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Zeitansage, 10. Jahr (Fortsetzung)

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19. Juli: Die weißen Schäfer hatten sich vorübergehend aus dem Land Arkadien am Rande des Münchener Hofgartens zurückgezogen. Stattdessen waren verurteilte Bilder und Bildwerke an Schandsäulen aufgehängt worden. Zur Eröffnung der Ausstellung „Entartete Kunst“ erschien der Schowi-Boss in Begleitung seiner Gala-Ganoven. Als der verkrachte „akademische“ Maler und Kehlkopfartist die improvisierte Rednertribüne betrat, gewahrte er voller Rührung eine einzigartige Huldigung: Infolge der geschickten, ästhetischen Anordnung sämtlicher Glatzköpfe des Publikums leuchtete ihm aus dem Raum sein Name Ahi entgegen. Grüßend schlenkerte er die Hand wie eine Fliegenklatsche, bevor er mit rau-gutturaler Knödelstimme erklärte:

„Elendes Gesocks erfrechte sich, uns jahrzehntelang Kulturkotze zuzumuten. Darum habe ich die schizophrenen Ausgeburten fünftrangiger Kleckser, die sich nur der Gunst jüdischer Schleimscheißer erfreuten, an den Pranger stellen lassen.“ (Lärmend beklatschten die Getreuen jedes Gossenwort.) „Wir Aufrechten verdammen alles, was sich im Gefolge des Blauen Reiters auszubreiten wagte: Kubistischen Blödsinn im Kubik, expressionistische Seelenjauche, futuristisches Getto-Chaos und anderes Krickelkrakel.“ (Prasselnder Beifall.) „Angewidert wenden wir uns ab von Bilderfratzen und den gepinselten Überresten menschlicher Gesichter, Arme und Beine. Empört betrachten wir die deformierten Darstellungen deutscher Mütter in Gestalt geiler Dirnen, die schweinischen Klosettwandschmierereien und Besudelungen heldischen Soldatentums. – Dagegen preisen wir unsere gesunde Muskel-Malerei, die Veranschaulichung heroischer Nordmänner und des gewaltigen Prankenschlags.“ (Jubelnder Beifall.) „Verewigt seien Blutzeugen und Bauernfrühstück, Kameradschaft und Krieg, wozu Wagnerfanfaren erklingen und das Verlangen nach würzigem Münchener Bier erwecken sollen. Ich erwarte, dass Musik künftig nach ihrem Erfrischungswert und die bildende Kunst nach Gesichtspunkten der Atemtechnik beurteilt wird. Von unserem neuen Lebensgefühl aus missbilligen wir die verkrampfte Haltung einer Venus von Milo, die Porträtierung hebräischer Untermenschen durch Rembrandt und die schlappen Modelle El Grecos, von den Sauereien neuerer Kulturbolschewisten gar nicht zu reden. Attacke!“ – „Zickezacke, Heil!“

Mit finsteren, verächtlichen Blicken zog die Schowi-Garde an den Gehängten vorüber. Christus tröstete Barlachs Apostel, ließ bei Corinth den Ecce-Homo-Ruf ertönen und schrie auf in Noldes Kreuzigungstriptychon. Während Lehmbrucks Knieende wie eine Gerte schwankte, schossen Klees goldener Fisch und die blauen Pferde von Marc aufgeschreckt in den Krieg von Dix hinein. Kokoschkas Windsbraut riss die Türen der Ausstellungshalle auf: Alltäglich nahmen zwanzigtausend Besucher Abschied von den achtbaren Geächteten.

Einige Tage später: Die Gefolgsleute defilierten ehrfürchtig vor dem Palast, in dem der Retter wohnte. Die ganze Nacht hindurch hatte in seinem Studierzimmer das Licht gebrannt, und heilig-ergriffen gedachten sie des einsamen Regenten, der nur Arbeit kannte und demütig die Last der Erwählung und Verantwortung trug. Ohne Frauen und Vertraute, ohne Freunde und Trauer lebte er droben, einzig um das Wohl der Nation besorgt.

Als Ahi in der elften Stunde erwachte, sorgte er sich vorzugsweise um sein Aftersausen und das Ekzem am linken Unterschenkel. Nach hypochondrischer Überprüfung der Körperfunktionen döste er eine lange Weile und erinnerte sich an die kurzweilig-exklusive Nacktrevue und den „Fledermaus“-Film von gestern Abend. Ein hübsches, erfrischendes Singspiel, das Appetit auf Esslinger Sekt weckte, zudem lehrreich in der Methode, das Volk zu zerstreuen und zum Einverständnis mit Schicksalsfügungen zu erziehen. ‚Glücklich ist, wer vergisst …‘ Ach, niemals vergaß er das süße Nichtstun in seiner Wiener Zeit! Ausgestattet mit Erbschaftsgeldern und den kleinen Erträgen der Kopisterei hatte er sich unbekümmert dem Theater, der Bohème und der Malkunst widmen können, wobei professorale Dummköpfe freilich seine Begabung nicht erkannten. Heute würden sie staunen, die Trottel, denn Genie war im Grunde Faulheit und kam auch im Müßiggang zu dem Ziel, sich beispielsweise als der größte Deutsche zu offenbaren.

Durch derartige Gedankenarbeit ermuntert, beschloss Ahi, gemächlich aufzustehen und sich mit Zeitungslesen, Papierbekritzeln und Kuchenessen zu beschäftigen. Befriedigt las er vom 100 000-Kilometer-Marsch mischpokiger Jedermanns in siebzigjähriger Daseinsfrist und der kasernierten Knabenschulung im alten Sparta, ferner von Forschungen zur Gewinnung höchster Spannungen und Energien. Um ein Uhr wandelte er zum Empfangssaal hinüber, wo er vor versammelten Gangstergranden beim frugalen Mahl ausschweifend zu monologisieren begann.

Nach bescheidener Würdigung seiner eigenen Verdienste um die Überwindung der Arbeitslosigkeit und die militärische Stärkung des Reiches sprach er von der Notwendigkeit, das Errungene zu festigen. Kundig verwies er auf das Beispiel der Spartaner, die bereits in früher Jugend diszipliniert und in Feldlagern zu Kriegstüchtigkeit und Autoritätsgläubigkeit erzogen worden seien, bevor sie vom 20. bis 60. Jahr frohgemut ihrer Wehrpflicht genügt hätten. – Dieses Glück der perfekten staatlichen Lebensregelung wolle er endlich auch dem deutschen Volk bescheren. Darum wünsche er, dass die Menschen keinen Augenblick des Tages allein gelassen würden. Zwar müsse man leider den Schlaf noch als Privatsache betrachten (nicht ohne regierungstreue Träume zu fordern), doch im Übrigen sollten die Leute stets eine rege Schaffenskooperative bilden und sich zu gemeinsamem Urlaub, Gelage und störfreiem Rundfunkempfang zusammenfinden. Jeder möge des anderen Wächter sein. Um die Geburtenfreudigkeit zu heben, verordne die Obrigkeit patriotischen Beischlaf und pro Frau ein Plansoll von vier Kindern. Den Malern, Literaten und Musikern falle die Aufgabe zu, seine Leit-Ideen auszugestalten und Männer und Frauen für das schöne, arbeitsame Schowi-Dasein zu begeistern. Wie jüngste Vorgänge zeigten, gäbe es allerdings noch Künstler und Intelligenzfatzken, die sich einbildeten, sie könnten weiterhin ihre absurden, freiheitstrunkenen Ausgeburten anbieten. Falls die Herren nicht bald begriffen, was man von ihnen erwarte, werde zu überlegen sein, ob man sie nicht, sozusagen, ausrotten solle – oder dergleichen.

Der Boss redete in charmantem Plauderton, während er vegetarische Kost genoss. Sein Gesicht verriet keinerlei Empfindungen. Bisweilen wischte er mit der Serviette das bärtige Bürstchen über dem schmallippigen Mund ab. Er trank weder Bier noch Wein, sondern dünnen Tee, den er reichlich süßte. Früher als gewohnt, erhob er sich. Sein Wink galt dem Bauinspektor Alverich, den er aufforderte, ihn ins „Empyreum“ zu begleiten.

Durch den Diplomatengang schritten die beiden Männer zur „Galerie“ hinüber, in der Ahi Scheinwerfer aufflammen ließ: Ein Modell der Hauptstadt des künftigen Germanischen Weltreiches wurde sichtbar. Von der maßstabgerechten Attrappe eines Triumphbogens erstreckte sich die Prachtstraße des Berliner Zentrums, gesäumt von den Gebäudeklötzen der Ministerien, Luxushotels und Vergnügunsstätten. Am Ende der Avenue erhob sich der leuchtende Dom des Volkes, in dem der Imperator einstmals vom goldenen Thronsessel aus eine Versammlung von 150 000 Gefolgsleuten zu überschauen gedachte.

Zwischen den Spielzeughäusern kauernd, fantasierte Ahi: „Ich werde diese Metropole gigantischer ausgestalten als Mekka, Athen und Rom. Aus allen Ländern der Erde sollen die Menschen hierher pilgern, nachdem ich jedes Konkurrenzkapitol zerstört und alles Großartige von der ägyptischen Sphinx bis zum Eiffelturm am Spreeufer aufgebaut habe. Nicht jeder sieht mich, wenn ich auf der höchsten Tribüne stehe, doch jeder fühlt mich. Und in einem gewachsenen Felsblock hinter der Oper werden Steinmetzen mein ewiges Antlitz meißeln als Monument für Jahrtausende.“

Die Weltzeituhr

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