Читать книгу Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher - Страница 23
Zeitansage, 9. Jahr
Оглавление12. Juli: Während der Himmel das Land der rechtschaffenden Schowis segnete und dort eine Rekordernte reifen ließ, bescherte er dem Land der protzigen Yankees arge Hitzerekorde um sechzig Grad, katastrophale Dürre, Heuschreckenplage und (wie in einem Super-Western-Film) stündlich hundert Tote.
18. Juli: Andächtig lauschten die Aufrechten Deutschen den Nachrichten über die Erfolge der Erneuerungsbewegung in Marokko und Andalusien. Als der oberste Falange-General seine Entschlossenheit bekundete, zum Zwecke der heiligen Machtergreifung gegebenenfalls „halb Spanien zu erschießen“, telegrafierte ihm Ahi entzückt Glückwünsche, verbunden mit der Ankündigung bombiger Mithilfe und der Entsendung manöverlustiger Flugzeuggeschwader.
14. August: Anlässlich der Olympischen Spiele herrschten in Berlin zwei Wochen lang die Hellen Nächte. Hunderttausende Glühbirnen, griechische Feuer, Lampions, Scheinwerfer und Strahlendome erfüllten die goethesche Forderung: mehr Licht! Tagsüber besichtigten anderthalb Millionen Gäste und Reporter den üppigen Festschmuck (50 000 Quadratmeter Fahnentuch, 70 Kilometer Eichenlaubgirlanden), diverse Weiheräume und die Auslagen humanistischer Literatur in den Schaufenstern zur Welt. Beunruhigung durch die Broschüre „Lernen Sie das schöne Deutschland kennen“ mit Empfehlung eines Besuchs in „Sonderbehandlungsräumen“ der Konzentrationslager. Dennoch stimmten die Globetrotter begeistert in den Halleluja-Chor aus Händels „Messias“ ein, dieweil der Retter Ahi das Stadion betrat. Freundlich begrüßte er die Repräsentanten des Auslandes, huldvoll ehrte er die nationalen Triumphatoren, doch unmutig verließ er jedes Mal die Ehrentribüne bei Medaillengewinnen der „Untermenschen aus dem Dschungel“, dem Siegesquartett des Negers Jesse und anderen skandalösen Vorfällen. „Deutschland von Norwegen 2:0 geschlagen!“ Welch hochverräterische Schlamperei! Es war Pflicht der arischen Deutschen, Überlegenheit zu demonstrieren.
19. August: Vier Wochen nach dem Sieg der Falange in Granada kamen die Häscher in das Haus der Geborgenheit und verhafteten Frederico. Oh, wäre er im bedrohten Madrid geblieben oder rechtzeitig über den Ozean zu Freunden geflohen! Aber er hatte sich nach andalusischen Hirten, Gärten und der Sprache der Blumen gesehnt, nach lyrischem Kopfweh und den pianistischen Mysterien Debussys. – Nun saß er im Gouverneurspalast gefangen und sagte leichthin zu Angeline, die ihm Kaffee und blonden Tabak brachte: „Dichter tötet man nicht.“ Unmöglich konnten Poeme der Wahrheit strafwürdig sein, denn Wahrheit galt seit je als hohes Ziel der Erkenntnis und sittlichen Bemühung. Dennoch: Überall breitete sich Angst aus wie Nebel im Tal und erreichte auch ihn. Erinnerung an seine Verse gegen miese Bourgeoisie, Gendarmen mit Schädeln aus Blei und die Diebe von Brot und Öl des Volkes; Bekenntnisse zur Freiheit in der Liebe, Liebe zur Freiheit und zu den Unfreien, die um ihr Menschenrecht stritten. – Die Schwarze Legion vergaß nichts. Kurz nach Mitternacht fuhren sie ihn nach Viznar und von dort auf dem Mönchsweg zum dunklen Gewölbe. Im Morgengrauen eskortierten sie ihn gefesselt zum Quell der Tränen. Erschrocken gewahrte er die letzte Wahrheit, Flügel aus Moos, Schwefelblüte über dem Mund und den blauen Reiter. Doch kein Geklage! Dem Tod muss man auf die Lippen sehen. Stille. Schüsse. Unter den Zweigen des Ölbaums verblutete Spaniens großer Dichter.
23. November: Durch anklagende Dichterworte war es überraschend gelungen, den Berichterstatter Os aus den Händen der Folterknechte zu befreien. Im Berliner Staatskrankenhaus empfing er die Nachricht von seiner Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis. „Dank für die Ehrung“, sagte er. ‚Leider bin ich bald am Ende‘, dachte er. Und er schwieg beredt.