Читать книгу Rho - E. S. Schmidt - Страница 5

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Keith hatte natürlich einen Schlüssel, aber er wusste nicht einmal mehr, wo er ihn abgespeichert hatte. Diese Villa hatte schon lange aufgehört, ein Zuhause zu sein. Seit damals, als Phil es für immer verlassen hatte.

Auf sein Läuten hin öffnete ein Hausmädchen und knickste. »Willkommen, Mister Kendrick.«

War das dieselbe wie beim letzten Mal? Keith war sich nicht sicher. Trotzdem sagte er: »Danke, Silvia.« In diesem Haus hießen Hausmädchen Silvia. Das stand so in ihrem Arbeitsvertrag. »Ist er im Garten?«

»Nein, Mister Kendrick erwartet Sie auf der Dachterrasse.«

Wie alle Räume war auch die Eingangshalle lichtdurchflutet. Die großen Fenster und das Dach waren natürlich aus Spiegelglas, um den Papparazzi-Drohnen keine Einblicke zu gewähren. In der Ecke standen ein paar Kisten. Ein fremder Anblick in der durchgestylten, immer ordentlichen Villa.

Keith hob einen Deckel an und zog den erstbesten Gegenstand heraus. Ein kitschig verschnörkelter E-Bilderrahmen. Er hatte früher auf der Kommode in Mutters Schlafzimmer gestanden.

»Ihr Vater hat einige Dinge aussortiert. Das geht an die City-Shelter, sobald alle Geräte gewiped wurden.«

Probehalber betätigte Keith den Schalter an der Rückseite. Tatsächlich hatte der Rahmen noch Strom, stieg wahllos irgendwo in der Endlosschleife von Filmsequenzen ein. Zwei Jungen – Phil und er selbst – fein gemacht für irgendeine Veranstaltung. Oper? Firmenfeier? Phil, der die Augen verdrehte. Statt eines Smokings hatte er unbedingt die rote Jacke tragen wollen. Er hatte immer etwas Besonderes sein wollen.

Keith schaltete das Gerät aus und steckte es zurück in die Kiste. Dabei fiel sein Blick auf eine durchsichtige Schachtel mit Schachfiguren. Schach. Vater hatte zwischen seinen Söhnen alles zu einem Wettkampf gemacht. Schulnoten, Sport, Benimmregeln. Schach war einer davon, und er wurde stets in Vaters Arbeitszimmer ausgetragen. Verbissen hatte Keith gegen Phil gekämpft, hatte unter Vaters Augen Niederlage um Niederlage kassiert, bis zu jenem denkwürdigen Tag. Phil war elf gewesen, er selbst gerade einmal acht, und trotzdem hatte er den älteren Bruder in die Falle gelockt. Oh, sie war perfekt aufgebaut. Phil bemerkte sie nicht, bis sie zuschnappte. Als sie ihm klar wurde, starrte er mit offenem Mund auf das Brett. Er wollte aufgeben, die Niederlage eingestehen, aber Vater stand vom Schreibtisch auf und verlangte, dass bis zum Ende gespielt wurde. »Ein Kendrick gibt nicht auf. Und wenn dir verlieren zu wehtut, dann musst du eben gewinnen.« Und Keith sorgte dafür, dass es wehtat, kostete seinen Sieg aus, räumte unter Vaters Blicken eine Figur nach der anderen ab und trieb den schwarzen König erbarmungslos über das Spielfeld. So stolz, so selbstzufrieden sonnte er sich in Vaters Anerkennung. Er bemerkte nicht, was es Phil antat. Vielleicht wollte er es nicht bemerken. Bis Phil den weißen König packte und ihn mit solcher Wucht auf das Brett schlug, dass er zerbrach.

Keith öffnete die Schachtel. Tatsächlich, da war der weiße König. Das Kreuz auf der Spitze saß schief. Vater hatte die Figur geklebt und im Arbeitszimmer wie einen Pokal aufs Regal gestellt. Phil hatte danach nie wieder Schach gespielt. Wenn er jetzt daran dachte – vielleicht war das der Anfang gewesen. Danach hatte Phil sich verändert.

»Kann ich Ihnen etwas zu trinken hochbringen?«, fragte Sylvia.

Keith blickte auf. »Einen Gin Tonic, danke.« Den weißen König steckte er in die Hosentasche.

Wenn man auf die Terrasse trat, war der erste Eindruck der Eiffelturm, dessen Spitze malerisch in die rote Glutscheibe der Sonne hineinragte. Natürlich war dieser Turm um einiges größer als das Original auf der Erde.

Unter Keith und bis zur French Bay dehnte sich das MinerVa-

Village von Parisneuve aus. Saubere, weiße Häuser, durchgeplante Straßen, Grünflächen, Freizeitanlagen, die Firmen-Uni, Shopping-Malls. Seit Anbeginn der Zeit hatte der Mensch die Welt seinen Bedürfnissen angepasst, und endlich war es ihm gelungen, eine ideale Welt zu erschaffen. Sicherheit, Bequemlichkeit, aber auch Herausforderungen und jede Möglichkeit, sich zu entfalten, alles war im idealen Maß vorhanden, alles verfügbar.

Doch diese Welt reichte nur bis zu der weißen Mauer links von ihm. Dahinter lauerte die City, von vielen schönfärbend ›Altstadt‹ genannt. Für Keith war es der Moloch. Das Drecksloch, in dem sich der Abschaum der Gesellschaft sammelte. Die Loser, die Drogenabhängigen, diejenigen, die nicht wussten, was sie wollten. Unzufrieden mit allem, ohne Richtung und Ziel, die alles und jeden um sich herum vergifteten.

Was willst du eigentlich, Phil? Willst du diese Familie zerstören? Willst du, dass Mom einen Nervenzusammenbruch hat?

Ich weiß nicht, was ich will, verdammt! Ich weiß es nicht! Wenn ich es wüsste, wäre ich der glücklichste Mensch auf der Welt.

Das mit Mom hatte Phil tatsächlich hinbekommen. In irgendeinem Slum in der City von Parisneuve hatte Phil sich mit einer Überdosis selbst erledigt, und weil er seinen Bürgerchip gelöscht hatte, musste ihn jemand identifizieren. Als der Pathologe Phil das Tuch vom Gesicht zog, brach Mutter zusammen.

Keith hatte seinen Bruder in dem ausgemergelten, schmutzigen Körper kaum wiedererkannt. Mutter schon. Kaum ein halbes Jahr später hatte sie sich selbst das Leben genommen.

Keith atmete tief ein. Es waren immer die gleichen Erinnerungen, die dieser Ort auslöste. Er wandte sich ab von dem Ausblick über Parisneuve, den manche Menschen als grandios bezeichnet hätten. Vater fand ihn bloß angemessen.

Kendrick Senior repräsentierte die MinerVa Inc. seit dreißig Jahren im Konzernrat. Jetzt saß er in einem Liegestuhl, neben sich eine Sauerstoffflasche, von der ein dünner Schlauch zu seiner Nase verlief. Er las. Einen Konzernbericht oder ein Fachblatt. Über diesen Screen war noch nie ein Roman oder auch nur ein Film geflimmert. Noch so ein fundamentaler Dissens zwischen ihm und Phil.

»Wie geht es dir, Dad?«

Jetzt erst blickte der Senior hoch. Die Bewegung verursachte ein Zischen des Atemschlauchs. »Wenn es dich interessiert«, er holte rasselnd Luft, »lass ich dir von Dr. Paul den Befund schicken.« Ungeduldig wies er auf einen bereitstehenden Stuhl.

Keith setzte sich. »Du klingst nicht gut.« Die OP brachte immer Erleichterung. Offiziell wurde ihm die Lunge ausgepumpt. Hinterher war Vater für zwei, drei Jahre wieder ganz der Alte. Niemand bei MinerVa hatte den CEO jemals so gesehen, wie er jetzt hier saß, keuchend und mit einem Sauerstoffschlauch unter der Nase. »Können die die OP nicht vorziehen?«

Der Senior winkte unwillig ab. »Die Aktionärsversammlung.«

Natürlich. Um nichts in der Welt hätte Vater die verpasst, auch wenn er nur virtuell dabei sein konnte. Aber nach der OP würde er eine Weile nicht einsatzfähig sein. Darum hatte er sie auf den Tag nach der Aktionärsversammlung gelegt.

»Wie oft, denkst du, können sie das noch durchziehen?«

»Unwichtig. Du hast von Breinen gehört?«

»Natürlich.« Der zweite Angriff in diesem Monat. Das war eine ziemliche Steigerung der Frequenz.

»Du musst nach Noshades.« Wieder ein mühsamer Atemzug. »Wie umgehen die Mantis … unser System?«

Solche Gespräche mit Noshades würde Vater niemals einem Videocall anvertrauen, da war er geradezu paranoid. Trotzdem war das ein Novum. »Du schickst mich allein nach Noshades?«

»Dr. Paul verbietet mir das Reisen, und damit«, Vater hob den Schlauch, »habe ich kaum den notwendigen Nachdruck.«

Keith lächelte. Das würde Helen Nakamura gar nicht gefallen. Bei der letzten Sitzung des Boards hatte sie festgestellt, dass MinerVa weder ein Familienclan noch eine Erbmonarchie sei. Das würde sich allerdings noch zeigen. Er schob die Finger in die Hosentasche und spürte die glatte Rundung des weißen Königs. Konkurrenz machte ihn nur stärker.

Noshades war nicht nur das Lieblingsprojekt des CEO. Diese abgelegene Niederlassung in der Wüste entwickelte sich mehr und mehr zu einer der profitabelsten Abteilungen des Konzerns – und genau deswegen war sie auch eine der geheimsten. Nicht einmal die anderen Executive Officers wussten genaueres darüber. Der Leiter von Noshades unterstand direkt und ausschließlich Kendrick Senior, und der teilte seine Informationen nur mit seinem Sohn.

Vater nickte. »Außerdem musst du Trakev zügeln. Er darf die Einheiten nicht in Siedlungen schicken.«

»Unsere Einheiten sind die einzigen, die mit den Mantis umgehen können.«

»Eigenschutz ist Sache der Siedlungen.«

»Keine der privaten Sicherheitsfirmen kann mit unserem Equipment aufwarten.«

Vater schlug auf die Armlehne. »Dann sollen sie uns bezahlen!«

Ein Kaff wie Breinen würde dafür kaum die erforderlichen Mittel aufbringen können. Die konzernfreien Siedlungen waren ständig in Geldnöten.

Vater musterte ihn scharf. »Haben wir uns verstanden?«

»Klar, Dad. Ich kümmere mich darum.«

***

Rho

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