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Mein lieber Jab!

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Es ist ja ’ne Wucht, dass Du mich durch ein Suchbüro aufgestöbert und gefunden hast. Mensch, Junge, nach drei Jahren endlich wieder etwas von Dir zu hören – darüber bin ich ganz jeck vor Freude! Jedenfalls vielen Dank für Deinen Brief vom 10.8.47, der mich beinahe pünktlich an unserem „Gedenktag“ erreichte. Seinerzeit, vor einem Dezennium, wussten wir noch nichts von der großen Pleite, die uns bevorstand: Von überstürzter Pennäler-Pensionierung“, Kommissdienst und Krieg, Niedergang und Heimatlosigkeit. Aber trotz ständiger Gefahr des Ablebens überlebten wir, um schließlich aufzuleben. – Jetzt schmeiße ich hier in Berlin (zusammen mit meiner Mutter) einen Laden. Wir handeln mit Büchern gemäß dem Sprichwort: Während der Klügling noch denkt, handelt der Grünling schon. Ein guter Job, lieber Jab! Und Du bewachst inzwischen Hamburger Nachtlokale? Da Du stets ein unternehmungslustiger Boy warst, wundere ich mich nicht darüber. Erzähle doch bald mal etwas mehr von deinen Abenteuern.

Nun erinnerst Du an unseren Blutsbrüderschwur vor zehn Jahren. Auch ich entsinne mich genau, wie wir mit dem Fahrrad in den Donnerwald fuhren und schweigend unter ein Mistelkreuzholz traten. Dann desinfizierte ich mit sechzigprozentigem Äthylalkohol eine Nähnadel und unsere Zeigefinger, ritzte die Kuppen und ließ das Blut in eine halbgefüllte Mineralwasserflasche tröpfeln. Nach feierlichem Beistandsgelöbnis tranken wir die sanguinische Limonade und riefen Hugh!

Merkwürdigerweise fällt mir sonst von Anno dunnemals wenig ein. Vielleicht deshalb, weil wir eine anonyme Gruppe bildeten und uns gewissermaßen zu entpersonalisieren trachteten. Die Psychologen behaupten ja, dass man in diesem Alter gefühlsarm sei, zur Nivellierung neige und keine Besonderheit wünsche außer jener, abgewetzt und schmuddlig herumzulaufen „wie alle“. Dennoch muss es gemeinschaftliche Begeisterungen gegeben haben. Sobald ich nämlich beginne, Geschichtliches exakt zu datieren, tauchen plötzlich die dazugehörigen individuellen Geschichten auf. Ob es Dir ebenso geht? Die Angel der Historie verhilft dazu, Provisorisches und längst Vergessenes aus dem „privaten“ Unterbewusstsein heraufzuziehen, wobei es nicht selten zu Überraschungen kommt. Zum Beispiel glaubte ich immer, ein katastrophales, mich stark beunruhigendes türkisches Erdbeben habe in unserem „Schwurjahr“ stattgefunden, aber eine Zeittafel korrigiert mich und weist das Ereignis zwei Jahre später aus. Unser Schutz- und Trutz-Eid hingegen hing ganz sicher mit einer gerade aktuellen, tragischen Himalaja-Expedition zusammen.

Weißt Du noch, wie wir uns im Kino den „Nanga Parbat“-Film anschauten? Uns faszinierten sieben deutsche Sahibs oder Höhenforscher, die durch Kaschmirland zur dajarmurischen Schneegrenze ritten. Dann erblickten wir grandiose Bilder und Szenen vom Aufstieg: vermummte Gestalten mit Sonnenbrillen, Stecken und Halteseilen; einen sich windenden, tausendfüßlerähnlichen Trägertross am Steilhang; Zeltlager auf nackten Plateaus; die Artilleriesalven der Gletscher, deren Eisschollen aus den Flanken des lichtumfluteten Gipfels niederkrachten, am Felsgestein zerbarsten und in winzige Kristalle zerstäubten. Ungeheuer erregend war die Belagerung der sturmumtosten, eingenebelten „Gralsburg“ überm Firngrat des Silbersattels; endlich die Vorbereitung des Angriffs auf eine der höchsten Zinnen der Welt, bis in kühler Mitt-Juni-Nacht eine Lawine über das Camp hinwegrollte und die tapfere Mannschaft begrub. – In jenen Tagen gelobten wir beide uns „Treue bis in den Tod“ wie die Leute vom Nanga Parbat.

Heute, zehn Jahre später, hat noch immer kein Sterblicher auf der weißen Spitze gestanden, ebenso wenig auf den anderen sechs Götterbergen des Himalaja. Allerdings vermute ich, dass dennoch bald tüchtige Sahibs bis zum Scheitelpunkt der Erde bei Kilometer 8 840 emporkraxeln und beweisen werden, was Menschen vermögen. Ich meine die Menschen schlechthin. – Schon als uns Lehrer Krause seinerzeit weismachen wollte, andersrassige und semitische „Untermenschen“ seien dumm, faul und zu keiner hervorragenden Leistung fähig, bezweifelte ich es, weil ich an den schwarzen Weltrekordler Jesse, an die mutigen, geschickten einheimischen Begleiter der Hochgebirgsforscher und an Annette Holdheimer dachte. Welch bedauernswerte Pädagogik, die uns aufzuwerten suchte, obwohl es gar nichts Bestes, sondern nur bestens Spezialisiertes gibt! Welch arme Schulmeister, die nichts wissen und sagen durften von Heinrich Heine, Karl Marx, Gustav Mahler und Albert Einstein, von altägyptischer und chinesischer Weisheit!

Dein Brief, lieber Jab, wirkt auf mich offenbar wie Lackmuspapier, das sich in der Lauge des Erinnerungsstromes vergissmeinnichtblau färbt. Dabei überrascht es mich, dass ich scheinbar so unvertraulich mit Dir plaudere, aber vom privat gelebten Leben blieb eigentlich nur rührend Anekdotisches, während sich denkwürdige Erinnerungen im Allgemeinschicksal auflösen. Darf ich fortfahren wie im Selbstgespräch? – Also, dieweil das indische Grabmal im ewigen Schnee versank, schaufelte sich eine andere Entdeckertruppe wiederholt frei: die Russen auf dem Nordpol. Dass dort vier Männer monatelang auf einem driftenden, brüchigen Eisfeld ausharrten und hundert Gefahren trotzten, fanden wir respektabel. Sicherlich erinnerst Du Dich genauso gut, wie ich an die Berichte von den entlegensten Bewohnern am Schnitt- und Ruhepunkt des blauen Planeten, von ihrem Wigwam in Mitternachtssonne und Polarnacht, Stiemwetter und Gewächte. Jederzeit konnte das Frostfloß zerspringen, umkippen und in die Presse von benachbartem Packeis geraten, aber obgleich die Scholle tatsächlich mehrmals splitterte und auf wenige Quadratmeter zusammenschmolz, loteten ein Hydrobiologe und ein Geophysiker seelenruhig die Ozeantiefe aus; sie fischten Plankton und trieben meteorologische Studien. – Als ein Oberschüler eines Tages renommierte, er habe mit einem selbstgebastelten Amateurfunkgerät Signale der Station UPOL aufgefangen, kannte unsere Begeisterung keine Grenzen. Denkst Du noch daran, wie wir uns auf dem vereisten Mühlbach eine Schneeburg bauten, Messlatte und Funkantenne aus Ästen aufrichteten und Schlitten zum „Provianttransport“ bereitstellten? Ja, und dann kam der alte Krause vorbei und erkundigte sich nach unserem Spiel. „Wir sind die Russen vom Pol!“, riefen wir. – „Schämt euch, Kinder! Das sind doch unsere Feinde.“

Weißt Du, Jab, was mich im Zusammenhang mit der sowjetischen Expedition erschreckte, war die Erkenntnis vom schwankenden Grund. Meine Mutter erklärte mir damals, dass nicht nur Eisschollen driften, sondern auch Kontinente. Vor etwa hundert Millionen Jahren, sagte sie, habe sich Südamerika von Afrika verabschiedet und nach Westen abgesetzt, und Indien sei von der madagassischen Gegend auf Nordostkurs gegangen, um beim Festmachen an der südasiatischen Küste den Himalaja aufzufalten. Unsere Erdteile rutschten ungefähr so über den plastischen Erdmantel wie Robben über Kachelböden, wobei die robbenden Großregionen durchschnittlich nur eine Dicke von zwanzig Kilometern erreichten. Diese Vorstellungen von unserer schauderhaft schmalen Lebenskruste, von vulkanischem Schwingrasen und brodelndem Sand ängstigten mich jahrelang und haben längst symbolische Bedeutung erlangt.

O Freund, nichts ist mehr fest und verlässlich auf der Weltkugel; unter der dünnen Oberfläche wirken furchtbare Kräfte, die sich in jedem Augenblick entladen können. Obwohl ich gründlich desillusioniert aus dem „heißen Krieg“ zurückkam, schien es mir unmöglich, dass es bald wieder einen „kalten Krieg“ geben würde. Er schwelt! Jetzt leben wir in Furcht und Ungeborgenheit. Manchmal frage ich, warum wir aufgespart wurden und weiterleben müssen. Vielleicht deshalb, damit wir für uns und die Menschheit der Zukunft aus dem trügerischen Frieden einen sicheren machen. Möge es gelingen – und unser jungenhaftes Beistandsgelöbnis einen neuen Sinn bekommen.

Das wünscht mit herzlichen Grüßen

Dein Guido

Die Weltzeituhr

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