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Unschärferelationen

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Zur Freude der Eltern benahm sich der Säugling korrekt und gemäß den Lehrbüchern in der väterlichen Bibliothek. Rund um die Uhr verpennte er zwanzig Stunden. Sobald er erwachte, protestierte er (tränenlos weinend) gegen sein Geworfensein in das Diesseits, bis er sich mit Klimmzug an eine heranflatternde Hand schmiegen konnte: Fabelhafter urmenschlicher Klammerreflex, erstaunlicher Fußgreifeffekt! Nun hüpfte der Knabe, zwischen dessen Schultern ein bienengroßes Muttermal prangte, wassertretend im emaillierten Heimteich oder züngelte hingebungsvoll an mütterlichen Papillen. Ein paar Tage lang sabberte aus seiner eigenen Brust etwas Milch, ohne ihn zum Selbstversorgertum anzuregen. Bisweilen gewann er den Trost traumloser Deltawellen, indem er aus der Daumenpraline Lethe lutschte und reibungsenergetischen Schotengeruch genoss.

In der siebenten Existenzwoche erfreute er seine Eltern durch eine tägliche Stimmband-Kräftigungsstunde. Das bescherte ihm die Erfahrung der Allmacht, denn infolge seines Geschreis belebte sich der halbmeterhohe, glockenförmige, schielend betrachtete Hohlraum über ihm. Saxofonähnlich quäkend schuf das Baby Gestalten. Wie fünffingrige Seesterne, Melonenquallen oder schnurrbärtige Riesenmuschelkrebse kamen Körperglieder angeschwommen, dazu das Lächeln, Küsse, das Streicheln und Laute verschiedener Tonfrequenz. Mit starkem Krakeelen konnte er Dinge beschwören und festhalten.

Bei Lustfahrten im Korbwägelchen (Vollballonreifen, Durchschnittsgeschwindigkeit 1 m/sec.) entdeckte Klein Guido, wie er seine mobilen Teile in den Bühnenhimmel zu schieben vermochte. Amüsiert betastete er seine Rumpfanhänge, Hände, Finger, Füße und Zehen, die sich selbständig zu machen schienen, ohne dass voraussehbar war, wann es wo strampeln, zucken und rucken würde. Obwohl der Junge unaufhörlich zappelte, ließen sich Lokalität, Wahrscheinlichkeit eines Impulses und Häufigkeitsverhältnis im Bewegungschaos nicht gleichzeitig bestimmen.

Manchmal nahm ihn die Mutter zu sich ins Bett, um ihm das Gefühl der Geborgenheit zu geben. Dort geschah eines Tages im Halbschlummer, was Martin Luther im Hohen Liede trefflich dolmetschte: „Er steckte seine Hand durchs Loch, und ihr Leib zitterte dafür.“ Als Frau Dagmar es ihrem Mann erzählte, lobte er lachend die ersten Anzeichen genialer Empfindungsart. Sie antwortete: „Wünsche es nicht! Auf Wunderkinder wartet meistens ein früher Tod.“

Die Weltzeituhr

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