Читать книгу In einer fernen Zeit - Elena Risso - Страница 14
ОглавлениеKapitel 10: Wünsche formen und äußern
Rose wachte mit einem Schmunzeln im Gesicht auf. Die Sonne schien auf ihr Bett. Der Mann im Radiowecker verkündete Traumwetter. Was für ein Tag. Rose war beschwingt und heiter. Alles würde schon werden, dachte sie bei sich. Es war gut, wie es lief. Wann die Zeit reif war, würde sie bestimmen. Es würde sich alles einfach ergeben. Dieses positive Denken war für Rose neu und beeindruckte sie sehr. Sie beeilte sich, sie war spät dran. Im Büro war viel zu tun. Der Portier hinter seiner Theke lächelte ihr aufmunternd zu: „Sie sehen heute zauberhaft aus, Rose.“
Draußen rannte sie fast in ein Taxi, so abwesend war sie. Der Fahrer stieg aus, er hatte stoppelkurze, feuerrote Haare. Er war etwa in Rose Alter und sprach mit englischen Akzent: „Sind Sie verletzt? Ich habe Sie gar nicht gesehen. Heute sind aber auch alle sehr in Eile. Kann ich Sie vielleicht mitnehmen auf meine Kosten?“ Rose sah den Fahrer ganz verwundert an, stieg ein und musterte ihn weiter. Er kam ihr sehr bekannt vor. „Entschuldigen Sie, aber woher kommen Sie?“ „Ich bin aus einem kleinen Ort im Süden Englands.“
Rose sagte lange Zeit gar nichts. Wie in einem Schnelldurchlauf streiften die Erlebnisse ihrer Kindheit durch ihren Kopf. Baumhaus, Zeitreisen, Gespräche über Gedanken und Gefühle, Heimat, Vertrauen. Der Fahrer machte seine Arbeit. Sehr konzentriert lenkte er den Wagen durch den Verkehr von Manhatten und erzählte wie nebenbei von seiner Einreise und seinen ersten Jahren. Wie er als Kind bei seinem Onkel unterkam. Wie er es sehr schwer bei ihm hatte. Und wie er mit 16 auf der Straße landete und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Seine Stimme war etwas monoton, als hätte er diese Geschichten schon öfter erzählt. Da war auch Traurigkeit. Seit Jahren war er Taxifahrer und fuhr Manager, Touristen, Inder, Schwarze und Muslime durch den Dschungel von New York. Dieser Job war oft gefährlich und immer ermüdend. Sicher es gab sehr nette Fahrgäste. Doch nachts chauffierte er meistens Betrunkene, Nachtschwärmer, Liebespärchen, Junkies und verlorene Seelen. Er hatte nie den Absprung geschafft. Einmal Taxifahrer, immer Taxifahrer - so lautete der Spruch.
Selten sah er in den Rückspiegel, und wenn, dann nur flüchtig. Irgendwie musste sich Rose sehr verändert haben, denn der Taxifahrer wollte sie einfach nicht erkennen. Oder anders ausgedrückt, er war so sehr mit sich und dem Verkehr beschäftigt, dass er Rose nicht in die Augen sah. Denn wenn er es getan hätte, hätte er sie erkennen müssen. Das Taxi näherte sich seinem Ziel. Rose war unschlüssig. Vielleicht war es nicht Malcom. Der Taxifahrer hielt an. Rose stieg aus. Sie ging um den Wagen herum und wollte dem Fahrer noch einmal dankend winken, da raste ein Fahrradkurier an ihr vorbei und riss ihre Handtasche herunter. Rose schwankte, knallte gegen das Taxi und schließlich auf den Boden. Was war das nur für ein Morgen? Rose rappelte sich wieder hoch. Der Fahrer stieg nun aus, half Rose hoch und endlich sahen sie sich an.
Es war, als verschwömme alles um sie herum. Der Horizont kippte leicht und die hetzenden Menschen wurden zu fahrigen Figuren, die ineinander zu verschmelzen schienen. Sie blickten sich noch immer an, ihre Pupillen weiteten sich, dann stand alles ruhig, es bewegte sich nichts mehr. Alles war wie angehalten, die Zeit, die letzten Jahre, ausgelöscht, nicht existent. Rose und Malcom waren gebannt. Rose versuchte, den Mund zu öffnen, irgendetwas zu sagen, aber es kam noch kein Laut. Dann löste sich etwas, eine Taube bereitete ihre Schwingen über die beiden aus, und dann geschah etwas Wunderbares. Die Taube gurrte ganz leise in diese Stille hinein, und dann kamen Dutzende, Hunderte von Tauben auf diesen Ruf und flogen die 5th Avenue entlang, umkreisten Rose und Malcom und stiegen dann nach oben in die Lüfte. Alles begann sich wieder zu bewegen. Schließlich lagen sich die beiden in den Armen. Das Hupen der Autos weckte sie, und sie gingen endlich von der Straße runter. „Komm lass uns zu mir fahren, nehme dir heute frei, wir haben uns so viel zu erzählen.“ „Okay, es ist ein wundervoller Tag, wie sehr habe ich geträumt, dich wieder zu treffen, Malcom.“
Das Taxi fuhr wieder los, in Richtung Brooklyn. Rose lehnte sich zurück, sie fühlte sich absolut geborgen. Sie hatte ihr starkes Ich gefunden. Konnte es fühlen. Die Lederbezüge waren schon abgenutzt. So viele Menschen waren bereits in diesen Sitzen gesessen. Rose nun auch. Sie war in der Ferne und doch ganz bei sich. Wie waren ihre Wünsche? Konnte sie sie formulieren? Gleich würde sie bei Malcom sitzen. Konnte alles erzählen, was sie bedrückte. Sie fuhren gerade über die bekannte Brooklyn-Bridge. Die Sonne blendete sie ein wenig, aber nur so leicht, dass die Wärme und Helligkeit noch als angenehm empfunden werden konnte. Das war Glück. In dieser großen Stadt. Rose konnte es einfach nicht glauben. Die Straßen wurden verwinkelter, durch die Malcom den Wagen geschickt steuerte. Die Gegend setzte sich aus Läden, Restaurants und Wohnhäusern zusammen. Rose blickte aus dem Fenster. Die Menschen hier wirkten gelassener, weniger geschäftig, weniger wichtig. Sie hielten vor einem älteren Haus. Malcom parkte den Wagen, führte Rose die alten Stiegen ganz nach oben. Dort hatte also Malcom sein Zuhause. Es war ein Apartment, das praktisch nur aus Büchern, Schallplatten und Fotos bestand. Die Eingangstür führte direkt ins Wohnzimmer. Das Besondere an dem Apartment war eine sehr große Dachterrasse, einem Gewächshaus gleichkam mit Kübeln voller Blumen. Sie machten es sich dort inmitten der Pflanzen auf einer Korbbank bequem.
Sie sahen sich lange an. „Seit wann bist du in der Stadt, Rose?“ „Ich bin gerade erst angekommen.“ Sie wusste jetzt schon, dass die Korrespondenten-Arbeit sie nicht ausfüllen würde, dass sie sich unbedingt nach etwas anderem umschauen musste. Bloß was, da war sich Rose noch gar nicht sicher. Sie erzählte ihre Gedanken Malcom, der immer ein aufmerksamer Zuhörer war. „Im Hotel möchte ich nicht bleiben, es hat etwas Vorbeiziehendes, etwas Heimatloses. Den Menschen im Hotel ist etwas gemeinsam, sie scheinen alle auf etwas zu warten, auf eine Art Erlösung. Mein Wunsch ist so profan, Malcom, ich möchte einfach bei dir sein, aber ohne Erwartungen und mit einem großen Maß an Unabhängigkeit. Ich möchte in Bezug auf uns gar nichts entscheiden müssen, einfach nur, dass wir wieder zusammen sind, wie früher.“
Rose überlegte noch, wenn sie dabei bliebe, ob dadurch ihr Selbstfindungsprozess gestört würde oder ihn gar unterstützen könnte. Was war mit dem Gedanken, dass Malcom der unabhängige, freie und selbstbewusste Teil von Rose war? Würde es so einfach sein, mit diesem Teil zu leben und ihn selbst zu verinnerlichen? Nur, so stark erschien Malcom auch nicht mehr. Was war mit dem Angst machenden Gedanken, dass sie Malcom gar nicht wollte, nicht mehr brauchte - nur weil er vielleicht schwächer geworden war? Dass Rose nur schwarz und weiß sah, dass sie sich damit was vergeben würde, sich an ihn hängen würde, sich festlegen würde? Eine Unabhängigkeit einfordern würde, die sie so ja auch nicht besaß, weil sie von Malcom, von dieser vermeintlich stärkeren Hälfte, emotional schon seit Kindertagen abhängig war? Jetzt musste sie erst einmal gar nichts wissen.
Über Malcom wollte sich Rose jedenfalls nicht definieren, da musste sie aufpassen. Sie wollte nur spüren, warme Haut, warmer Atem, warme Düfte. Genuss der Sinne, aller Sinne von Rose, die sehr präsent waren, sehr stark und sehr intensiv. Rose saß neben Malcom und ließ die Gedanken auf sich wirken. Die Zeit würde es finden, wenn sie reif dafür sein würde.