Читать книгу Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher - Страница 11
Zeitansage, 2. und 3. Jahr
Оглавление24. Oktober: Als die Jobber und Clubmitglieder der New Yorker Börse am Abend ihre Geschäftsbücher prüften, gab es nichts zu summieren, sondern nur ungeheuer viel zu subtrahieren. Ei, verflucht: Schon bald nach Eröffnung der Corbeille waren bislang hochbegehrte Wertpapiere und Garanten der Weltwirtschaftsblüte hingeblättert worden wie Herbstlaub. Schwindelerregende Verkaufsaufträge und Baisse-Angriffe hatten zur vorsorglichen Verstärkung der Sicherheitswachen geführt. Mit Entsetzen beobachteten die Finanzmänner das Dahinschwinden des Aktienkapitals von General Motors, Radio- und United Steel Corporation. Der Ticker karikierte maschinelle Überproduktion, indem er endlose Zahlenschlangen ausspie und inflationär machte. Trotz blitzflinker Kursnotierungen verzögerten sich seine Kundeninformationen über die Marktlage immer mehr, bis der Rückstand zwei Stunden betrug und für nahezu jede Minute Rekordverluste von einigen Millionen Dollar auswies. Panik, Nervenzusammenbrüche, Raserei! Doch, Herrschaften, liebet einander! Infolge des raschen transatlantischen Absaufens von fünfzehn Milliarden Dollar breiteten sich die Wogen der Verzweiflung auch auf europäische Großbanken und Handelshäuser aus. „Nur einer kann uns retten“, sagten die christlichen Geldsäcke im Deutschen Reich, und am lautesten sagte es der „Retter“ selbst.
Im nächsten Spätsommer, 10. September: Die versammelten Leute im Berliner Sportpalast erwarteten weder Eishockeyspiel, Boxkampf noch Sechs-Tage-Rennen, sondern die Wundershow der Schowis. Violette Wandbespannungen, „Heiligen“-Bilder und gedämpfte Lichteffekte schufen eine Stimmung wie vor katholischem Messopfer oder theatralischer Gralsfeier. Mit einem Male flammten Jupiterlampen auf. Fahnenschwenken, Trommelwirbel und Fanfaren kündigten die närrische Hauptattraktion des Münchener Zirkus Krone an, den Boss Ahi, der im Redesport innerhalb einer Woche den Rekord von zwanzig dreistündigen Lall-Monologen aufgestellt hatte. Nach bejubeltem, forschem Erscheinen legte der Kehlkopfathlet seinen Feldherrnmantel ab und grüßte, wobei er die rechte Hand wie eine Fliegenklatsche schlenkerte. Dann feuerte er aus dem Terzerol einen Schuss ab und trat ans Mikrofon. Mit rau-gutturaler Stimme rief er: „Elendes Gesocks!“ – Am folgenden Morgen berichtete die nationale Presse, jede Losung sei mit „stürmischem Beifall“ bedacht worden. In der Tat beklatschte das Publikum die staunenswerte Begabung des Bosses, stundenlang Spruch an Spruch zu reihen und heilig-nichtssagend die Üppigkeit seines „Genies“ darzutun. Wie ein Hypnotiseur wiederholte er eindringliche Formeln: Schandbares Unrecht sei einem Volke geschehen. Schandbuben und vaterlandslose Verbrecher hätten die Ehre des Volkes verkauft. Wie ein Mann aufstehen müsse das Volk gegen „schurkische Ehrabschneider, Weltverjudung und bolschewistische Versauung“. Während Ahi diese Reizworte in die Menge schleuderte, trommelte er mit den Fäusten aufs Pult und gelangte auf einen Höhepunkt. „Attacke!“, brüllte er unvermittelt. „Zickezacke, Heil!“, schrien die Schowis im Chor. „Attacke – Zickezacke!“ Dreimal reproduzierte sich das erprobte rituelle Responsorium, in dem die Getreuen eine Weltkriegsreminiszenz des Erretters oder einen hochkünstlerischen Raptus vermuteten. – Kurze Verschnaufpause! In dem Bewusstsein, dass er sich an eine gebildete, poesie- und philosophiekundige Nation wandte, schmückte der Boss sein Marathon-Kolleg nun mit dichterischen Redeblumen aus. Unerschrocken charakterisierte er die „Kulturkotze“ der bestehenden Republik. Was denn die sogenannten Stars und Intelligenzfatzken des verkommenen Novembersystems vorzuweisen hätten? Nichts als Schweinereien! Stinkenden Romanrotz, üble Nuttendramen und hinterfotzige literarische Gemeinheiten über edelrassige Frauen und Familien. Das müsse anders werden, tobte Ahi und stampfte mit den Füßen. In einer von ihm geführten Regierung würden die Deutschen keine rechtlosen Hottentotten mehr sein, sondern Kämpfer. Infolge der Notwendigkeit kämpferischer Lebensbehauptung gäbe es keinen Unterschied zwischen Krieg und Frieden. Eiskalt müsse ein Revolutionstribunal Köpfe rollen lassen und unwertes Leben zum Gnadentod bestimmen. „Ausrotten!“, grölte er. „Attacke!“ – Vier Tage später wählten achtzehn Prozent des Volkes das verheißene Heil.