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Der liebe Gott hat gepetzt

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Während Guido auf dem Wallachsofa schaukelte, versuchte die Mutter, ihn für Lebensreize und die psychologische „Einübungstheorie“ zu gewinnen. Mit einschmeichelnden Worten reichte sie ihm Gummiring, Klapper, Klötzchen und Puppe, damit er sich sinnvoll beschäftige. Er nahm das Spielzeug behutsam von der linken in die rechte Hand und warf es nacheinander über die Lehne auf den Boden. Dada flog ins Dada und bestätigte den ersten Grundsatz der Thermodynamik. – Frau Dagmar hob die misshandelten Gegenstände liebevoll auf, streichelte sie und präsentierte sie erneut. Doch jedes Mal beförderte der Knabe das Dargebotene ungerührt und krachend zurück ins Nichtsein. Erledigt! Nun offerierte sie ihm ein Bilderbuch und zwei Münzen mit silbernen Reichsadlern. Scheinbar überrascht schaute Guido auf und prüfte Barschaft und Album. Dann verurteilte er alles zum freien Fall in die Zero-Tiefe. Ein unheimliches Benehmen! Offenbar übte er den Umgang mit der Dingwelt, indem er sie degradierte.

Theo fand das in Hinblick auf eine gewisse Philosophie sehr klug: Ob denn das kindliche Tun nicht genau das symbolisiere, was gescheite Erwachsene heute über das Dasein dächten? Die Mutter hingegen meinte, niemand könne es sich gegenwärtig leisten, Geld in die Gosse zu schütten. Um des Weiterlebens willen müsse man die sogenannte Wegwerfwelt wenigstens mit der Gier auf Neues betrachten. – Selten hatte sie ihren Mann derart unmanierlich lachen sehen.

Wenige Tage später erlebte sie jedoch die Genugtuung, dass sich Guido durchaus für seine Umwelt interessierte, und zwar auf dem Umweg über die Sprache. Da sich bestimmte Objekte beim besten Willen nicht wegschieben, bestimmte Antworten nicht schadlos verweigern ließen, begann er allmählich, über das universelle Dada-Hoheitsgebiet hinaus Bezeichnungen zu erfragen. Immerhin schien es nützlich zu sein, das eigene Subjekt, vertraute und fremde Personen, Auffälliges und Erwünschtes benennen zu können. Durch Fingerzeige und forschend-forderndes „Was?“ bemächtigte er sich zunächst einer Hundertschaft von Hauptwörtern, wodurch diese überraschend ihre Hauptsächlichkeit einbüßten und Dienst tun mussten in seinem Sprachgebäude. Er brauchte sie nur zu rufen, und sogleich bewies ihr promptes Erscheinen eine ihm rätselhaft verliehene Vollmacht. Das war komisch und verführerisch zugleich. Lange glaubte er an das fantastische Einerlei von Worten und Wesenheit, weshalb er recht viele Begriffe zu ergreifen suchte.

Die Sprachleine erwies sich auch als Orientierungshilfe, als er erste, torkelnde Schritte durch das Zimmerlabyrinth wagte. Auf An- und Notrufe kam jedes Mal ein beruhigendes, unterrichtendes Echo. Im Seemannsgang und bald in ekstatischem Tanz bewegte sich Guido an Stubenkulissen vorbei und in Möbelhöhen, um die dritte Dimension zu erkunden. Er drang buchstäblich vor bis zum Grunde des Hausrats. Geschwind wie ein Dieb räumte er Schubladen, Regale und Schrankfächer aus und fand enttäuschend begrenzte Leere. Papierkörbe und Mülleimer leerte er; Blumenvasen kippte er um; aus Kissen schüttete er Eiderdaunen; Bücherbände ließ er kurzweilig herunterpurzeln von Borden, deren Höhlen zum Hineinkauern und meditativen Studium des Nichts verlockten.

Da Frau Dagmar die lebhafte Praktizierung der Einübungstheorie und die Neuverteilung des Wohnungsinventars selten rechtzeitig gewahrte, bemühte sie sich, das Erkenntnisstreben ihres Sohnes zu zügeln, indem sie ihm das Märchen vom lieben Gott erzählte, der alles sehe. Guido erkundigte sich nach dem Aufenthaltsort des unerwarteten Aufpassers. „Ist er da drin? Oder dort?“ Obwohl der Himmelschef (nach Auskunft der Mutter) auf Erden ungefähr so herumflog wie Licht und Wind und aus Zimmerwinkeln duftete wie Dr. Möglichs Zigarrenrauch, vermutete der Knabe, dass sich Gott vor allem in jenem hochnäsigen, goldgelben Brummkreiselkopf über der Buchwand verberge. „Aber das ist doch Goethe!“, bemerkte Mama amüsiert. „Wenn dein Vater ein dickes Buch schreibt, baut man ihm vielleicht auch so ein Denkmal.“

Schon am nächsten Tag gelang es Guido, mittels Tisch und Sessellehne zum geheimnisvollen Aussichtsbrett emporzuklimmen und sich in schwindelfreiem Balanceakt dem glänzenden Haupt zu nähern. Hier oben konnte der heilige Spion nicht beiseite gucken, weshalb es glücken musste, ihm ein Taschentuch über die Augen zu werfen. Doch im letzten Moment passierte ein Malheur. – Als die Mutter den schweren Bronzegong hörte und alarmiert herbeilief, rief ihr das Büblein kleinlaut entgegen: „Ja, ja, nun hat dir der liebe Gott gepetzt, dass ich ‚Töte‘ runtergeschmissen hab.“

Die Regierung mit Gottes Hilfe bewährte sich nur vorübergehend, denn zu Beginn des dritten Lebensjahres machte Guido zunehmend Souveränitätsansprüche geltend. Hatte er bisher von sich gleichmütig in der dritten Person gesprochen, so übersprang er jetzt den zweiten Rang und definierte sich entschlossen als Ersten und Einzigartigen. Stolz entdeckte er sein Ich mit Ellbogen und dem Drang, anderes Ich zu verdrängen und zu bezwingen. Gewiss wusste er noch nicht immer, wo die Grenzlinien des Ichs lagen, aber genau wusste er, dass er das Wollen wollte und die Bekräftigung der absoluten Freiheit des Willens. Darum sagte er grundsätzlich zu allem nein, was nicht seinem eigenen Entschluss entsprang, und zwar sowohl zu anmaßenden Ess- und Schlafaufforderungen der Erwachsenen wie zu unerbetenen Zärtlichkeiten oder Naschgaben.

Um Begehrtes zu erlangen, Lästiges abzuwehren und Elternenergien durch seinen kapriziösen Willen zu blocken, bediente er sich einer probaten Methode. Falls die Mutter beispielsweise das schandbare Unrecht beging, den ihm zustehenden viertelpfündigen Schokolade-Tagestribut zu verweigern, oder nicht daran dachte, die Mahlzeiten den Erfordernissen seiner Spielpassion anzupassen, holte er tief Luft, und dann brüllte er los. Mit puterrotem Kopf schrillte er abwechselnd wie Gellflöte und Dudelsack, setzte das Schlagzeug der trommelnden Fäuste und stampfenden Füße in Bewegung und erreichte binnen Kurzem die respektable Lautstärke von achtzig Dezibel. Zur Unterstreichung seines sakralen Zorns biss er in den Teppich; jede Aufrichtung verhinderte er, indem er sich versteifte wie eine Gipsfigur. Oh, wie genoss er es, wenn Frau Dagmar ihn durch törichte Popoklapse oder gutes Zureden zur Räson zu bringen versuchte! Wie beseligend fand er ihre sanften Trost- und Begütigungssprüche, die ihn schließlich dazu bewogen, wieder „lieb“ zu sein! Infolge der Effektivität unterzog sich Guido der Mühe, den Trotztrick täglich bis zu dreißigmal zu produzieren.

Ungefähr nach fünf Wochen geruhte der Diktator, sich das eigene Schauspiel mal mit verteilten Rollen anzusehen. Er inszenierte folgenden Auftritt: „Mama, jetzt musst du sagen, dass du Kuchen essen willst.“ – „Ich habe gar keinen Hunger.“ – „Du sollst aber!“ – „Na schön, ich möchte Kuchen haben.“ – „Den kannst du nicht kriegen, verdirbst dir den Magen, es gibt gleich Mittagbrot.“ (Soufflierend:) „Nun musst du schreien und trampeln und aufn Tisch hauen, damit du doch kriegst.“

Frau Dagmar stutzte; parodistisch plärrte und lärmte sie. Der Bengel quiekte vor Vergnügen!

Leider verlor das Böckchendrama seitdem an Reiz. Die Eltern waren nämlich plötzlich so gemein, Konflikte zu vermeiden, indem sie mehrere Entscheidungen zur Wahl stellten und Wutanfälle gänzlich unbeachtet ließen. Welche Demütigung, nicht mehr alles wollen zu dürfen und sich aus Verbannungen brav in die Familiengunst zurückschleichen zu müssen!

Derartige Erlebnisse tragischer Vereinsamung führten dazu, dass Guido allmählich eine Welt nach seinem Wunsche schuf. Er bemerkte die überraschende Vielförmigkeit von Klötzen und Stöcken, die sich wispernd als Häuser, Bäume oder Wagen anboten und gleichzeitig wie Menschen redeten. Noch mehr gefiel es ihm, sich selbst zu verwandeln und mit Illusionen zu umgeben.

Unermüdlich unterhielt er sich mit „Daus“, einem Allzweckwesen, dessen Transformationen sämtliche Gesetze der Physik und Biologie außer Kraft setzten. Daus konnte zum Beispiel als fächerflossige Grunzgroppe in Papierschnipselgestalt durch das Wasser der Luft schwimmen und im Winter als Dampfvogel aus dem Mund flattern. Manchmal glich er einem Schopfgibbon, der sich an der Mittagstafel rekelte und viel ausgeschimpft werden musste, weil er ungezogen schmatzte, manschte und kleckerte. Ein andermal hopste er (stellvertretend für seinen untadeligen Herrn) mit schmutzigen Schuhen auf dem Sofa herum, oder er wusste die Angehörigen zu erfreuen, indem er Schlüssellöcher mit Brotkrümel verkleisterte und unpikierte Salatpflanzen zu Blumensträußen bündelte. Außerdem erfüllte Daus wichtige Beschützerfunktionen. Aus der Steckdose vermochte er, Funken zu sprühen wie eine Wunderkerze und Guidos Widersacher furchtbar mit „Totmachen“ zu bedrohen. Schließlich schwebte der hilfreiche Geist allnächtlich als undurchdringlicher achtäugiger Regenschirm über dem Bett des Schläfers.

Nach dem Erwachen stand der treue Begleiter sofort wieder zu Diensten. Er tat schön vor dem blondbeschopften Gebieter, den es heute danach gelüstete, aus tschibukartiger Strohhalmpfeife zu schmauchen, pantomimisch imaginäre Lakritze-Luftbonbons zu verspeisen und sich selbst in Luft aufzulösen. Während die Mutter rufend suchte, lief der zaubermächtige Knabe stundenlang mit Tarnkappe durch die Wohnräume, leise kichernd, himmlisch-heimlich und unsichtbar.

Nun lebte Frau Dagmar periodisch mit zwei Nichtexistierenden oder Versteckspielern zusammen, denn seit einigen Wochen sah sie auch Theo nur noch zu den Mahlzeiten. Wenn sie ihm die jüngsten Schelmenstückchen des Söhnchens schilderte, mimte er beiläufig Interesse, aber sie gewahrte, dass er weder auf die Kinderspäße achtgab noch auf ihre zarte Einladung, sich wieder mal „was Hübsches“ zu gönnen. „So?!“, sagte er abwesend. „Um sich die Lippen nass zu machen, muss man nicht küssen.“ Eilig entschwand er ins Arbeitszimmer.

Früher hatte sie geglaubt, seine desillusionierenden Reden bedeuteten eine Schutzreaktion gegenüber gefühlsmäßiger Ergriffenheit. Es konnte doch nur ein Medizinerulk und nicht sein Ernst sein, die Liebe als „vernunftwidrigen Fortpflanzungsmechanismus“ und „schlimme Krankheit“ zu bezeichnen, ausgelöst durch „liederliche“ innersekretorische Vorgänge beim Anblick sexueller Reizzonen! Aber neuerdings zweifelte sie bisweilen an seiner seelischen Empfindungsfähigkeit und der Bereitschaft, erotische Vergeistigungen anzuerkennen. Ob er etwa mit der laxen zeitgenössischen Moral übereinstimmte, mit dem Zeitungsgeschwätz vom Revisionsbedürfnis der Ehe und Kult des Nackten? Ob es gewagt gewesen war, diesen nahezu zwanzig Jahre älteren Mann zu heiraten?

Seltsame Grübeleien! Als sie ihn am Sonntagabend besorgt auszuhorchen versuchte, berichtete er zunächst ausweichend von einem sensationellen Artikel im Fachblatt. „Kürzlich“, sagte er, „wurde ein junger Assistenzarzt aus der Provinz entscheidend angeregt durch den Aphorismus: ‚Der sicherste Weg zum Herzen einer Frau geht durch die Vagina‘“ „Eine sehr virile Marginalie“, meinte sie.

„Bitte schön: Mein Kollege hielt Ausschau nach einem vergleichbaren schwarzen Kanal in seinen eigenen Innereien und erinnerte sich an die blauen, dünnwandigen Blutbahnschläuche. Kurz entschlossen anästhesierte er eines Tages seine linke Ellenbeuge, rief ‚Vena cephalica, öffne dich!‘ und schob einen geölten Katheter in Stromrichtung aufwärts: bis zum Schlüsselbein und dann, unter Selbstkontrolle vor dem Röntgenschirm, durch die obere Hohlader in die rechte Herzkammer.

Toll, nicht wahr?“

„Ja, gewiss! Und warum erzählst du mir das?“

Er blickte sie halb erstaunt, halb spöttisch an. „Gedenke des Alters“, antwortete er leise. „Vielleicht ergibt sich mal die Notwendigkeit, ein tugendsames Herz in beschriebener Weise mit Traubenzuckerbalsam beträufeln und auffrischen zu müssen. Im Übrigen hoffte ich, meine Probleme würden dich interessieren.“

„Wieso: deine Probleme. Hast du einen ähnlich gefahrvollen Unsinn vor?“

„Wie dürfte ich es wagen, mein Schatz! Trotz gelegentlicher Unaufmerksamkeit verstand ich, dass dir der liebe Gott vieles petzt.“

Sie lachte und fühlte sich ein bisschen durchschaut. Doch er missdeutete ihr Lachen und Fragen als Zeichen eines heiter-verblüffenden Mitwissens um seine geheimsten Ideen, weshalb er nach kurzer Pause erklärte: „Du kannst schon recht haben mit deinen Befürchtungen. Ich gäbe etwas darum, wenn ich ebenso verrückt zu experimentieren vermöchte wie der Mann aus der Provinz und etwas fände, was das Leben sinnvoller macht. Vermutlich müsste man es zu verlängern suchen. Wie? Das weiß ich noch nicht, obwohl bestimmt nicht durch Injektionen von Stierhodenhäckerle.“

„Um Himmels willen! Daran hast du gedacht?“

„Nein, nein! Ich wünschte mir nur genug Zeit zum Lesen und Überlegen. Der kleine Sprechstundenalltag befriedigt mich nicht mehr. Am liebsten hielte ich Sprechstunden ab für die ganze Welt, die heute dringend einen Herz-Arzt braucht.“

Die Weltzeituhr

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