Читать книгу Rho - E. S. Schmidt - Страница 6

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Moira hatte sich für die Tube entschieden. Mit mehreren Hundert km/h durch eine Vakuum-Röhre geschossen zu werden klang zwar nicht wesentlich sicherer als ein Flug, aber in Zeiten von fliegenden Riesen-Insekten war man tief unter der Erde doch besser aufgehoben als am Himmel. Zumindest, wenn man nahe der Tagseite landen wollte. Niemand konnte sagen, wann die Mantis schwärmten. Auf Deuteragäa gab es keine Jahreszeiten.

Sie hob ihren Koffer in die Gepäckhalterung, setzte sich und schaute missmutig auf den Screen in der Lehne des Vordersitzes. Man hatte die Wahl, für die Screennutzung zu zahlen, oder die Werbung über sich ergehen zu lassen, die auch noch völlig asynchron zum Screen am Nachbarsitz verlief. Schrecklich.

Ihr Armbandscreen summte. Kein Anruf, sondern bloß eine Movie-Message von der strahlenden Nuri.

»Bülent zieht bei uns ein und belegt die Rote Phase. Das ist doch okay für dich? Ich bin so glücklich!« Herzchen schwebten ins Bild und zerplatzten zu Glitzersternchen.

Na großartig. Ein voll belegtes Bett und dazu noch ein schreiendes Baby. Vielleicht sollte sie die Wohnung gleich ganz dem glücklichen Paar überlassen und sich etwas anderes suchen. Sie musste ja nicht in New-Boston bleiben. Als Journalistin war sie ohnehin viel unterwegs und konnte praktisch von überall arbeiten.

Zum Beispiel von Green Sands aus. Wo Peter wohnte.

Ach verdammt, es war ein Fehler gewesen, sich im Scooter alte Fotos anzuschauen. Ein paar gemeinsame Tage, die alten Zeiten ein wenig aufleben lassen war okay, aber eine gemeinsame Zukunft hatten sie sicherlich nicht.

Sie seufzte und legte ihre Hand nun doch auf den Screen. Es war besser, noch einmal ihre Recherchen durchzugehen.

Es hatte unscheinbar angefangen: Mit dem Rückgang der MediCare-Umsätze in verschiedenen Bereichen, etwa der Dialyse. Seltsam genug, denn Dialyse-Patienten stellten ihre Behandlung nicht einfach ein, und Nierenleiden waren eine der neuen Zivilisationskrankheiten.

Bei der Suche nach den Gründen war Moira auf eine erstaunlich gestiegene Anzahl von Nierentransplantationen gestoßen. Und nicht nur Nieren waren häufiger gespendet worden. Auch Leber, Herz, Lunge, im Grunde alle wichtigen Organe – und auch einige weniger wichtige.

Unwahrscheinlich, dass es plötzlich so viel mehr Organspender gab. Moiras Verdacht war Bahi-A Inc. Der gesunkene Fleischpreis sprach dafür, dass der Lebensmittelkonzern die alte Technik, Muskelgewebe in Nährlösung wachsen zu lassen, endlich kosteneffizient gemacht hatte. Bahi-A wollte damit wohl in den medizinischen Bereich expandieren. Blieb die Frage, warum Bahi-A ein Geheimnis daraus machte, statt offensiv damit zu werben. Waren die künstlichen Organe etwa noch nicht ausgereift? Wurden hier Patienten ohne ihr Wissen als Versuchsobjekte missbraucht? Oder war die Herkunft der Proteingerüste fraglich, die unabdingbar waren, um ein so kompliziertes Organ wie eine Niere wachsen zu lassen? Vielleicht konnte Peter Licht in die Sache bringen. Er musste doch wissen, woher die Organe kamen, die er verpflanzte.

Mit Hilfe des Screens vergingen die sieben Stunden Fahrt erstaunlich schnell, und im Hafen von Green Sands ließ Moira sich im Strom der Menschen zu den Ausgängen treiben. Es ging auf die Phase Gelb zu, und wer jetzt nicht bald auf seinem Arbeitsplatz war, bekam Probleme. Nachholen ließ sich die verlorene Zeit ja nicht, wenn die Kollegen der Phase Rot ihrerseits pünktlich eintrafen und die Werkbänke beanspruchten. Als Corporate Citizen war man eben ein Zahnrad im Getriebe, das sich perfekt in das Räderwerk einpassen musste. Flexibilität war Luxus – ein Vorteil der Arbeit als freie Journalistin.

Allerdings endete er an der Wohnungstür. Die drei Phasen definierten die Arbeitsschichten. Über die Schlafphasen musste man sich mit seinen Mitbewohnern einigen. Wurde das Bett jeweils eine Stunde vor Phasenbeginn gewechselt? Anderthalb Stunden? Zwei? Wer das Bett mit zwei anderen, also rund um die Uhr teilte, bekam selten mehr als sieben Stunden Schlaf. Entsetzlich. Wenn Bülent tatsächlich bei ihnen einzog, würde sie das auf die Dauer nur mit intravenösem Koffein durchstehen.

Sie folgte den Menschen durch eine Automatiktür nach draußen – und lief gegen eine Wand aus Hitze. Auch das Licht in Green Sands war völlig anders als in New Boston. Nicht nur intensiver, sondern auch gelber, obwohl die Sonne von Deuteragäa ein roter Zwerg war. Auf der Abendseite des Himmels war nicht ein einziger Stern zu sehen. Erstaunlich, was sieben Stunden Fahrt durch eine Vakuum-Röhre ausmachten.

Auch in Green Sands betrieb S-Trans die Scooter. Moira nahm einen davon, und er entließ sie vor einem Gebäude, das eindeutig noch aus der Erstbebauung stammte. Unter dem bröckelnden Putz lugte grünsandiger Beton hervor.

Es gab natürlich ein Hotel im Corporate Village in Green Sands, und Peter hatte ihr angeboten, sie als offiziellen Medi­Care-Gast dort einbuchen zu lassen. Doch Moira hatte sich für eine kleine Pension in der Stadt entschieden. Sie lag nahe am Zentralkrankenhaus, das als mächtiger Klotz zwei Blocks in Richtung Abend aufragte. Dorthin würde sie morgen sogar laufen können.

Sie zog ihren Rollkoffer aus der drückenden Wärme der Wüstenstadt in einen kaum gekühlten Eingangsbereich. Hinter dem Empfangstresen saß ein junger Mann in einem Korbsessel und las ein Buch. Ein richtiges Buch, Tinte auf Papier gedruckt. Er schaute auf, legte das Buch zur Seite, und als er aufstand, knisterte der Korbsessel anheimelnd.

»Ms. Chakrabarti?«

»Sie können gern Moira sagen.«

»Ich bin Taehjung. Willkommen im Hotel Alice.« Er berührte den Screen auf dem Tresen und dessen Licht flammte auf.

Moira schmunzelte. »Ich dachte, Sie sind Screen-Allergiker.«

»Wie?« Er blickte hoch. »Ach so.« Er warf einen Seitenblick auf das Buch. »Ich vergesse nur immer, meinen aufzuladen. Außerdem mag ich den Geruch.«

»Papier hat einen Geruch?«

»Alte Bücher schon. Nach Staub, Holz und Druckerschwärze.«

Irgendwie fand sie das sympathisch.

»Ich habe schon alles vorbereitet.« Er drehte ihr den Screen zu. Moira prüfte die Angaben. Name, Adresse, Bürgernummer und Betrag. Dann fiel ihr Blick auf den Daumenscanner. Ziemlich altmodisch, eine vollgültige Unterschrift für einen simplen Bezahlvorgang zu verlangen, aber das passte zum Ambiente. Sie legte den Daumen auf das Feld, bis der Screen anzeigte, dass er alle Daten hatte: den Daumenabdruck und die Information aus dem in ihrer Hand implementierten Chip.

»Die Rechnung wird Ihnen elektronisch zugeschickt.« Taehjung zog einen Duplicator unter dem Tresen hervor. »Dann würde ich jetzt den Schlüssel aufladen. Sie haben Zimmer sieben.«

»Ich dachte ja, ich bekomme so einen.« Sie zeigte auf das Bord hinter ihm, wo an goldenen Haken Schlüssel mit klobigen Anhängern hingen.

Er lächelte. »Die sind nur noch Deko, eine Erinnerung an meine Urgroßmutter.«

»Ich nehme an, sie war Alice?«

»Ja, genau.« Er tippte An- und Abreisedatum ein und schob ihr den Duplicator hin, damit sie ihre Hand darauf legen konnte. »Der Schlüssel löscht sich automatisch um Rot vier an Ihrem Abreisetag. Bis dahin das Zimmer bitte räumen.« Er lächelte entschuldigend. »Leider haben wir keinen Aufzug, aber ich kann Ihren Koffer gern hochtragen.«

»Das schaffe ich schon, danke.«

Die Treppenstufen waren aus Holz und knarzten. In jedem Stock gab es vier Zimmer, ihres lag im zweiten. Sie legte die Hand auf die Klinke und ein grünes Licht zeigte die Entriegelung an.

Es roch nach altem Holz und frischer Wäsche. Gegen die Sonne waren die Außenjalousien herabgelassen. Das Dämmerlicht und kleine, liebevolle Details machten das Zimmer heimelig. Eine echte Blume in einer Vase auf dem Tisch, zwei bunt gesprenkelte Gläser neben der Wasserflasche, ein Aquarell an der Wand. Kein Standard-Druck, ein richtiges Aquarell. Vermutlich das Hobby eines Familienmitgliedes.

Mit einem Lächeln dachte sie daran, wie viel unpersönlicher ein Village-Hotel gewesen wäre. Viel mehr Luxus, aber zweckmäßig, unaufdringlich und glatt. Dort hätte das Zimmer nach der voreingestellten Duftvariante gerochen. Bevorzugen Sie Pinetree, Oceanbreeze oder Meadow? – Ich hätte gerne Holz und Wäsche, dankeschön.

Sie räumte ihre Sachen ins Bad, stellte die Zahnbürste auf das Ladegerät, dann fiel ihr die Kondompackung in die Hand. Seit der Trennung von Peter war sie nicht mehr zum Termin für die Spritze gegangen. Falls sie beide also morgen die Erinnerung an alte Zeiten aufleben lassen wollten, würde die Verhütung in seiner Verantwortung liegen. Sie nahm ein Kondom mit ins Zimmer und schob es in ihre Handtasche. Sicher ist sicher. Auf dem Bett lag der Koffer aufgeklappt, darin der schwarze Balconette-BH samt Höschen, an dem noch das Preisschild hing. Sie seufzte. Was tat sie hier eigentlich? Wusste sie, was sie wollte?

Ja. Sie wollte wissen, woher die Organe kamen, die Peter seinen Patienten einpflanzte. Aber hatte sie tatsächlich vor, Sex zu verwenden, um es zu erfahren? Nein, der Sex war nur … eine private Hoffnung. Eine Erinnerung. Er hatte rein gar nichts mit ihrer Recherche zu tun.

Andererseits, wenn er half …

Sie sah zum Spiegel neben dem Schrank und zwinkerte sich zu. Warum nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden?

***

Rho

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