Читать книгу Rho - E. S. Schmidt - Страница 4
RHO
Оглавление»Das Bett ist frei«, sagte Moira, als sie ins Wohnzimmer kam. Der Wandscreen hämmerte irgendeinen Partysong und zeigte zuckende Körper in Stroboskoplicht. »Screen, Lautstärke runter!« Der Lärm reduzierte sich um ein paar Dezibel.
Nuri saß am Tisch, vor sich verstreute Gurkenchips, und schälte etwas aus einer Plastikhülle. Eine Flasche JuiceUp hatte Ringe auf der Tischplatte hinterlassen. Nuris Jacke lag über dem Sessel und ihre Schuhe mitten im Raum. Moira kickte sie zumindest neben die Tür.
Manchmal kam sie sich vor wie Nuris Mutter, dabei war sie bloß acht Jahre älter als das Partygirl mit der violetten Igelfrisur. In solchen Momenten bereute sie es, bei MediCare gekündigt zu haben. Statt als respektable Ärztin in einem Corporate Village zu residieren, musste sie sich jetzt mit den Mieten in der City von New Boston herumschlagen, und das bedeutete: Wohngemeinschaft.
Nuri warf die Verpackung in Richtung Verwerter, dessen Klappe natürlich offenstand, und verfehlte ihn. Moira bückte sich, und bevor sie die Verpackung in den Schacht fallen ließ, warf sie einen Blick auf das Etikett. Schmuckanhänger Babyschnuller. Ein Klassiker unter den Symbol-Geschenken. Sie schloss die Klappe. »Du willst es ihm also sagen?«
Nuri drehte das neonfarbene Teil zwischen den Fingern. »Ich denke, er hat ein Recht darauf.«
»Er wird dir bloß reinreden. Außerdem wolltest du es nach der Geburt doch ohnehin freigeben.«
»Im Moment denke ich jeden Tag was anderes. Vielleicht hilft es, wenn ich es mit ihm bespreche.«
Moira schnaubte. »In der alten Welt haben die Frauen dafür gekämpft, selbst über ihren Uterus entscheiden zu dürfen. Und du willst dieses Recht jetzt wieder abgeben?«
Nuri stand abrupt auf, die Faust um den Anhänger geschlossen. »Wir leben aber nicht mehr in der alten Welt, sondern auf Deuteragäa. Und immerhin ist er der Vater.«
»Ganz prima. Am Ende bietest du ihm noch an, dem Kind seinen Nachnamen zu geben.«
»So ein Quatsch. Bülent ist doch kein Macho!« Nuri ging ins Schlafzimmer, aber in der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Eine Beziehung bedeutet eben, nicht nur an sich selbst zu denken. Aber was weißt du schon davon?«
»Nimm deine Jacke mit!«, rief Moira hinter ihr her, aber da hatte sich die Tür schon geschlossen. Offenbar hielt sich Nuri jetzt für eine Beziehungsexpertin, bloß weil sie schon über sechs Monate mit dem gleichen Mann zusammen war. Was trieb Menschen nur dazu, unbedingt eine Familie gründen zu wollen? Warum halste man sich freiwillig die Verantwortung für das Glück anderer Leute auf? Eines Partners und dann noch eines Kindes? Die meisten konnten ja noch nicht einmal für das eigene Glück sorgen. Hoffentlich waren diese Stimmungsschwankungen bald vorbei. Bis zur wievielten Woche hielten die noch gleich an?
Die Zukunft sah schwarz aus. Wenn Nuri nicht abtrieb oder das Kind freigab, würden sie sich die Wohnung mit einem schreienden Baby teilen müssen. Vielleicht zog Nuri ja auch zu Bülent, und dann müsste Moira sich einen neuen Mitbewohner suchen. Oder noch schlimmer, Bülent zog bei ihnen ein. Das Bett war zwar zu klein für ein Paar, aber er konnte ja in die Rote Phase wechseln. Dann wäre Schluss mit dem frühen Zubettgehen und dem gemütlichen Lesen zwischen den Kissen. Dann würde das Bett rund um die Uhr belegt sein. Keine Ausweichmöglichkeit mehr zwischen den acht Stunden, die jedem Bewohner zustanden.
Missmutig hielt Moira die Hand gegen den Wandscreen und der Sensor erkannte den zwischen Daumen und Zeigefinger eingepflanzten Chip. Der Screen schaltete zu den City-News, gleichzeitig drehten sich am Fenster die Jalousien und ließen mehr Licht herein. Ein Jingle wies Moira auf eine Nachricht hin, und sie verdrehte die Augen. Ihre Mutter, die sie mit dem indischen Mammee ansprach, hatte mal wieder eine lange Filmnachricht geschickt. Seit der Scheidung von Dad hatte Mammee sich mehr und mehr in die indische Community zurückgezogen und schickte nun immer wieder ausufernde Updates über das Leben von Leuten, die Moira bloß vom Namen her kannte. Heute hatte sie wirklich keine Zeit, sich das alles anzuhören. Stattdessen überflog sie das aktuelle Ranking der E-Sport-Mannschaften, während sie sich einen Zopf flocht. Praktisch für die Reise. Das dicke, schwarze Haar war ein Erbe ihrer indischen Vorfahren und nach ihrer Hautfarbe zu urteilen, waren darunter mehr Unberührbare als Brahmanen gewesen, worauf Moira durchaus stolz war. Es bedeutete, dass sie sich durchgebissen hatten. Sie warf sich den Zopf auf den Rücken. »Meldungen starten.«
Während sie ihre Frühstücksflocken in eine Schüssel rieseln ließ, erfuhr sie, dass DJ Hanna ihrem dritten Ehemann den Laufpass gegeben hatte, während die beiden anderen Mitglieder dieser Vierer-Ehe im Ski-Urlaub waren. Nic Ganby beschuldigte die Regisseurin seines letzten Filmes eines sexuellen Übergriffs, und die Kommission schrieb einen Wettbewerb für das Logo zur Hundert-Jahr-Feier der Besiedelung aus. Waren es tatsächlich nur noch zwei Jahre bis dahin? Sie sollte sich langsam überlegen, welches medizinische Thema sich für eine Reportage zu diesem Anlass eignete. Vielleicht eine geschichtliche Doku. Medizin auf Deuteragäa – in hundert Jahren von der Farkin-Sepsis zum therapeutischen Chatbot. Ach, viel zu generisch. Bestimmt arbeitete schon irgendjemand an dem Thema.
Vielleicht sollte sie sich lieber auf ein allgemeines biologisches Thema verlegen. Aber welches? Nachdenklich goss sie den Fruchtsaft über ihr Müsli. Wie mochte das gewesen sein, damals, vor hundert Jahren?
Die Entdeckung von Deuteragäa hatte auf der Erde Begeisterung ausgelöst. Ein Exoplanet von annähernd Erdgröße, in nur neununddreißig Jahren Flugzeit zu erreichen, und mit einer Sauerstoffatmosphäre! Leider hatte sich die Hoffnung auf eine andere intelligente Spezies nicht erfüllt. Oder vielleicht war das auch ein Glück, denn auf diese Weise konnte man schalten und walten, gestalten und ausbeuten, ohne Rücksicht zu nehmen. So, wie die Menschen es schon immer getan hatten.
»Ton aus.« Moira setzte sich auf den Schemel, der noch von Nuri angewärmt war, und während sie ihr Frühstück löffelte, folgte sie den schriftlichen Headlines am unteren Bildschirmrand. Hier liefen die Corporate News, für die sich die wenigsten interessierten, weshalb es dafür keine Filmbeiträge gab.
Vielleicht aber war es auch umgekehrt: Weil es keine Filmbeiträge gab, verminderte sich das Interesse. Eine Strategie der Konzerne, um die Aufmerksamkeit zu senken, insbesondere wenn sie etwas aus gesetzlichen Gründen veröffentlichen mussten.
Viel Neues gab es allerdings nicht. S-Trans kündigte ein Nachfolgemodell des P36 an. Dabei liefen die alten Scooter einwandfrei. Trotzdem würde vermutlich in einem halben Jahr keiner mehr auf den Straßen zu sehen sein. Auch gut. Die Scooter würden wenigstens wieder nach neuem Plastik riechen, und nicht nach dieser Mischung aus Hasch, Kotze und billigem Reinigungsmittel.
Dann kam eine kurze Meldung, nur vier Worte lang: Mantis Angriff in Breinen.
»Stopp«, sagte Moira. Bildschirm und Laufband froren ein. »Headlines! Nach links!« Die Buchstaben der Angriffsmeldung leuchteten. »Drilldown.«
Das frisch holo-tätowierte Hinterteil der Influencerin Ashira verschwand und machte einem kleingeschriebenen Fließtext Platz, der ohne Absätze auskam. »Vergrößern!«
Der Bildschirm gehorchte und Moira überflog die Meldung. Ein Dorf am Rand der Wüste war von nicht einmal hundert Mantis angegriffen worden. Glücklicherweise waren Mitarbeiter der MinerVa Inc., die in der Nähe eine Kupfermine betrieb, rechtzeitig vor Ort gewesen und hatten die meisten Bewohner evakuieren können.
Immer waren es Mitarbeiter von MinerVa, die frühzeitig von den Angriffen erfuhren und zur Rettung eilten. Als Deuteragäas größter Rohstofflieferant hatte MinerVa eine Menge von Minen, Bohrtürmen und Stationen überall auf dem Planeten verteilt. Das erklärte es wohl.
Nur achtzehn Tote waren zu beklagen, welche die Mantis vermutlich in Einzelteilen fortgetragen hatten, um ihre Brut damit zu füttern. Noch immer war unklar, was diese Angriffe der Wüstentiere auslöste. Inzwischen ging das seit fast zehn Jahren so, und die Angriffe auf die kleinen Wüstensiedlungen schafften es nicht einmal mehr in die Filmberichte der Nachrichtensender. Irgendwie misstraute Moira den offiziellen Erklärungen, dass die Mantis die Menschen als Beutetiere betrachteten. Warum hatten sie sie dann acht Jahrzehnte lang in Ruhe gelassen? Und überhaupt, warum räucherte man ihre Bauten in der Wüste nicht einfach aus? Zumindest jene, die so nah an der Dämmerungszone lagen, dass sie die äußeren Dörfer gefährdeten?
Ein Summton und das Pop-up auf dem Screen erinnerten Moira daran, dass es Zeit wurde aufzubrechen. Sie räumte ihre Schüssel in den Washer, ließ Chips und JuiceUp stehen und rollte ihren Koffer aus der Ecke, wo sie ihn vor dem Schlafengehen postiert hatte. »Screen aus, Lift rufen.«
Die Wohnungstür öffnete sich direkt in den Aufzug, der sie unten auf die Straße entließ. Sie hätte sich einen Scooter rufen können, aber trotz Koffer lief sie lieber die zehn Minuten bis zur nächsten Hauptstraße, wo es einen Ladeplatz gab. Wie alle Alleen in New Boston war auch diese so ausgerichtet, dass sie direkt auf die Sonne zulief. Die rote Scheibe stand wie immer am Ende der Häuserflucht, eine Handbreit über dem Horizont. Einen Tag-Nacht-Rhythmus gab es nicht auf Deuteragäa, das in gebundener Rotation seiner Sonne immer die gleiche Seite zuwandte.
Moira reihte sich an ihrem üblichen Kaffeestand in die Schlange ein und genoss während des Wartens das Licht und die Wärme auf ihrem Gesicht. Sie verbrachte wirklich zu viel Zeit in geschlossenen Räumen, und viel zu selten würdigte sie den Anblick der Hauptstraße mit ihrer Allee aus türkis belaubten Arobabäumen. Eigentlich liebte sie die City mit ihrem prallen Leben und ihrer bunten Vielfalt. Hier war alles so viel echter, so viel ehrlicher als in den Gated Communitys der Konzerne, die es in jeder Stadt gab. Man nannte sie Villages, obwohl es natürlich keine Dörfer waren, sondern einfach durch Mauern abgegrenzte Stadtteile. Und genau wie der Name hielt das Leben dort meistens nicht, was die schöne Fassade versprach.
»Viel vor heute?«, fragte Debbie, während sie geschäftig Moiras Kaffee mixte.
»Eine Reportage über Organtransplantationen.«
»Klingt interessant. Vielleicht sollte ich mir deinen Kanal doch mal abonnieren.«
»Tu das«, sagte Moira, obwohl der wissenschaftliche Fachkanal Debbie im besten Falle langweilen würde.
Es standen noch fünf Einsitzer in den Ladestationen, und Moira spähte prüfend durch die Scheiben, um den am wenigsten versifften ausfindig zu machen. Einer mit schreiend bunter Bahi-A-Werbung schien ein guter Kandidat zu sein. Moira hielt ihre Hand vor den Scanner und die Tür entriegelte. Eine freundlich-unpersönliche Frauenstimme begrüßte sie. »Willkommen, Doktor Chakrabarti. Wohin darf ich Sie bringen?«
»Zum Hafen, Halle B.«
Der Scooter wiederholte den Zielort und nannte den Preis. Nachdem Moira bestätigt hatte, surrte das Elektrofahrzeug los. »Ladezustand bei dreiundzwanzig Prozent«, informierte sie der Scooter. »Sie werden das Fahrzeug auf der Loomotra Avenue wechseln müssen.«
»In Ordnung. Reservieren.«
»Bestätige: Reserviere Wechselfahrzeug für Rot 7:25, Loomotra Avenue. Erreichung des Endziels ›Hafen Halle B‹ voraussichtlich um Blau 0:05.«
Moira sah auf ihren Screen am Handgelenk, der im Ruhemodus das dreifarbige Zifferblatt der Uhr zeigte – gelb, rot und blau für die drei achtstündigen Arbeitsphasen. Selbst nach fast hundert Jahren auf einem Planeten ohne Tag und Nacht, hatten sich die Menschen nicht vom 24-Stunden-Rhythmus ihrer alten Heimat verabschiedet.» Können wir schneller fahren?«
»Überschreiten der Geschwindigkeitsbeschränkung auf dieser Strecke verfügbar für dreiundsiebzig Credits.«
»Erwerben«, sagte Moira. Sie erhielt ohnehin regelmäßig Mahnmeldungen ihrer Bank, weil sie die Sparquote überschritt. Also konnte sie jetzt ruhig ein paar Credits auf den Kopf hauen und damit Strafzinsen vermeiden.
»Verstanden. Geschwindigkeit wird überschritten, neues Wechselfahrzeug reserviert. Erreichung des Endziels ›Hafen Halle B‹ voraussichtlich um Rot 7:42.«
Das klang schon besser. Moira lehnte sich zurück und wischte über den Screen an ihrem Handgelenk, um ihn zu aktivieren. Aus dem Lautsprecher des Scooters ertönte ein Jingle. »Auf Ihrer linken Seite sehen Sie nun das Restaurant Chez Piere mit einem wunderbaren Blick über …«
Moira stöhnte. »Werbung stumm schalten.«
»Das Stummschalten der Werbemitteilungen erhöht die Kosten der Fahrt um siebenundzwanzig-komma-drei Credits.«
»Erwerben.« Moira hatte im Moment keinen Sinn für solche Banalitäten und wollte ungestört ihren Gedanken nachhängen. Morgen würde sie Peter wiedersehen. Nach vier Monaten das erste Mal. Seit seinem Weggang hatten sie kaum miteinander gesprochen, und wenn, dann nur beruflich. Das war sicheres Terrain, ohne versteckte Vorwürfe oder verborgene Sehnsüchte. Ob das auch so bleiben würde, wenn sie erst einmal vor ihm stand, da war sich Moira auf einmal nicht mehr ganz so sicher.
Aber das war kein privater Besuch. Sie reiste für einen Bericht über seine neuen OP-Methoden an. Zumindest hatte sie das behauptet. Dass es ihr eigentlich um ganz andere Informationen ging, dass ihre Recherche Fragen zu den Organen aufgeworfen hatte, die er verpflanzte, würde sie ihm erst sagen, wenn sie beide im OP standen und er ihr nicht mehr ausweichen konnte.
Er war nämlich verdammt gut im Ausweichen. Eine siebenstündige Tube-Fahrt weit war er ihr ausgewichen, bis runter nach Green Sands. Okay, sie hatte die Beziehung selbst beendet. Was hatte er erwartet, als er plötzlich anfing von Kindern zu reden und einem gemeinsamen Leben in einem Village-Appartement? All dieses »uns« und »wir« hatte ihr die Luft zum Atmen genommen. Sie hatte Abstand gebraucht. Aber hatte er deswegen gleich eine neue Stellung so weit auf der Tagseite annehmen müssen, direkt am Wüstenrand? Er hatte gesagt, es sei eine großartige Karrierechance, und die Menschen im Morgen hätten schließlich auch ein Recht auf medizinische Versorgung. Ja klar. Manchmal dachte sie, dass er sie damit hatte bestrafen wollen. Oder vielleicht sich selbst. Warum mussten Menschen nur so kompliziert sein?
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