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In klassischem Geiste

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Nach Meinung von Theo Möglich und Frau Dagmar war ihr Büblein in die beste aller Welten hineingeboren worden. Seit Kurzem lebte man also im gigantischen Universum auf dem einzigen Planeten mit vernünftigem Dasein: in heiterer Helligkeit, frei von Bedrohung, Krise und Krieg. Welche Hoffnung für die Völker und Klein Guido, dem fraglos beneidenswerte Entfaltungschancen offenstanden.

Auf mannigfache Weise suchte der Vater Dispositionen und Begabungen des Sprösslings zu ermitteln. Beim Abhorchen und Abtasten gewahrte er das erstaunliche Phänomen, dass Herz und Milz des Babys rechtsseitig rumorten, während sich die Leber aus verrückter Linkslage meldete. Der Medikus zweifelte keinen Augenblick an der höchsten Bedeutung dieses Naturwunders, zumal die Umkehrsymmetrie möglicherweise auf eine einzigartige Hirnstruktur mit rechtem Sprach- und Schreibzentrum schließen ließ. Nicht einmal Goethe, den man einst nach der Abnabelung „für tot“ befunden wie Guido, hatte eine derart elitäre Organbildung besessen! Hingegen traute der Vater dem klassischen Knaben zu, was er an seinem eigenen beobachtete, nämlich gewitzte Reaktionen bei Pinselstrichen über Augenbraue, Nase und Fußsohle, Kopfnicken in Richtung feiner Flötentöne und eine frühe Fähigkeit zum Aufblasen winziger Spucke-Luftballons. Als die Mutter vom angeblich gezielten Erkenntnislächeln sprach und es zu den Intelligenzleistungen zählen wollte, demonstrierte Theo, wie das Jüngelchen eine abscheuliche Faschingsmaske ebenso fröhlich anlächelte wie ihr Gesicht.

Fortan widersetzte sie sich energisch der Absicht ihres Mannes, das Kind episodisch in einer stummen Zone aufwachsen zu lassen. Er behauptete, wenn Guido keine nachahmenswerten menschlichen Laute vernähme, könne man von ihm eines Tages das Ur-Wort erwarten, das vermutlich Aufschluss gäbe über Sprache und Nationalität der ersten Hominiden. – „Rückständigkeit“, sagte Frau Dagmar verächtlich. Leider verhinderte ihr typisch weibliches Unverständnis die Durchführung des fabelhaften wissenschaftlichen Experiments, was den Doktor verdross, bis sich nach zehn Wochen ein anderes linguistisches Erlebnis anbot.

Der eingeborene Sohn begann zu brabbeln. Obwohl sich seine endlosen Lall-Monologe anfangs so anhörten, als sei er nicht ganz richtig im Kopfe, registrierte der unterscheidungswillige Vater bald eine erstaunliche Klangfülle. Er bemerkte nach- und nebeneinander Vokale, Labiale und Dentale, ferner französische Nasalgongs, englische Lispler, kanarische Pfiffe und sudanesische Schnalzer. Zusammen mit Delfinischen Klicks und hochkomplizierten Gurgel-, Schnupf- und Puptönen verfügte Guido bereits im sechsten Lebensmonat über ein beispielloses internationales Lautrepertoire.

Schließlich entwickelte er aus selbstimitatorischer Virtuosität heraus das Offenbarungswort: Dada. „Na also!“, riefen die Eltern entzückt und ergötzten sich an dieser ersten Manifestation modernen Künstlertums.

In den folgenden Tagen schaute der Knabe mit großen Forscheraugen umher. Gemäß der Goethe‘schen Sentenz von der Begehrlichkeit des „Unendlichen“ streckte er seine Ärmchen nach vorbeifliegenden Vögeln, Sonneninseln und dem Vollmond aus. – Infolge der allmählichen Verdoppelung seiner grauen Hirnmasse fühlte er sich seit der Nebelzeit dazu angeregt, rutschend und kriechend den Wohnraum zu vermessen. An Tür und Schrankwand vorbei robbte er wie durch die glasierte Ziegelschlucht einer altbabylonischen Prozessionsstraße. Jeder Aufblick eröffnete ihm kolossale Dimensionen, weshalb ihm Tisch- und Stuhlbeine erschienen wie Kiefernstämme im Teppichmoos und das Sofa wie ein flämischer Wallach. Über bunt gestreifter Leinenwand lugte ein goldgelber, hochnäsiger Kopf hervor, lustig anzusehen, weil er rumpf- und bewegungslos auf einer Art Brummkreisel thronte. Neben ihm stand plötzlich giraffenlang die Mutter. Sie kickte zwei Bauklötze, die Guido betastete und beroch, bevor er sie wie High-Hat-Becken ergriff und in schnellem Rhythmus gegeneinanderschlug.

Zum Winteranfang summierte Dr. Möglich den bisherigen Nahrungsverbrauch des Babys. Dabei fand er es bemerkenswert, dass außer Milch, Haferschleim, Zwiebackbrei, Zucker, Obst- und Gemüsepapp auch 10 Gramm Kinderpuder, 7 Gramm Erde, 2 Gramm Haare und ein Wäscheknopf zu bekömmlicher Verköstigung gedient hatten.

Die Weltzeituhr

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