeignet!« Die Brille würde die Augen sogar schützen. Jetzt war Moira froh, dass sie die paar hundert Credits mehr ausgegeben hatte.

»Sie sollten sie aufbehalten und sichern.«

»Wieso? Was passiert jetzt?«

»Tandemsprung.«

»Mit dem Fallschirm?« Ihre Stimme quiekte.

»Ja, Ma’am. Es sei denn, Sie sind selbst Springer.«

»Nein. Habe ich noch nie gemacht.« Mit einem mulmigen Gefühl im Magen zog sie die Sicherungsbänder aus den Brillenbügeln und klickte am Hinterkopf die Verschlüsse ineinander. Währenddessen wurden Fallschirme herumgereicht.

»Los, los, los!« brüllte der Offizier.

Rho hatte den Schirm schon auf dem Rücken und zog einen Brustgurt straff. Andere Gurte hingen noch ungenutzt vom Geschirr. »Stellen Sie sich vor mich, mit dem Rücken zu mir!«

Sie löste den Sicherheitsgurt mit zitternden Fingern, richtete sich unsicher auf dem schwankenden Boden auf, suchte Halt an der Wand. Rho packte sie an den Schultern und drehte sie um. Die Panzerung seiner Jacke drückte hart gegen ihren Rücken, während in ihrem Kopf immer wieder das Wort das Wort springen hämmerte. Sie würden aus einem Helikopter springen. Gurte wurden zwischen ihren Beinen durchgezogen, andere über die Schultern. Ein anderer Soldat half. Klick, klick, alles ging sehr effizient vonstatten. Ein paar Meter vor ihr wurde Mikael eingegurtet. Er sah genauso aus, wie sie sich fühlte. Seine weit aufgerissenen Augen wirkten wie Seen in dem bleichen, ausdruckslosen Gesicht. Er hatte schon früher gelegentlich hyperventiliert. »Ausatmen!«, rief sie ihm zu.

Die meisten Paare hatten den Heli schon verlassen, nur noch sie und Mikael waren übrig. Moira wurde nun auch auf die Öffnung zugeschoben, durch die sie ein kalter Luftzug anwehte. Oh Shiva! Warum hatte sie nicht auf seinen Rücken geschnallt werden können? Sie versuchte instinktiv, sich am Türrahmen festzuhalten, aber Rho drückte ihre Arme nach unten und rief: »Ready, set, go!«

Bei »go« waren sie schon draußen und Moira schrie vor Angst. Sie fiel, und der Wind der Rotoren drückte sie auch noch nach unten. Sie stürzte haltlos der Erde entgegen! In ihrem Bauch zog sich alles zusammen, bis runter in den Beckenboden. Dann plötzlich Wind von unten. Ein ungeheurer Winddruck, der lautstark an ihr vorbeirauschte, ihre Wangen und Haare nach hinten drückte und … einen Widerstand vor ihrer Brust bildete wie ein Kissen.

Es fühlte sich gar nicht mehr an, als würde sie fallen. Eher so, als ob sie auf diesem Wind liegen würde. Als Kind hatte sie sich gegen den ungeheuren Windzug gelehnt, der bei Screaming Hollow beständig durch die Schlucht fegte. Dies hier war so ähnlich – nur noch viel lauter. Sie öffnete die Augen, was vermutlich nur möglich war, weil die Brille sie vor dem Winddruck schützte.

Ein grandioser Blick über die Wüste. Nahm die Brille noch auf? Ja, der rote Punkt blinkte. Links von ihnen segelten andere Fallschirme zu Boden und von dort – Moira schoss erneut der Schreck in die Glieder. Da stiegen Mantis auf! Einige hatten den Helikopter bereits erreicht und attackierten ihn, andere konzentrierten sich auf die hilflos durch die Luft fallenden Menschen.

Als hätten sie auf uns gewartet. Ein Hinterhalt. War das denkbar?

Ein heftiger Ruck presste ihren Körper schmerzhaft in die Gurte, Rho hatte den Fallschirm geöffnet, der nun über ihnen knatterte. Der Wind ließ nach, war aber noch immer stark. Ihre Beine pendelten jetzt nach unten, und von dort kamen ihnen Mantis entgegen. Vier Stück.

»Ohren zuhalten!«, rief Rho hinter ihr.

Sie gehorchte. Er hielt eine Pistole an ihr vorbei, zielte mit ausgestrecktem Arm auf die entgegenkommenden Tiere. Doch er schoss nicht. Er wartete, ließ sie herankommen. Schon konnte Moira die gemusterten Stirnplatten und sogar die Augen darunter erkennen, von denen drei auf jeder Seite saßen. Dann der erste Schuss, die Waffe ruckte heftig in seiner Hand. Eine der Mantis trudelte zu Boden. Kaltblütig richtete er den Arm neu aus, schoss, verfehlte, zielte ruhig und schoss noch einmal. Wieder ein Treffer. Die verbliebenen beiden Tiere drehten ab.

»Sind wir sie los?«

»Nein, Ma’am.«

Moira sah sich hektisch nach allen Seiten um und begriff, was er meinte. Die Tiere kamen in einem Bogen über ihnen zurück, wollten offenbar die Seile des Fallschirmes durchtrennen oder das Segel selbst zerstören. Begriffen sie etwa, dass dieses Ding die Menschen in der Luft hielt? Oder war das Zerstören der Flügel einfach ein übliches Vorgehen bei artinternen Kämpfen, das sie hier modifiziert anwandten?

Wieder schoss Rho, diesmal nach oben, und erwischte die dritte Mantis. Wo war die vierte? Panisch wandte Moira den Kopf nach allen Seiten und sah sie aus den Augenwinkeln. »Hinter Ihnen!« Die Mantis rammte gegen Rhos Rücken und ließ sie beide in den Seilen schwanken. Ein Trommeln, als würde die Mantis gegen Rhos Helm schlagen. Moira schrie, krümmte sich, schützte ihren Kopf mit beiden Armen, während an ihrem Rücken der Kampf tobte. Noch zweimal bellte die Waffe, und sie spürte den Ruck jedes Mal.

Dann kommandierte er: »Beine hoch! Nach vorne!«

Sie hatte gar nicht bemerkt, wie nah sie dem Boden bereits waren. Sie gehorchte, streckte die Beine nach vorn aus, sah den Boden immer näherkommen, und landete schließlich hart auf ihrem Hosenboden im steinigen Sand.

Im unglaublich heißen Sand! Die OP-Hose hielt nicht viel von der Hitze ab. Aber was machte das schon. Sie hatten überlebt! Kaum, waren die Gurte gelöst, sprang sie auf, ein fiebriger Jubel in allen Gliedern. Sie hatten es geschafft! Sie waren aus einem Helikopter gesprungen und sicher gelandet. Wow, sie war ja wohl gerade voll auf Adrenalin.

Rho hingegen war die Ruhe selbst. Auch er legte die Gurte ab, musterte dabei aber weiter wachsam die Umgebung. Sie tat es ihm nach – keine Mantis zu sehen. Sein Kampfanzug schien ihn vor den brutalen Hieben geschützt zu haben. Das Material war nur an wenigen Stellen zerrissen. Der Helm jedoch war gespalten und das Visier fiel einfach ab, als er den Kopf drehte. Sie schauderte bei dem Gedanken, wie sein Kopf ohne diesen Schutz jetzt aussehen würde.

»Sie sollten den Helm ausziehen. Er ist gerissen.«

»Der Helm ist Vorschrift, Ma’am.«

Doch als er ihn prüfend berührte, brach er endgültig auseinander. Ein typischer, rasierter Soldatenschädel kam zum Vorschein, der seitlich blutete. Rho ließ die nutzlosen Stücke fallen und wandte sich ab, als sei es ihm unangenehm, dass sie sein Gesicht sehen konnte.

Sein Gesicht! Ein Schreck durchfuhr sie. Der Mann, der ihr das Leben gerettet hatte, war jünger gewesen, aber es waren die gleichen Züge, die gleichen Augen, der gleiche Mund.

Leise sagte sie: »Das auf dem Dach … das war Ihr Bruder, nicht wahr?«

Der Soldat zögerte, dann nickte er knapp. »Ja, Ma’am.«

Wie stoisch er diese Worte aussprach.

»Das tut mir … furchtbar leid«, sagte sie.

Er sah sie mit einem seltsamen Blick an. »Er war Soldat«, gab er zurück, als wäre das ein Trost oder eine Erklärung.

Ob sie sich nahegestanden hatten? Sicherlich. Sie waren nicht nur Brüder gewesen, sondern hatten Seite an Seite gegen die Mantis gekämpft.

Er verzog den Mund und bewegte die rechte Schulter.

»Sind Sie verletzt?«, fragte sie.

»Nicht ernsthaft, Ma’am.« Er musterte den Horizont.

Sie folgte seinem Blick und bemerkte eine Rauchsäule. »Was ist das?«

»Der ’Kopter, Ma’am.«

»Abgestürzt.«

»Ja, Ma’am.«

»Denken Sie, dass es dort andere Überlebende gibt?«

»Nein, Ma’am. Aber vielleicht Wasser. Außerdem ist es die Richtung nach Noshades.«

Natürlich, weil der Helikopter in diese Richtung unterwegs gewesen war, als er abstürzte. Die Rauchsäule war so etwas wie eine Landmarke in dieser ausgedörrten Ebene. Womöglich würden sich die Überlebenden dort sammeln.

Sie beendete die Aufnahme und steckte die Brille weg. Ihr Screen zeigte kein Netz an, natürlich nicht. Sie waren mitten in der Wüste. Kein vernünftiges Kommunikationsunternehmen würde diesen Ort abdecken. Außer vielleicht MinerVa, deren Arbeiter in der Wüste operierten. »Haben Sie Empfang, Rho?«

Er schüttelte den Kopf. »Kein Meldegänger in der Nähe, Ma’am.«

Vermutlich meinte er damit mobile, technische Vorrichtungen, welche die Kommunikation im Nirgendwo bedarfsweise sicherstellten. »Und im Helikopter? Gibt es da einen Verstärker oder sowas? Ein Funkgerät, das Ihre Leute erreicht?«

»Möglich, Ma’am.« Er bückte sich nach der weißen Fallschirmseide.

Ein Schweißtropfen lief ihre Schläfe hinunter und sie wischte ihn fort. Die Sonne stand entsetzlich hoch am Himmel. Sie war auch gar nicht mehr rot. Das alles wirkte furchtbar falsch, als wäre sie gar nicht mehr auf demselben Planeten.

»Was schätzen Sie, Rho, wie heiß es ist?«

Er zerriss die Seide. »Zweiundvierzig Celsius, Ma’am.«

»Das ist aber ziemlich exakt.«

»Es ist die übliche Temperatur für diesen Längengrad und diese Monatszeit.«

Trotz der gebundenen Rotation gab es so etwas wie klimatische Schwankungen auf Deuteragäa. Da die Umlaufbahn nicht exakt rund sondern leicht elliptisch war, entstand eine regelmäßige Schwankung. Dieser »Wobble-Effekt«, der astronomisch gesehen ein Deuteragäa-Jahr abbildete, dauerte etwas länger als einen irdischen Monat. Moira konnte also froh sein, dass sie sich gerade in der Winterhälfte des Monats befanden. Jetzt war sie dankbar für die lockere OP-Kleidung. Ihr schwarzes Haar war nicht gerade ein Vorteil, das spürte sie jetzt schon. Auch Rho würde es in seiner schwarzen Uniform sicherlich nicht lange aushalten.

Tatsächlich zog er die Jacke aus. Er wandte ihr den Rücken zu, und der Anblick, wie sich sein sandrotes Hemd in das Tal zwischen seinen Schulterblättern schmiegte, konnte Moira ein wenig aufmuntern. Allerdings sah sie jetzt auch, dass der Schnitt nicht nur in seiner Jacke war. Blut hatte sich in den Hemdstoff gesogen. Nicht so viel, dass es besorgniserregend wirkte, aber sicher schmerzhaft

»Sie sind verletzt. Soll ich mir das einmal anschauen?«

Im ersten Moment wirkte er verwirrt. »Nicht nötig, Ma’am.«

»Ich bin wirklich Ärztin.«

»Ja, Ma’am.«

Sie seufzte und ließ es auf sich beruhen. »Was haben Sie mit dem Fallschirm vor?«

Er reichte ihr ein großes Stück von dem Stoff und dazu einen schmalen Streifen. »Legen Sie es sich über den Kopf und binden Sie es über der Stirn fest.« Er machte es vor.

»Ah. Wie ein Beduinenumhang.«

Darauf antwortete er nicht. Vermutlich wusste er nicht, was Beduinen waren, womit er sicherlich zur Mehrheit gehörte. Nur wenige teilten Moiras spleeniges Interesse für die alte Erde.

Wie zweckmäßig diese Kleidung war, merkte Moira sofort. Der weiße, glänzende Stoff reflektierte das Sonnenlicht, das ihre schwarzen Haare so bereitwillig absorbiert hatten, und das Stirnband hinderte den Schweiß daran, in ihre Augen zu fließen.

Er wusste offenbar genau, was er tat. Das war beruhigend. Auch die Art, wie er auf jede ihrer Fragen sofort und fundiert antwortete, ließ sie Vertrauen fassen. Nur bei persönlichen Dingen schien er immer etwas länger nachdenken zu müssen. Sogar als sie fragte: »Ist Rho eigentlich Ihr Vor- oder Nachname?«, brauchte er einen Moment, um sich zu entscheiden.

»Nachname.«

»Ich bin Moira Chakrabarti, aber Sie können mich gern Moira nennen.«

»Ja, Ma’am.«

»Sie können mich natürlich auch weiterhin Ma’am nennen.«

»Ja, Ma’am.«

Sinn für Humor hatte er offenbar keinen.

Sie marschierten los und Moira merkte bald, dass ihre OP-Schuhe für die Wüste nicht geeignet waren. Wie lange würden sie wohl gehen müssen, um den Helikopter zu erreichen? Nun, Rho – sie entschied sich gegen Mister Rho – schien es für machbar zu halten, aber er war ja auch ein durchtrainierter Soldat. Sie hingegen hatte seit einem halben Jahr ihre Mitgliedschaft im Fitness-Club ungenutzt gelassen. Hoffentlich erfüllte sich seine Vermutung, dass sie im Helikopter Wasser finden würden. Schon jetzt war sie ausgedörrt und achtete darauf, beim Atmen den Mund geschlossen zu halten.

Sie war noch nie so weit auf die Tagseite von Deuteragäa vorgedrungen. Ihr ganzes Leben, Kindheit, Ausbildung, Karriere, hatte sich in der Dämmerungszone abgespielt. Natürlich, hier und dort mal ein Urlaub in Tokyo Bay oder in Mji-Mpya, doch sie hatte sich an die zivilisierten Gegenden gehalten. Sie hatte nie verstanden, wenn Freunde von der Schönheit der Wüste schwärmten, und auch jetzt konnte sie der trostlosen Weite, dem Anblick der verstreuten Felsen und der reflektierenden, harten Sonnenflechten darauf nichts abgewinnen. Feiner Sand erfüllte die Luft, knirschte zwischen den Zähnen, brannte in den Augen und scheuerte an den Säumen ihrer Unterwäsche. Und dann diese Hitze, die ihr immer neuen Schweiß über die verklebte Salzkruste des alten trieb. Ganz ehrlich, die Wüste gewann nicht bei näherer Betrachtung.

Zumindest bestand in der flachen Landschaft wenig Gefahr, sich aus den Augen zu verlieren. Rho, dessen Vorsprung sich beständig vergrößerte, blieb gelegentlich stehen, um sie aufschließen zu lassen, gönnte ihr aber keine Rast. Es ging flach geradeaus, und sie mussten nicht etwa Berge besteigen. Auch der Boden war gut zum Laufen – eine von Hitze und Trockenheit fest zusammengebackene Fläche, kein rieselnder Sand, in den man einsank wie am Strand. Nur der gelegentliche Stein bohrte sich schmerzhaft in die dünne Sohle der OP-Schuhe. Moira setzte ihre Schritte daher sehr bewusst.

So vergingen zwei Stunden. In der Hitze fühlte es sich an wie vier, aber Moiras Screen, der die Uhrzeit auch ohne Netz anzeigte, bestand darauf, dass es nur zwei waren.

Rho war wieder einmal stehen geblieben – eine einsame Gestalt in der entsetzlichen Leere. Die Hand schützend gegen die Sonne gehoben musterte er die schwarze Rauchfahne, die ihr Ziel war. Moira hätte nicht sagen können, ob sie sich diesem Ziel überhaupt schon wesentlich genähert hatten. Er wandte sich um, schaute ihr entgegen. Als Moira herangekommen war, reichte er ihr wortlos eine flache, metallene Flasche.

Er hatte Wasser! Warum hatte er das nicht schon viel früher gesagt? Vermutlich, weil die kleine Flasche ein Nottropfen war, der sie beide kaum weit bringen würde.

Moira wischte das Mundstück ab, bevor sie trank. Das Wasser war warm und schmeckte abgestanden. Trotzdem hätte sie die Flasche gern in einem Zug ausgetrunken. Sie nahm aber nur einen Schluck und bewegte das Wasser sorgfältig in ihrem Mund hin und her, bevor sie es schluckte. Sie gönnte sich noch einen zweiten Schluck, bevor sie den Verschluss zuschraubte und die Flasche zurückgab. »Wie lange noch?«

»Viertelstunde.« Er klickte die Flasche in die Halterung am Gürtel ein und setzte sich wieder in Bewegung.

Moira warf einen Blick auf ihren Screen. Eine Viertelstunde. Daran konnte sie sich festhalten. Das war zu schaffen.

Sie fragte sich nicht, was sie tun würden, wenn sie die Quelle der schwarzen Rauchfahne erreichten. Eine Viertelstunde. Er würde eine Antwort haben.

Als Rho das nächste Mal stehen blieb, um auf sie zu warten, waren exakt vierzehn Minuten vergangen, doch vom Helikopter war weit und breit nichts zu sehen. Nur die spärlicher werdende Rauchfahne zog sich noch immer in den Himmel. Sie wirkte näher, aber wie nah sie tatsächlich war, konnte Moira in dieser endlosen Leere nicht abschätzen.

Falls er ihr mit seiner präzisen Antwort ein Gefühl von Sicherheit hatte geben wollen, war es ihm gelungen. Doch nun verflüchtigte sich dieses Gefühl wie der Rauch der abgestürzten Maschine, und die Schritte, mit denen sie zu ihm aufschloss, erschienen mühsamer.

»Vorsicht, Ma’am.«

Er zeigte vor sich auf den Boden, und jetzt sah sie es auch. Eine Abbruchkante, die selbst aus wenigen Schritten Entfernung kaum zu erkennen war. Aufgrund irgendeines tektonischen Phänomens hatte sich die Ebene um etwa drei Meter abgesenkt. Als sie vorsichtig nähertrat, wurde ihr Blick von den rauchenden Trümmern des Helikopters unter ihr angezogen.

Der Korpus war erstaunlich intakt. Wie eine verbeulte Getränkedose lag er auf der Seite und reflektierte das Licht der orangeroten Sonne. Einige der Rotorblätter hingen abgeknickt in der Verankerung, eins war abgetrennt und steckte abseits in dem Abhang, auf dem sie standen. Bruchstücke und Ladung lagen in weitem Umkreis verteilt, dazwischen Überreste ihrer Angreifer. Abgetrennte Insektenbeine und Hautflügel. Viel war nicht von ihnen übriggeblieben. Zum Glück.

Ein menschlicher Körper lag mit ausgestreckten Gliedmaßen drei Schritte vom Helikopter entfernt. Vermutlich der Pilot.

»Wir können doch nicht die Einzigen sein, die überlebt haben.« Sie suchte die Umgebung ab.

»Nein, Ma’am. Aber die nächsten am ‘Kopter.«

Natürlich, weil sie als Letzte gesprungen waren. Oder eher Vorletzte. »Was ist mit Mikael?«

»Ma’am?«

»Der mit den grünen Haaren. Sie sind nach uns gesprungen.«

Er zögerte. »Korrekt, Ma’am.« Er schickte sich an, den Abhang hinunter zu gehen.

»Warten Sie!« Sie packte ihn am Arm. »Was wissen Sie? Haben Sie ihn beobachten können, während des Absprungs?«

»Ja, Ma’am.«

»Und?«

»Es war … nicht kooperativ.«

Einen Moment starrte sie ihn an. Mikael war in Panik geraten. Hatte er etwa wie ein Ertrinkender seinen Retter mit in den Untergang gezogen? »Sie denken, dass er tot ist?«

»Korrekt, Ma’am.« Er wollte sich umwenden, zögerte, dann fügte er an: »Das tut mir … furchtbar leid.«

Es waren exakt die gleichen Worte, die sie zuvor verwendet hatte, sogar die Pause hatte er an der gleichen Stelle gesetzt. Moira hatte das Gefühl, dass er sie aussprach wie Fremdworte. Oder kamen sie nur ihr auf einmal so schrecklich bedeutungslos vor? Erst Peter und jetzt Mikael. Und sie würde die Nächste sein. Welche Chance hatten sie, ganz allein in der Wüste?

Nein. Sie durfte sich davon nicht lähmen lassen. Rho war in einen Kampf verwickelt gewesen, an einem Fallschirm hängend. Er hatte unmöglich genau erkennen können, was sich an dem anderen Fallschirm ereignete. Vielleicht irrte er sich einfach. An diesem Gedanken musste sie sich festhalten. Mikael hatte überlebt, und sie würde es auch.

Rho hatte sich inzwischen an den Abstieg gemacht. Unter seinen Stiefeln geriet der lockere Boden ins Rutschen, Staub erhob sich.

Zögernd setzte sie selbst einen Fuß auf den Abhang, spürte, wie der Boden nachgab und ihre Füße einsanken. Es war nicht schwer, das Gleichgewicht zu halten, und so ließ sie sich von der Bewegung nach unten tragen. Als sie unten angekommen war, hatte Rho schon einen leeren Rucksack geborgen.

Der Pilot lag auf dem Rücken. Schwarze Uniform, schwarzer Helm mit Gesichtsvisier, ein Soldat wie die anderen.

Rho bemerkte ihren Blick. »Er ist tot«, sagte er, obwohl er es nicht überprüft hatte.

Wortlos ging sie zu dem Piloten hinüber. Hatten da eben die Finger in den schwarzen Handschuhen gezuckt? Moira beschleunigte ihren Schritt, kniete sich neben den Mann. Steine stachen in ihre Knie. Sie öffnete den Kragen der Uniform und legte die Finger auf die Carotis.

Ein schwacher Puls, nicht mehr als ein Flattern.

Eilig machte sie sich daran, den Kinnverschluss seines Helmes zu lösen, doch plötzlich hockte Rho neben ihr, packte ihr Handgelenk – nicht schmerzhaft, aber bestimmt. »Er wird es nicht schaffen, Ma’am.« Seine Stimme war ruhig, ohne jede Emotion.

Sie drehte ihr Handgelenk aus seinem Griff. »Das steht noch nicht fest.«

»Er ist zu schwer verletzt, Ma’am.«

»Wer ist hier der Arzt?« Sie ließ den Kinnverschluss aufschnappen. »Holen Sie mir lieber …« Sie stockte, als sie das hohle Keuchen hörte. Es klang gedämpft durch den Helm, doch Moira hatte es schon zu oft gehört. Die Lungen hatten die letzte Atemluft hinausgepresst.

Es war nicht nötig, seinen Puls noch einmal zu fühlen. Sie tat es trotzdem. Kurz erwog sie eine Herzmassage, doch selbst, wenn sie ihn hätte zurückholen können – sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu stabilisieren, nichts, womit sie ihn hätten transportieren können. Sie würde sein Leben zurückholen, nur um ihn erneut sterben zu lassen.

Rho ging, um weitere Dinge zu bergen, während Moira neben dem toten Piloten kniete. Noch ein junger Mann, der nie mehr nach Hause zurückkehren würde. Ob er Geschwister hatte? Eine Frau? Damit seine Familie zumindest Gewissheit bekam, musste sie seinen Tod dokumentieren.

Auf ihrem Screen rief sie den Social Reader auf und scannte seinen Chip. Auf dem Display erschien eine Zeichenfolge: ρ-SW-105, darunter »2nd Lt« und »Pilot«. Sie starrte auf die Zeichen.

Irgendwo dort hätte ein Name stehen müssen.

Trotz der Wüstenhitze stellten sich die Härchen an ihren Armen auf, als sie das erste Symbol der Zeichenfolge erkannte. Das war kein P. Es war ein griechischer Buchstabe. Der Buchstabe Rho.

Sie sah über die Schulter zurück. Rho spähte gerade in die abgestürzte Maschine. Rasch öffnete sie das Visier des Toten.

Das war Rho. Kein jüngerer Bruder, kein Mann mit einer Familienähnlichkeit. Es war das gleiche Gesicht.

Zuerst der Mann auf dem Dach, und nun dieser Pilot. Es war klar, was das bedeutete, bedeuten musste, aber das war unmöglich. Wissenschaftlich unmöglich. Inprinting-Defekte, Zellvereinzelung, Mitochondrien DNA, Leihmütter – die Begriffe wirbelten in ihrem Kopf. Sie hatte die Diskussionen in der Fachwelt nur am Rande mitverfolgt. Es war nicht ihr Fachgebiet. Aber eins wusste sie sicher: Die Ausbeute lebensfähiger Klone reichte nicht aus, um eine Armee einheitlicher Männer zu erschaffen.

Hinter ihr knirschte der Sand. Ihr wurde klar, dass er näher kam, dann stehen blieb, schräg hinter ihr.

»Sie hätten das nicht tun sollen«, sagte er.

Sie schluckte. Ihre Kehle fühlte sich trocken an. »Rho ist gar nicht Ihr Name, nicht wahr?«

Er antwortete nicht gleich. Vielleicht überlegte er, wie viel er ihr offenbaren konnte. Firmendaten. Vermutlich hätte sie nichts von all dem jemals erfahren dürfen.

Schließlich sagte er: »Rho ist meine Charge.«

»Charge«, wiederholte sie benommen.

»Charge Rho, Serie T, Reihe X, fortlaufende Nummer vier-drei.«

Sie stand langsam auf, wandte sich zu ihm um. »Haben Sie überhaupt einen Namen?«

»ρ-TX-43.«

Ihr Kopf war merkwürdig leer, während sie den Soldaten anblickte, in dessen Zügen sich keinerlei Empfindung zeigte. »Klone«, brachte sie schließlich hervor.

Rho nickte. »Ich muss Sie darauf hinweisen, dass jede Information über die Existenz und Herstellung von Klonen Firmeneigentum ist. Jede Veröffentlichung dieser Firmen­daten wird gerichtlich nach §2 CDA verfolgt und mit Bußgeld oder Gefängnis von bis zu zehn Jahren geahndet.«

Das war so ziemlich der längste Satz, den er gesprochen hatte, seit sie sich begegnet waren. »Mussten Sie das etwa auswendig lernen?«

»Ja, Ma’am.« Er zog einen Screen aus der Halterung am Gürtel, wischte darauf herum und gab ihn ihr. Das Display zeigte einen scrollbaren Text.

»Was ist das?«

»Die Verschwiegenheitserklärung. Sie müssen sie unterzeichnen.«

»Und wenn ich das nicht tue, erschießen Sie mich dann?«

»Nein, Ma’am.«

Sie wartete, dass er noch etwas sagte, aber das tat er nicht. Also hielt sie ihm das Gerät wieder hin. »Dann warte ich damit noch ein wenig.«

Er zögerte, den Screen zurückzunehmen. Auf eine solche Reaktion war er offenbar nicht vorbereitet worden. Eine Gelegenheit, die sich keine Journalistin entgehen lassen würde. Sie wandte sich halb ab, wischte den Text zur Seite, gelangte zum Menü. Richtlinien, Befehle, Meldung … weiter kam Sie nicht, denn er nahm ihr den Screen aus der Hand.

»Sie sollten seine Stiefel anziehen, Ma’am.«

Das war ein vernünftiger Vorschlag, ihre OP-Schuhe waren am auseinanderfallen. Trotzdem zögerte sie. Stumm sah sie ihm dabei zu, wie er den Chip des Toten scannte und Eingaben in den Screen machte. Als ihm bewusst wurde, dass sie sich nicht rührte, blickte er auf.

»Ma’am?«

»Es ist dumm, aber ich komme mir schäbig vor, einen Toten zu bestehlen.«

»Die Stiefel sind Eigentum von MinerVa Inc. Genau wie er.« Sein Blick richtete sich an ihr vorbei nach oben. Dann drückte er ihr den Scanner in die Hand. »Sie können die Ausfallmeldung machen.« Er kehrte zum Rucksack zurück, neben dem er seine Fundstücke gestapelt hatte.

Moira wandte sich um, versuchte zu erkennen, was er gesehen hatte. Da: dunkle Punkte in der violetten Weite des Himmels. Sofort füllte die Angst wieder ihren Magen. »Sind das Mantis?«

»Ja, Ma’am.«

Skrupel konnte sie sich nicht leisten. Sie setzte sich auf den Boden und zog dem Toten die Stiefel von den Füßen. Sie waren ihr zu groß. Sie legte die Sohlen der OP-Schuhe hinein, und so ging es. Dann nahm sie den Screen wieder auf. Die Bezeichnung des Toten war bereits eingetragen, ebenso die Ortsangaben in geographischer Länge und Breite. Sie bestätigte die Default-Einträge bei Datum und Uhrzeit.

»Was trage ich bei Meldegrund ein?«

Er schnürte den Rucksack zu. »Geben Sie ein ›E‹ ein. Dann weiß die Zentrale, dass er ausgeschieden ist.«

Zumindest, sobald sie wieder in Netzreichweite waren. Moira senkte den Blick auf das Display, auf die Daten ohne Namen. Dies war nicht der erste Totenschein, den sie ausstellte, doch bisher waren die Texte länger gewesen. »Und ›E‹ steht für …?«

»Exitus, Ma’am.«

Moira konnte sich nicht zu einer so kurzen Nachricht überwinden. Sie tippte In Erfüllung seiner Pflicht gefallen. Aber auch diese Worte, wurde ihr klar, waren nicht mehr als eine Floskel. Tatsächlich drückten sie nichts aus, was ein schlichtes »E« nicht auch gesagt hätte.

***

Rho

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