Читать книгу In einer fernen Zeit - Elena Risso - Страница 18
ОглавлениеKapitel 14: Westen und Osten treffen sich in Rosas Seele
Sechs Jahre musste Rosa noch warten, aber an Weihnachten 2000 war es endlich soweit. Aurora, die zu einer Modemesse in Manhatten eingeladen war, stand in der Menge der Ankunftshalle. Ein roter Pol. Um sie herum Menschen im Zeitraffer. Sie war wie eine orientalische Muse und schien weder Raum noch Zeit zu spüren. Die schwarzen Haare waren sehr lang und in der Mitte gescheitelt. Der rote und schmal geschnittene Overall aus Wildleder lief an Armen und Beinen in langen Fransen aus. Ein silberner Hüftgürtel schmückte ihre schlanke Taille. Die Füße steckten in flachen Zehenschuhen. Aus ihren samtenen Augen sprach Sehnsucht. Sie lagen sich in den Armen. Die Welt hörte für einen Augenblick auf, sich zu drehen. Ihre Augenblicke begegneten sich. Dabei tat sich das Universum der Liebe auf. Rote und rosa Strahlen schienen in ihre Herzen und vereinten die Träume der Menschen. So standen sie immer noch zusammen, als alle Passagiere gegangen waren und die unauffällige Putzkolonne den Dreck wegräumte. Jetzt war alles möglich.
Sie gingen Hand in Hand durch die Straßen. Seit ihren Tagen in London waren sie nicht mehr so vereint. Jede war ihren Weg gegangen. Rosa auf sehr verschlungenen Pfaden, die sich langsam zu lichten schienen. Und Aurora? Den Blick nach vorne wandelte sie gelassen auf dem ihr bestimmten Weg. Der Grund dafür war ihre Sicherheit, immer das Richtige zu tun mit Vertrauen auf das Göttliche. Jeder ihrer Schritte war fest und entschlossen. Darauf zu bauen, nicht wankelmütig zu sein, zu wissen, was gut für einen ist, was einem ein gutes Gefühl gibt, das war Aurora. Sicher war auch ihre Erziehung sinngebend, die auf islamischen Grundwerten beruhte. So konnte sie auch immer sehen, wann westliche Lebensweisen in den Abgrund führten, wann sie nur noch Form waren und nicht mehr Inhalt. Sie hatte einfach beides erfahren. Den ruhenden Lebenspol in sich zu finden und die alles möglich machende Freiheit. Sinn und Moral auf der einen und Freiheit und Wille auf der anderen Seite. Dazu kam ihr innewohnendes Lebensfeuer und der Mut, etwas zu riskieren.
Da stand sie nun und war von New York erst mal erstaunt. Hier war alles Westliche in Reinkultur. Sie fühlte sich fast erdrückt und verstand nicht, wie Rosa in dieser Stadt glücklich werden könnte. „Oh Rosa, es ist schon wahr, du kannst alles in dir finden, aber diese Umgebung tötet deine Ansätze.“ Sie gingen weiter und waren schon bald in der mit Marmor ausgekleideten Halle von Rosas Dauerbleibe. „Wenn ich nur wüsste, wo ich hin soll, Aurora, dann wäre ich schon weg. Aber ich finde keine Antwort.“ „Lebe deine Fragen, dann findest du ganz alleine weiter.“ In Rosas rotem Zimmer löste sich Aurora fast auf. Sie berührten sich noch immer und saßen am Fußende des Bettes mit Blick auf die gegenüberliegende, sehr nahe Häuserwand, deren Ende im Himmel man nicht mehr sehen konnte. „Wie kannst du hier deiner Seele Raum geben? Überleg doch mal, sie kann gar nicht schwingen. Ich habe im nächsten Monat eine Modenschau in Neu-Delhi. Nimm dir Urlaub und komm mit. Du musst deinen Osten zum Leben erwecken, deine Lebensenergie.“
Sie saßen noch lange in dieser Nacht zusammen und erzählten sich von alten Zeiten, von Veränderung, von Liebe und von Sehnsüchten. Die Weihnachtstage in New York standen unter dem Zeichen neuer Eindrücke und Ideen. Und die Reiseplanung nahm Formen an. Weil Aurora erst nochmal nach London musste, würde Rosa direkt nach Indien fliegen. In ihren Augen war Indien hektisch, wüst und voller Armut. Rosa konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie dort zu mehr Ruhe und Gelassenheit finden sollte. Wie sie dort im Gegensatz zu ihrer Stadt New York frei atmen konnte. Irgendwie verstand sie Aurora nicht ganz, aber sie würde es ja selbst sehen. Malcom war gar nicht begeistert. Er kannte Indien noch von seinen Gedankenreisen. Diese waren immer hochphilosophisch, aber er sorgte sich, ob Rosa diesen doch starken Eindrücken gewachsen sein würde. Er wollte mitkommen. Rosa und Malcom auf neuen und doch alten Wegen. Den Osten zum Leben erwecken. Ein schöner Gedanke.
Der Flieger setzte zur Landung an. Als sie ins Freie traten, war es, wie wenn sie gegen eine Wand liefen. Sie rangen beide nach Luft. Fliegende Händler bedrängten sie, bis sie ins schützende Innere eines Taxis fliehen konnten. Der Fahrer brauste durchs Getümmel - zwischen Menschen und heiligen Kühen hindurch. Am Straßenrand wurden Zähne gerichtet, kleinere Operationen durchgeführt und Mahlzeiten zubereitet. Alle Farbschattierungen wie orientalische Gewürze durchfluteten das wilde Treiben.
Im Taxi erlebten Rosa und Malcom das Leben auf Indiens Straßen wie einen Film im Zeitraffer, der vor ihren staunenden Augen vorbeilief. So war es also wirklich, wie in einem Roman von Salman Rushdie beschrieben; Leben und Tod, gebären und sterben, lieben und streiten, ruhen und schaffen, essen und hungern, schön und hässlich, phantastisch und real, Tradition und Business, Yin und Yang - alles-was-das-Leben-gibt-Schauspiel in einem Bild ohne vorgezogenen Vorhang.
Das war Indien, das war also auch der Ferne Osten. Der einzelne Mensch, der als ein Teil des Ganzen unwichtig wird. Nur wer das Leben als Ganzes begreift, als ständige Veränderung, als ein Kommen und Gehen, wird es begreifen. Nie ist etwas abgeschlossen, fertig, im Ruhezustand. Immer sucht das Leben Gleichgewicht. Und ist es einmal hergestellt, dann ist woanders Ungleichgewicht und so fort. Das Individuum begreift sich nur als solches, indem es im Ganzen aufgeht. Indem es im Augenblick lebt. Indem es nach seinem Inneren sucht. Indem es zwischen Ruhe und Aktivität auspendelt. Ansonsten ist es verloren. Alle anderen Bedürfnisse entsprechen rein westlichen Vorstellungen nach Freiheit. Was für ein Irrweg. Im Dunkeln tappen. Im Hellen rennen. Rosa war sehr in sich gekehrt. Sie war Europäerin, mit westlichen Werten im Süden Englands aufgewachsen, in London zur Schule gegangen und ausgebildet, in New York arbeitend - die westlichste Stadt auf Erden. Und nun in Indien. Neue Wege suchen, Irrwege verlassen, ihren Weg finden - Rosa war ganz weit weg.
Plötzlich klopfte jemand an ihr Fenster, riss die Tür auf und begrüßte sie herzlich. In einen Pulk von Menschen wurden sie vom Taxi zu einer Wohnung gefahren. Aurora lächelte ihr zu. Dort angekommen, mussten sie ihre Schuhe ausziehen. Überall um sie herum waren Teppiche ausgelegt. Es duftete nach Tee. Frauen in langen Gewändern und zurückhaltende Männer berührten sie und sprachen auf sie ein. Rosa und Malcom aus New York, sie waren gleichsam Ausstellungsstücke aus einer anderen Welt. Wie sehr sich doch die Menschen glichen. Überall auf der Welt waren sie Fremden gegenüber neugierig. „Lasst sie doch erst einmal ihre Zimmer beziehen.“ Aurora schaffte es irgendwie, dass sie sich zurückziehen konnten. Beide hatten eigene Schlafzimmer. Als sich Rosa hinlegte, spürte sie erst, wie geschafft sie war. Die Reise, die Suche nach ihrem Inneren beschäftigten sie sehr. Sie schlief sofort ein und dann tauchten Bilder auf. Bilder, die stark waren und bunt. Sie sah einen Platz mit roten und gelben Zelten in allen Farbnuancen. Sie selbst war in einem der Zelte; in einem runden. Sie saß hinter einem schweren Tisch und las bei einem Gast aus der Hand. Sie ging sehr vorsichtig damit um, sie blickte weit in die Zukunft. Es war ihr tägliches Geschäft mit Seelenfreude und Seelenleid anderer Menschen umzugehen. Ihr Gegenüber war ein junges Mädchen. Das Mädchen wollte wie alle Mädchen wissen, ob ihr die wahre Liebe in ihrem Leben begegnen würde. Das Mädchen sah Rosa ebenfalls ähnlich. Die Hellseherin sah in ihren Händen ein bewegtes Leben, das anfänglich sehr unstet sein würde und das im Laufe der Jahre zu einer ganz eigenen, sicheren Gelassenheit führen würde. Dass sie das Leben genießen lernen konnte, und dass Genuss für sie Leben bedeuten würde. Und dann, wenn der Weg breit und eben werden würde, könne sie auch die Liebe sehen und erfahren. Die Hellseherin war schon älter und blickte weise und gütig in ihre jungen Augen, als sie noch ein junges Mädchen war. Rosa sah sich selbst. Sie hatte eine Ahnung von den unsichtbaren Dingen in dieser Welt.
Als das junge Mädchen gegangen war, kam ein junger Mann mit einem blauen Turban zu ihr ins Zelt. Diesen Traum kannte Rosa noch von ihren Kindheitstagen. Er blieb beim Eingang stehen, die Sonne im Rücken ließ ihn im Lichterkranz erstrahlen. Leider konnte die Hellseherin seine Augen nicht erkennen, stellte er sich doch nur kurz vor, um dann augenblicklich wieder zu verschwinden: „Ich bin Shakhil. Sha, das ist der Zauber in der Liebe, das Öffnen der wahren Gefühle und der inneren Sehnsucht. Sha heißt, das Leben zuzulassen. Khil, das ist das übersinnliche Ich, die göttliche Energie und bedeutet die Befreiung von Begierde und Erwartungen. Khil ermöglicht die eigene Unabhängigkeit. Khil ist die Vervollkommnung, mit der die wahre Erkenntnis über sich selbst kommt. Nur mit Sha und Khil kommt die Fähigkeit zur bedingungslosen, aufrichtigen Liebe. Suche mich!“
Sie wusste gar nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als Aurora vor ihrem Bett mit einer Tasse dampfenden Tee und süßen Keksen stand. „Meine Freunde wollen dich kennen lernen. Sie finden, dass du mit zwölf Stunden lange genug geschlafen hast.“ „Ich hatte einen Traum, darin begegnete mir die östliche Weisheit in Form eines männlichen Wesens mit Namen „Shakhil“. Aurora, wenn du Shakhil kennst, mach mich bitte mit ihm bekannt; ich möchte wissen, wer er ist und wie mein Traum weitergeht.“