Читать книгу In einer fernen Zeit - Elena Risso - Страница 16
ОглавлениеKapitel 12: Der Weg zu innerer Gelassenheit und Stärke
Die 29-jährige Rose hatte das Leben im Hotel satt. Nach fast drei Jahren wollte sie endlich ganz für sich selbst sorgen, sich Gutes tun, sich entspannen, sich zu nichts verpflichtet fühlen, sich nicht zu sorgen, kein schlechtes Gewissen zu haben, ihre Forderungen und Wünsche klar ausdrücken, sich verwöhnen lassen. Die neue Bleibe wollte Rose ohne inneren Zeitdruck finden. War auch kein Problem, aber erst einmal musste Rose herausfinden, was sie wollte. Das war schon schwieriger. Rose hatte schon lange nicht mehr ihr Herz sprechen lassen. Ja, sie liebte Romantik, sie liebte südländisches Flair, sie liebte Blumen, Düfte, warme Farbtöne, anheimelnde Dinge. Sie liebte die Nähe zum Leben, aber hektisch durfte es nicht sein. Vielleicht eine ruhige Seitenstraße in einem belebten Viertel. Rose saß auf dem Bett und dachte intensiv nach. Am liebsten wollte sie jetzt alles auf einmal ändern. Wollte sie überhaupt hier in New York bleiben? Vielleicht sollte sie doch endlich erst einen neuen Job suchen? Ach großer Bullshit, das war es ja, nein, auch wenn sie in der neuen Wohnung nicht lange sein sollte, sie konnte wieder umziehen, nichts ist für die Ewigkeit. Endlich wurde sie etwas gelassener.
An diesem Abend traf sie sich seit langem wieder mit Ross. Rose freute sich. Sie war gerade dabei, sich einen grünen Tee zuzubereiten, da klopfte es. Ross nahm sie in die Arme und drückte sie sehr fest. „Du hast mir gefehlt.“ Rose war ein wenig berauscht. Manchmal sagte er Dinge, die Rose verblüfften. „Lass uns gehen, ich möchte mich heute Abend amüsieren.“ In der Subway war es sehr stickig. Außerdem mussten sie lange auf den nächsten Zug warten, der dann auch noch total überfüllt war; Haut an Haut drückten sich die Passagiere zusammen. Rose mochte das gar nicht. Es war alles in grau und blau gehüllt. Innerlich wurde sie gereizt, fühlte sich unwohl. Ross bemerkte das: „Hey, mach dich geschmeidig, wir steigen gleich wieder aus. Was uns dann erwartet, ist eine sehr gemütliche Bar.“ Leichter gesagt, als getan. Andere Menschen machten sie unruhig; sie vermisste dann Rückzugsmöglichkeiten, Ruhezonen. Aber Ross war doch bei ihr, ihm konnte sie doch vertrauen. Sie hatte sich aber noch nie bei ihm fallen gelassen, ihr Herz geöffnet, sich losgelassen, sich bei ihm so gefühlt, wie wenn sie alleine mit sich gewesen wäre. Das gab ihr zu denken. Sie wollte das probieren, heute Abend. Mal sehen. Sie stiegen aus, fuhren die Rolltreppen hoch, schnupperten die raue Nachtluft. Die Bar leuchtete mit roten, geschwungenen Lettern schon von der Straßenecke her: Kolibri Inn. Eine große Drehtür führte ins Innere. In ein Inneres aus Samt und Rot, aus gedämpften Licht und beschwingter, Soul-Musik. Der hell erleuchtete Tresen stand zentral und bildete ein Rechteck. Um die Bar herum waren runde Tische mit Korbstühlen verteilt. Die Kerzen auf den Tischen leuchteten auf den glänzenden Boden. Ross und Rosa ließen sich in der Nähe der Bar nieder. Die Aufregung in ihr begann sich etwas zu legen. Sie blinzelte aus ihren blauen Augen und nahm jedes Detail um sie herum wahr. Da waren noch nicht viele Gäste im Kolibri Inn; ein Mann, der in seine Zeitung vertieft war, eine Frau, die unruhig auf ihre Uhr starrte, an einem weiteren Tisch eine heitere Gruppe und an der Bar saß noch niemand. Es war noch früh am Abend, und so richtig brechend voll wurde der Laden immer erst gegen Mitternacht. Ross hielt einen Plausch mit dem Barmann, bei dem er die Bestellung aufgab. Die beiden kannten sich aus ihren Jugendtagen. Sie lachten.
Rosa lauschte der Musik - ein Saxophon gab alles in gedämpftem Ton. Rosa liebte das Dahinplätschern von Rhythmen. Das rührte sie sehr tief. Sie spielte mit ihren Haaren, versuchte, sich abzulenken, nicht an die Nacht zu denken. Nicht nach gelernten Einstellungen zu reden und zu handeln, sondern nach ihren inneren Wünschen zu gehen. Was für eine Leistung! Wenn sie in sich hinein fühlte, sie ihren Willen, ihre Gedanken versuchte auszuschalten, stand sie wie vor einer Wand. Wie wenn irgendetwas in ihr es nicht zulassen wollte, weiter zu forschen, sich zu entdecken, ihrer Seele Raum zu geben. Was war das nur? War es Furcht vor der Entdeckung, vor dem eigenen Ich? Was war mit ihrem Ich, dass sie es nicht finden konnte? War es so gewichtig, verrucht, gar böse? Wer war ihre Seele? Diese Fragen kamen so plötzlich. Dabei hatte sie den Eindruck, dass diese Fragen sehr wichtig für sie waren. Dass sie keine Antworten darauf hatte, dass sie so zögerlich war, sich und anderen nichts eingestand, das legte Rosa als Schwäche aus. Rosas Seele sollte sehr stark sein; zu dieser vermeintlichen Schwäche zu stehen, war jedoch erst einmal unumgänglich - auf dem Weg zu sich selbst, zu ihrer eigenen Welt, ihrer eigenen Unabhängigkeit, ihrer inneren Stärke. Sie lehnte sich im Sessel zurück und blickte an die Decke. Es war eine sehr hohe dunkle Holzdecke an der kleine Lampen an unterschiedlich langen Seilen herunterhingen, die auf dem Boden Lichtflecken hinterließen. Genauso flackerten auch in ihrem Inneren Lichter auf und erhellten sie.
Ross kam wieder. Sie lächelte ihn an. Überhaupt war Lachen Rosas größter Schutz. Schutz vor was? Schutz vor falscher Überlegenheit, anerzogener Überlegenheit, nicht nachgeben wollen, keine Fehler, keine Schwäche eingestehen wollen; nicht geliebt werden. Vielleicht sollte sie sich einfach mal angreifen lassen! Ihre Maske einreißen lassen. Ross setzte sich und sah Rosa aufmerksam an. „Du wirkst sehr nachdenklich.“ Rosa ging in die Offensive: „Wenn du mich erobern wolltest, wie würdest du vorgehen?“ „Ich müsste wohl ein paar Umwege gehen, um dein Vertrauen zu gewinnen, d. h. du müsstest dich nach und nach an mich gewöhnen, ich müsste ein paar Schritte vorgehen, um dann wieder einen zurückzugehen. Du dürftest nie das Gefühl haben, du müsstest dich festlegen. Ich dürfte dich keinesfalls erdrücken, mich nur nach und nach öffnen, und ich dürfte nicht zu schnell Schwächen zeigen. Möchtest du denn, dass ich dich erobere?“ Okay, damit dürfte Rosa gerechnet haben. „Ja, ich möchte es gerne als Lehre betrachten, auch als eine Entdeckungsreise in mein Innerstes.“
Sie blickten sich tief an. Dieser Blick erfüllte Rosa mit Stolz, und sie freute sich über ihre Offenheit, sie tat auch gar nicht weh. Die Bar füllte sich langsam. Es kamen viele Paare. Der Barmann hinter dem Tresen war kaum mehr zu sehen. Und in der Zeit, in der sich die Bar mit Gemurmel und Lachen füllte, füllte sich auch Rosas Herz mit Licht und Wärme an. Sie tanzten, dabei lag ihr Kopf auf Ross Schultern; es fühlte sich so vertraut an, dass sich Rosa mehr und mehr auflöste, in sich versank. Wie hatte sie ein solches Gefühl vermisst. Sicherheit war da noch nicht, aber dieses sensationelle Gefühl, geborgen zu sein. Diese Geborgenheit war es, die sie schon so lange suchte. Und aus dieser Geborgenheit heraus, gelassen zu werden. Und dann sicher und stark. Urvertrauen.
Es war spät geworden. Als Rosa schließlich in ihrem Bett lag, drehte sich alles. Sie fühlte ein neues Erwachen. Sie war gespannt, wie es weitergehen würde.