Читать книгу In einer fernen Zeit - Elena Risso - Страница 5
ОглавлениеKapitel 1: Tanz auf dem Parkett
Nun hieß es Abschied nehmen von Malcom. Wann würden sie sich wiedersehen? Er gab Rose so viel Wärme und Halt. Die gemeinsamen Reisen, waren sie nun vorüber? Wir hatten Sommer 1978. Rose war 13 geworden. Etwas in ihr wirkte gebrochen. Ihre Familie würde nach London ziehen. Eine neue Schule, neue Kameraden. Susan freute sich auf das Stadtleben. Sie wollte auch mal an sich denken. Peter freute sich auch; er konnte neue Reden vorbereiten, hatte nicht die lange Anfahrt. Und der kleine Ben war ganz unbedarft und freute sich auf die Ballettschule, die er in London besuchen würde. Also schlossen Rose und Malcom ihren ersten Pakt: Den Pakt, sich immer an diese Reisen zu erinnern und dass es eine Zeit geben würde, da fänden sie sich wieder. Dann würde Ruhe auch in Roses Leben eintreten. Eine neue Ruhe und eine neue Gelassenheit dem Leben gegenüber - auch wenn es nicht leicht sein würde. Malcom war der wilde Teil in Rose, er konnte alles tun, was er wollte, sich alles vorstellen, mit jedem reden, jeden lieben. Alles geben und alles nehmen. Malcom war frei und verschmitzt und flirtete mit dem Leben. Malcom war immer da, wenn Rose ihn brauchte. Nur irgendwann hatte sie ihn verlernt und musste ihn wieder finden.
Es war ein milder Herbsttag, als Familie Plymoth von Poole nach London zog. Ein frischer Wind kam vom Meer her und Rose stand noch einmal am Baumhaus, um von Malcom Abschied zu nehmen. Er kam vom Strand und sah sehr verwegen aus. Er lächelte aufmunternd und hob von weitem seinen Arm zum Gruß. Wie konnte es nur sein, dass sie sich vielleicht nie wieder sehen würde? Malcom reichte ihr einen Apfel, in den Rose herzhaft hinein biss. Sie drückten sich fest.
Malcom würde auch bald Poole verlassen. Ein reicher Verwandter an der Ostküste hatte ihn adoptiert, so dass seine Odyssee durch die Kinderheime im Süden Englands ein Ende haben würde. Malcom war ein Waisenkind. Er wusste von seinen Eltern nur, dass sie Zigeuner waren. Sein Onkel in New York hätte Nachrichten für ihn, auf die er sehr neugierig war. Weil Malcom noch keine Adresse hatte, gab ihm Rosa ihre neue Anschrift in London. Ansonsten vertrauten sie auf die Zukunft, wann sie sich wo und wie wiedersehen würden.
Mit einem voll bepackten Bus fuhren die Plymoth in ihr neues Zuhause in Hamden. Dort bezogen sie ein kleines Reihenhaus mit einem langgestreckten Garten. Rose war sehr skeptisch. Ihre Eltern und ihr kleiner Bruder scherzten. Rose bekam das Zimmer zur Straße raus. Von dort blickte sie auf die gegenüberliegenden Häuser und auf eine Bushaltestelle. Dort war viel Betrieb. Die Buslinie von hier fuhr geradewegs ins Zentrum von London, Oxfordstreet. Die schwarze Katze, die Rose beim Einzug im Garten fand und blieb, räkelte sich auf ihrem Bett. In diesem Zimmer war es sehr anheimelnd. Draußen war Betrieb. Susan räumte und schlichtete und sorgte sich um alles. In der Küche dampfte es aus den Töpfen; Rose bereitete ein deftiges Essen. Peter scheuchte die Helfer herum und war sehr nervös. Alles musste bei ihm funktionieren. Die Hektik von London griff bereits auf ihn über. Malcom war weit weg.
Rose erkundete die Gegend. Die Menschen hatten ihr Ziel, und jeder ging seines Weges. In einer Querstraße traf Rose auf einen alten Mann mit einem verwahrlosten Mädchen. Rose hatte Angst - sie hatten den wir-haben-schon-alles-gesehen-Blick. Rose kam mit ihnen ins Gespräch. Der Mann meinte, sie seien auf der Durchreise nach Irland und wollten von dort nach New York einschiffen. Der Mann hieß Friedrich, er war auf der Flucht und wollte Auskunft von Rose. Rose war nicht sehr gesprächig. Sie war müde und in Gedanken noch gar nicht in Hamden. Friedrich jammerte viel, wie übel ihm das Leben mitspielte und er doch nur immer das Beste wollte. Er hatte in seiner Not eine kleine Tankstelle überfallen. doch in Kürze wieder alles verloren. Der Mann wirkte auf Rose nicht sehr vertrauenerweckend. Sie bekam das Gefühl nicht los, er würde lügen. Lüge war für Rose nicht denkbar. Lüge ist feige und kleinlich. Das kleine Mädchen tat ihr leid, so bot Rose an, etwas zu essen zu bringen.
Als Rose mit dem Hühnchen zurückkam, schlang es Friedrich schnell in sich herein. Er war komplett ausgehungert und sehr gierig. Penelope knabberte an der Keule. Sie wollte mit Rose Kontakt aufzunehmen, aber sie traute sich nicht. Sie war etwa sieben Jahre alt und sehr verschüchtert. Als Friedrich weitergehen wollte, fasste sie sich ein Herz und steckte Rose in Windeseile einen Zettel zu; dann waren sie auch schon um die nächste Ecke verschwunden. Der Zettel zeigte eine Zeichnung. Es war eine Art Burg am Meer abgebildet mit einem Wappen, das einen Löwen und einen Wolf zeigte. Rose stand noch länger da und betrachtete die Zeichnung. Sie würde jetzt gerne mit Malcom darüber reden. Dann bekämen sie das Rätsel schon heraus. Aber ohne Malcom steckte sie den Zettel erst einmal weg. Heute Abend wurde ein Schulball für alle Neulinge ausgerichtet, für den sich Rose noch umziehen musste.
Sie ging in ihrer Schuluniform - blau mit weißer Bluse - und sah für ihre 13 sehr adrett aus. Da sie aber auch verschüchtert wirkte, blieb sie den Abend über eher am Rande der Gesellschaft. Mit zwei Klassenkameradinnen konnte sie sich ein wenig anfreunden, Monica aus Polen und Aurora aus Pakistan waren auch Außenseiterinnen. Sie steckten ihre Köpfe zusammen und erzählten von sich. Aurora war erst seit einer Woche in London und Great Britain und sprach schlecht Englisch. Aurora mit Schokohaut, schwarzen großen Augen und schwarzem, seidigem Haar erzählte von einer komplett anderen Welt mit einer sehr großen Familie und vielen Schwestern. Sie wohnten im Norden der Stadt in einem kleinen Apartment. Ihre Eltern wollten bei ihrem Verwandten im Gemüse- und Obstladen helfen. Monica war sehr zierlich mit aschblondem Haar, eisfarbigen Augen und schon länger in der Stadt. Für eine bessere Zukunft gingen ihre Eltern aus Polen weg. Sie arbeiteten beide in einer Hemdenfabrik. Da standen sie alle drei im Saal. Alle Kinder lärmten und tanzten, und sie standen nur da und schauten sich an - ihr unterschiedliches Aussehen, ihre faszinierenden Geschichten und mit dem Wissen, dass sie die Zeit hier in London gemeinsam verbringen würden.
Vielleicht war das die Zeit, den Zettel zu zeigen, überlegte Rose, aber sie traute sich noch nicht. Sie wartete noch ein wenig, vielleicht bis morgen. Warum war nur Malcom weg? Mit ihm hätte sie längst den netten Jungen vom Buffet angelächelt. So aber fasste sie nicht genug Mut. Der Junge war gleich groß und hatte braunes Haar mit einem so netten Lächeln. Andere Mädchen umschwärmten ihn. Rose faltete unruhig den Zettel in ihrer Tasche. Am Buffet, das mit Hunderten von kunterbunten Luftballons in Purpurrot, Lachsrosa, Giftgrün und Himmelblau geschmückt war, spielten sich ganze Schlachten ab. Jeder wollte an die achtstöckige Torte. Da nicht alle gleichzeitig herankommen konnten, drückten sich die Massen der Kinder gegenseitig weg. Eine Aufsicht „...lasst mich sofort die Torte anschneiden ..., hey, ihr Flegel, hört sofort auf ...“ kam nicht recht durch. Der smarte Junge machte kurzen Prozess: „John Lennon kommt.“ Und schon sprengten alle Kinder auseinander, Kurze, Teenies, Blonde, alles rannte wild durcheinander über den Parkettboden, schlitternd und kreischend; ein lustiger Anblick. Rose, Monica und Aurora standen staunend mit offenen Mündern da. Der Jüngling namens Roy brachte ihnen die ersten Tortenstücke. So kam es, dass Rose doch noch ein erster Blickkontakt gelang: etwas durchdringende, blaue Augen musterten sie aufmerksam. Rose schaute zu Boden. Wie peinlich, dachte sie. Okay, der Zettel, jetzt oder nie. Alle acht Augenpaare betrachteten nun neugierig die Zeichnung. Roy fasste in präzisem Englisch zusammen „... ist wohl eine Burg irgendwo an einer Küste. Das Wappen habe ich schon einmal bei einer Urlaubsreise durch Irland gesehen, am besten ihr studiert alle Wappen in der Bibliothek...“ Rose war von ihm fasziniert. Wie er doch gleich kombinierte. Roy wurde von einem anderen Jungen gerufen und verließ die Mädchen, die sich für morgen verabredeten. Dann wurden sie von ihren Eltern abgeholt.
Roses Vater tat die Geschichte mit einem unwirschen Achselzucken ab. „Was kümmert uns diese Arme-Leute-Story?!“ Warum musste Rose auch immer alles erzählen? War doch ihr Ding. Etwas entmutigt ging sie in ihr kleines Zimmer und betrachtete wieder die Zeichnung. Das Mädchen hatte so einen ängstlichen Blick gehabt, vielleicht war sie in Gefahr. Sie würde Penelope gerne finden, um mehr über sie zu erfahren. Die Nacht über träumte sie sehr wild - sie flog über ein wütendes Meer mit einem Schwarm von Flamingos, die sich rosarot aus der Nacht abhoben. Das Gefieder des Flamingos neben ihr war in feuerrot getaucht und führte den Schwarm an. Rose folgte so gut es ging, aber immer wieder musste sie ins Meer sehen und dann verlor sie an Höhe. Der rote Flamingo drehte sich immer wieder um und rief „es ist nicht mehr weit“, aber Rose konnte nicht mehr und klatschte ins Wasser. Schließlich wurde sie wach, triefend nass und schnell atmend orientierte sie sich. „Ich bin daheim.“
Aus der Küche kam Toastgeruch. Verlorene Ritter - Roses Lieblingsfrühstück - brutzelten in der Pfanne. Peter versteckte sich hinter seiner Zeitung und unterhielt mit den neuesten Nachrichten: „... die sollen sich doch alle umbringen, es geht alles kaputt, das Ende ist nahe, ihr werdet sehen, die Menschen, die Gesellschaft sind es nicht mehr wert. Früher hatten wir noch Werte, da gab es einen Zusammenhalt, und jetzt geht jeder für sich, jeder ein kleiner Egoist...“. Rose schlang ihre Toasts hinunter und versuchte vergebens, ihren Vater von der Liebe der Menschen zu überzeugen. Daran würde sie fast zerbrechen. Das kostete sie alles so viel Energie, die sie für Penelope, für die Schule, für die neuen Freundinnen, für ihr kleines Leben brauchte. Die Diskussion artete in einen Disput aus. Und die Stimmen von beiden wurden lauter und lauter. „... das stimmt so nicht, nein, du bist mein Kind, ich habe dir alles zu sagen, du willst, wie ich will, wie ich will...“, tönte Peter immer stärker. Rose wollte flüchten, saß aber wie angewurzelt und sah die verzweifelten Blicke ihrer Mutter. Susan war schon wieder den Tränen nahe. Rose gab nach, gab nach wie ein viel zu lasches Gummiband, das schon etwas porös ist.
Endlich im Bus, weg von zu Hause, weg von diesem Druck, der dort verbreitet wurde. Warum musste sie sich auch immer alles zu Herzen nehmen? Sie war ihrem Vater so ähnlich. Sie sagte das, was sie dachte, sprach alles offen aus, aber innerlich verglühte sie. Das tat ihr nicht gut. Im Bus war Roy: Gekämmt und mit viel Pomade saß er da und stierte in die Luft. Roy war sehr arrogant; er dachte, er sei etwas Besonders, weil ihm alle Mädchen nachrannten. Rose sah nur seine Stärke, und sie wollte davon etwas abhaben, aber sie sah nicht, dass Roy ihr nur wehtun würde. Rose ging auf ihn zu, da bremste der Busfahrer stark und Rose wurde durch den halben Bus katapultiert; aus ihrer Tasche fiel der Zettel mit der Zeichnung. Sie griff noch danach, doch er verlor sich in dem Getümmel. Da ging ein Traum dahin. Jetzt ging Rose noch für drei Jahre zur Schule. Roy rannte sie jeden Tag hinterher, vergeblich. Das schwächte Rose zusätzlich, schränkte sie ein, auch zu Lasten ihres Selbstvertrauens. Aurora und Monica stiegen zu. Ihr Lachen war sehr versöhnlich. Sie halfen die Schulbücher einzusammeln, die mit Londoner Staub und kindlichen Fußabdrücken beschmutzt waren. Die Luft war stickig wie grüner Schlamm; atmen kaum möglich. So begann also Roses erster Schultag in einem Moloch von einer Stadt - mit allen Möglichkeiten, aber auch allen Ängsten.
Die ersten Schulstunden zogen an Rose vorüber; sie nahm nur ihre eigenen Geräusche war und ihr Herzklopfen. Rose wollte nicht mehr in der Historie oder in der Zukunft leben. Jetzt in diesem Augenblick wollte sie leben. Aurora stupste sie an „...du bist dran“. Oh ja, Rose war brav, riss sich zusammen und antwortete. Logisch. Bloß keine Schwächen zeigen. Mrs. Smith war streng und trug nicht zu einem aufgelockerten Unterricht bei.