Читать книгу Die Weltzeituhr - Eberhard Hilscher - Страница 26
Der spanische Pavillon
ОглавлениеWenn die Weiber auflachend ihre schönen Zähne zeigen, Pablo, dann fliehe! Sei eingedenk der heuschreckigen Gottesanbeterinnen, die Andacht heucheln und zärtlich wippende Männchen zwischen den Kiefern zermalmen.
Doch er hatte (beim Apis!) einen gar sündhaften Leib. Vielleicht würden die Kunstschüler später seine Liebschaften aufzählen wie Buhlen des Zeus und bemerken, dass es ihm manchmal nur um Haaresbreite gelungen war, nicht den Kopf zu verlieren. Warum er trotzdem immer wieder erotische Abenteuer suchte? Aus purem Übermut und liederlichem Gelüst! Denn die Damen brauchten sich nicht auszuziehen, damit er sie gestalterisch anziehend fand; er malte ihre Frätzchen, Titten und schwarzovalen Pussis sowieso stilisiert und ohne hinzugucken.
Aber welcher Teufel ritt ihn, als er sich mit drei Fangschrecken zugleich einließ? Das musste den stärksten Nahkämpfer umhauen! – Ja, ja, von Madame, dem rothaarigen Luder, hätte er sich längst trennen sollen. Ständig ihre Missvergnügtheit und hysterische Kreischerei! Erst die zimbelnden Schnappscheren zweier neuer Verehrerinnen ermutigten ihn, die Scheidung zu begehren, worauf das Chaos ausbrach: Olga verwandelte sich in eine Furie und hetzte ihm die Juristen auf den Hals, Therese kriegte ein Kind, und Dora glich dem unergründlichen, grünäugigen Meer.
Oh, er war der unglücklichste Mann der Welt! Am besten, so schien es, genoss man seine Männlichkeit bei den Nutten vom Montmartre und schickte die „ehrbaren Dirnen“ in die Wüste. Nur ihretwegen gelang ihm seit fast einem Jahr kein gescheites Bild mehr. Einzig und allein sie machten ihn krank und künstlerisch lendenlahm, statt ihm durch liebendes Dienen die höchste Befreiung zu ermöglichen. Sein bisheriger Stolz: sich nach gigantischen, (bitte schön:) genialen Schöpfungen nicht erschöpft zu fühlen und in doppeltem Sinne hochpotent zu bleiben. Und nun? – Gewiss gab es jenen Auftrag der Leute aus Madrid, die für den spanischen Pavillon der Pariser Sommerausstellung ein Wandgemälde von ihm erwarteten. Sie würden noch lange warten müssen. Abgesehen von seiner Abneigung gegen bestellte Werke fiel ihm einfach kein geeignetes Thema ein. Begriff denn niemand, dass man von ihm nichts mehr erhoffen durfte, weil ihn die verflixten Weiber ruinierten? Während er Ende April sein neues Atelier in der Rue des Grands Augustins lustlos mit Malerkram vollstopfte, entdeckte er in einer hauptstädtischen Gazette die Nachricht von der Zerstörung des baskischen Wallfahrtsortes Guernica y Luno. Welch universelles Entsetzen: Blumen, Vögel, Phallus, Knochen, Ziegel, Gerüche, Streichholzschachteln und Atome schrien. Negermasken an den Wänden rissen Münder auf und heulten. Im Wendeltreppengang zerklirrten Lampen, Bücher, Kartonblätter und Ringpinsel wirbelten umher, bis Pablo einen winselnden Bleistift ergriff und allegro con moto vier Figuren auf blaues Papier skizzierte.
Stier: Kein Symbol des evangelistischen Kunstpatrons oder des gegenwärtigen Tierkreises, sondern schwarzes, lauerndes, drohendes Widerspiel der Toreros. – Pferd: Kein helikontischer Pegasus, doch aus dem Blute der Medusa entsprungen, im Todesschmerz brüllend. – Frauen: Ein schreiendes, deformiertes und kein schönes Geschlecht; aus brennenden Häuserhöhlen hilferufend oder eine Kindesleiche bergend.
Auf mehreren Entwürfen kombinierte und variierte Pablo die Detailstudien von Stier, Pferd und Frau. Bald setzte er dem zentaurischen Bullen ein Unmenschenhaupt auf, bald eine bärtige Teufelsfratze. In dem hochgerissenen Kopf der Mähre kennzeichnete er ein grässliches Kratermaul mit Luntenzunge und zigarettenstummelförmigen Zähnen. Langarmig ließ er eine stafettenähnliche Ölfunzel hinausreichen in den Raum, auf dessen Boden ein krepierender Kämpe lag.
Nach anderthalb Wochen hisste Pablo im unteren Atelier dreißig Quadratmeter Segeltuch: von Seitenmauer zu Seitenmauer, von den roten Fliesen bis zum Dachgebälk. Sorgsam strich er ein gesiebtes Grundierungsgemisch auf die vorgeleimte Leinwand, schliff später mit Sandpapier ab und wählte einen grauen Unterton. Dann begann er zu malen.
Er arbeitete täglich von nachmittags bis mitternachts, wenn von der Seine her das Tuten der letzten Dampfer durch die Stille hallte. Wie ein Artist turnte der kleine große Mann im Scheinwerferlicht. Mit Sweater und Shorts bekleidet, kletterte er auf die Leiter, um in drei Meter Höhe gespreizte Hände, geblähte Tiernüstern und Gottes besorgtes Glühbirnenauge zu formen. Selbst der Allmächtige konnte nicht mehr ohne Monokel auskommen, was Monsieur erheiterte, wenngleich nicht tröstete, denn mit der Eulenbrille (die er nur im verschwiegenen Atelier bei Feinarbeiten trug) sah er verdammt älter aus. Einfach drauf pfeifen? Oh, nicht vor den Damen! Doch er pfiff. Zwischendurch schwatzte er surrealistische Sprüche vor sich hin, die er in den Monaten der Brache sogar aufgeschrieben hatte. ‚Säcke voller Nüsse, ausgeschüttet über Glatzen und die sich schubsenden Konkubinen. Glacéhandschuhe übergestreift vor der Entscheidung, im Liebesstreit nichts zu entscheiden. Rösselsprung in Journalfetzen und drei Heulen mit Glaskonvex unterm Brennglas, während Rindox das Fegefeuer anbläst im Sarg und Golf von Biskaya. Bitte, anschnallen in der Kabine, Gespräche mit dem Piloten sind verboten …‘
Unentwegt rauchte er und warf die Kippen achtlos in das staubige Kabuff, in dem es aus Büchsen und Terpentin, Leinöl und Chemikalien roch. Statt einer Palette benutzte er ein Tischchen, auf dem er aus Tuben schwarze, weiße, blaue und gelbe Farbpasten auf Zeitungspapier drückte. Er konturierte und kolorierte die Figuren, als ob er den Pinsel in Trance führte und bereits vorhandene Linien nachzöge.
Obwohl er ein paar Dutzend Skizzen, Federzeichnungen und Urbilder geschaffen hatte, erprobte er immer neue Möglichkeiten der Komposition. Anfangs gestattete er es dem hingestreckten, sterbenden Krieger, die rechte Faust zum republikanischen Gruß zu erheben. Als Pablo die erschlaffende Hand schließlich niederholte wie eine Fahne und die Finger durch die Blume des Todes anwurzelte, konnte er den vormals gebeugten, brüllenden Pferdeschädel wie in einer Schlinge zur blühenden Sonnenlinse hieven. Nun empfahl es sich, den lebensgroßen Stier, der unter mondsichelförmigen Hörnern napoleonische Züge trug, umzudrehen und mit Hinterteil und baumelnden Hoden in die linke Ecke zu drängen. Während eine wehklagende Mutter ihr spitzes Gebiss unter das Farrenmaul schob, ragte ein griechisches Profil aus dem Fenster und legte eine dreieckige Lichtschneise ins Bild.
Der Meister war nicht daheim, als ihn sein Chauffeur Marcel zu gewohnter Vormittagsstunde in der Privatwohnung (La Bohème genannt) abholen wollte. Etwas beunruhigt steuerte er die Hispano-Suiza-Limousine durch die Avenue des Champs-Élysées und über die Concorde-Brücke zur Rue des Grands Augustins, wo er in Nr. 7 die enge, gedeckte Wendeltreppe zur zweiten Etage emporkraxelte. Zu seiner Überraschung hörte er aus dem Atelier schrille Pfiffe.
„Nur herein, du Halunke!“, rief Pablo vergnügt. „Bist du eben erst aus dem Bett gefallen, oder hast du die Nacht in der Weltausstellung der horizontalen Halbwelt verbracht? Was gibt’s Neues im Bordellanzeiger?“
Marcel stand vor der rechten Bildseite und begaffte die siebzig Zentimeter hohe Fußsohle einer fliehenden Frau. Darüber eine Art Kreuzigung: gereckte Arme und ein gekipptes Kinn, so lang wie ein Bart. „Beängstigend – diese Frühschicht“, sagte er. „Bei der Hochzeit des Herzogs von Windsor, falls es Sie interessiert, trug die fürstliche Kokette modisches Wallis-Bleu. Nun reisen sie an die blaue Adria.“
Der Maler lachte wiehernd. „Nachher könntest du mich zum Pennen in die ‚Bohème‘ hinüberfahren.“ Er hüpfte vor der Leinwand auf und ab und steckte auf eine Stangenspitze einen roten Papierschnipsel, den er nacheinander unter jedes gemalte Auge hielt. „Wie schaut’s aus in den baskischen Provinzen?“ „Auf dem Boulevard des Heiligen Michel“, bemerkte Marcel, „würden Sie jetzt prima Antiquitäten und die jugendlichsten Modelle finden. Aufreizende Mädchen aus dem Orient, auch Negerinnen und Japanerinnen. Auf dem Trocadero-Platz hingegen stellen die Dänen viel Käse aus, die Schweizer ihre Uhren und die Deutschen Kinderspielzeug und gemeißelte Muskelmassen.“
Pablo hob das rote Signal unter das Murmelauge des Pferdes und fragte: „Wie gefällt dir das?“
„Ehe ich es vergesse, Monsieur: Die Gazetten melden, dass die Falange den Belagerungsring um Bilbao enger schließt.“
„Hol sie der Henker! Und das erzählst du mir erst jetzt? Menschenskind, es eilt! Wir müssen Guernica im spanischen Pavillon aufbauen.“
„Wenn Ihr Gemälde ‚Guernica‘ heißen soll, will ich Hmhm heißen. Ich sehe weder eine Stadt noch Flugzeuge und Bomben, sondern nur weibliche Vogelscheuchen.“
„Nanu? Hast du noch nicht beobachtet, wie relativ das Aussehen der Menschen ist? Einem Kind erscheinst du vielleicht als Opa und Pfiffikus, und einer Frau als schwerer Junge und Luftikus. Ebenso entdecke ich an meinen Figuren oftmals Apartes, eine verlogene Schönheit immerhin, die ich dann deformiere, um Ideen und den wahren Entwurf eines Daseins zu gewinnen. Meine Bilder sind eine Summe von Zerstörungen.“
„Aber stellen Sie sich mal vor, Monsieur, Ihre Frauen und Freunde kämen mit solchen Bilderfratzen an Ihre Haustür gerannt.“
Pablo kicherte, wobei er aus rundem Eulengesicht den Blick seiner morionschwarzen Pupillen merkwürdig starr auf Marcels hakennasigen Normannenkopf richtete. „Ja, es wäre zum Davonlaufen. Doch nun pass mal auf: Manchmal porträtiere ich die Leute noch durchaus so, wie sie sich gerne sehen, nämlich ähnlich und ein bisschen angehübscht. Ob man dazu allerdings Kunst braucht? Ich glaube: nein, denn ein Foto bietet die gewünschte, betrügerische Naturtreue mindestens ebenso gut. Deshalb male ich von Personen meistens nicht mehr deren Vorstellungen von sich selbst, keine Kopien, sondern mein Seherlebnis, mein fantastisches Wissen um ihre inneren Wirklichkeiten.“
„Trotzdem begreife ich nicht, warum Sie Ihre Gestalten derart zerhacken müssen. Ich erkenne nur Realitätsreste: hier einen halben Arm, dort ein Stück Rumpf oder ein schädeldachloses Haupt. Es sieht ja beinahe aus wie –“ „Auf einem Schlachtfeld, nicht wahr? Da hast du es: Ich male nicht den Krieg, sondern seine Opfer, nicht die Explosion, sondern Visionen. Hörst du nicht, wie die stumme Schöpfung auf meinem Bilde vor Schmerzen schreit? Was den Körpern hier angetan wird, ist so unmenschlich, dass es sicher menschliche Aktivitäten aufzurufen vermag. Siehst du noch immer nicht Guernica?“
Der Chauffeur trat in den Raum zurück und beugte sich vor, als wollte er einen Anlauf nehmen. Gewiss imponierte ihm das Gemälde: dreieinhalb Meter hoch und nahezu acht Meter breit. Mehrmals sprang er die erstaunliche Komposition mit den Augen an, um tiefer in sie einzudringen. Drei weinende Frauen, ein gefällter Krieger, ein brüllender Gaul, eine geisterhafte Lichtbringerin in der Mitte … Aber warum hatte sich der Kämpe mit dem Schwert gewehrt? Warum wurde der Klepper von einer Lanze durchbohrt, während der Bulle unversehrt blieb? Herrschte hier absurde Stierkampfzeit?
Schließlich sagte Marcel: „Offenbar kann man das nur richtig verstehen, wenn man die Bedeutung der Figuren kennt. Deshalb möchte ich fragen –“
„Pst! Machte Pablo und hielt den roten Schnipsel unter das rechte Auge des gehörnten Hauptes. „Nirgends passt der Tropfen hin. Siehst du, meine Gestalten haben alles Wasser ausgeweint. Das Malen war halt stärker als ich und nahm Empfindungen gefangen. Vielleicht gleicht das Pferd dem leidenden Volk und der Stier einer brutalen oder widerstrebenden Macht. Nur widerstrebend deute ich, weil ich an die Freiheit der Kunst denke und an das Paradoxon, dass ich dem Gewalttäter möglicherweise an jedem Freitag diese heimliche Träne ankleben werde.“