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Kapitel 15: Shakhil zwischen Traum und Wirklichkeit, Teil 1 - Liebe

Alle Verwandten waren auf der Terrasse versammelt. Man hatte von dort einen wundervollen Blick über baumgesäumte Hänge und karge Felsvorsprünge bis zum Stadtrand hinunter, wo Hochhäuser mit dem Grau des Himmels verschwammen. Malcom saß tief versunken mit gekreuzten Beinen auf der Mauer, die die großflächige Terrasse vom Abhang trennte, den Blick ins Tal gerichtet. Seine Augen erinnerten Rosa an ihre Kindheit, sie strahlten und visierten scheinbar ein neues Ziel. Rosa hatte den Eindruck, er war angekommen.

Rosa ging zu ihm. „Oh, Rosa es ist so wundervoll hier; ich hätte mir das nie träumen lassen. Ich bin zu Hause. Auroras Onkel aus Islamabad möchte mich als Fahrer einstellen. Er unterhält in Neu-Dehli ein Bauunternehmen und möchte wieder nach Indien zurückkehren. Da braucht er einen Fahrer.“ Malcom blickte tief in Rosas Augen. Seine Träume konnten in Indien wahr werden. Rosa war ein wenig traurig. Nun würde sie wieder von ihm getrennt sein, gerade jetzt, da sie sich, auch durch ihn, stärker fühlte und sicherer. Sie setzte sich auch auf die Mauer und drückte sich an Malcom. In der Ferne verschwamm der Horizont mit der Skyline noch stärker. Es war alles grau in grau und ein modriger Geruch kam von der Stadt nach oben. Etwas widerte Rosa an. Auf einmal wollte sie wieder nach Hause. Onkel Radul kam auf die beiden zu. Mit direkten Schritten. „Malcom, morgen gegen Mittag zeig ich dir mein Unternehmen und den Wagen, den du fährst.“ Onkel Radul war dick. Eine fette Zigarre steckte zwischen seinen wulstigen, dunkelroten Lippen. Rosa wollte gerade wieder gehen; ihm ausweichen. „Hey Rosa, ich habe schon viel von dir gehört. Komm doch morgen auch mit, schau dich um. Lerne Indien kennen, unsere Realität.“ Rosa verabschiedete sich von Malcom. „Du wirst nie wieder in den Big Apple zurückkehren, oder?“ „Rosa, meine Suche ist nun beendet. Ich hatte eine glückliche Kindheit, ich habe außergewöhnliche Fähigkeiten, ich liebe die Spiritualität. Diese Reise nach Indien hat mir die Augen geöffnet.“ Rosa stand auf, sie schwankte. Aurora hatte zwei Freundinnen im Schlepptau, mit denen sie auf Rosa zueilte, die weit weg schien. „Rosa, das ist Feli und das ist Leya - wir sind zusammen in die Schule gegangen. Komm, wir zeigen dir das Haus.“ Rosa hatte ihr Gleichgewicht noch nicht wieder gewonnen und kippte nun vorn über die kleine Mauer den Abhang hinunter. Sie kullerte wie ein Fass in Richtung Skyline. Alle schrien durcheinander. Die Masse setzte sich in Bewegung, um Rosa so schnell es ging zu folgen. Onkel Radul setzte mit jedem Schritt den Hügel in Schwingungen; Aurora war leichtfüßig und schwebte geradezu, ihre Arme weit auseinandergebreitet, die Haare flatterten im Wind.

Malcom, der als erster lief, sorgte sich sehr. Rosa in ihrem weißen Sari blieb zwischen verdorrten Büschen liegen, ihre roten Haare hoben sich vom Grau des Bodens ab. Sie war ohnmächtig geworden. Malcom drehte sie herum, flüsterte ihren Namen und hob sie auf. Er trug sie, den Hang nach oben. Sie hing schlaff in seinen Armen, als wäre alles Leben aus ihr gewichen. Indien. Ein Traum. Eine Realität. Eine Phantasie. Oben angekommen, schlug sie die blauen Augen auf. Sie strahlten. „Malcom, führe mich zu Shakhil.“

Shakhil war Weissager und Schriftsteller. Er lebte im Moslemviertel, einem völlig neu entstandenen Viertel, das auf Sand gebaut war. Shakhil war in Indien ein Heiliger. Rosa war noch nicht in dieser Welt. Malcom brachte sie ins Haus in eine der Schlafzimmer mit dicken Vorhängen, die das Sonnenlicht draußen ließen. Vor den großen Fenstern waren beige Seidenschals. In mitten des Raumes stand ein Himmelbett, das ebenfalls mit weißen Stoffen abgedeckt war, kam Rosa zu sich. Sie hatte große Schmerzen im Rücken und in den Hüften. Ein Arzt war bereits gerufen. „Ich bringe dich zu Shakhil, wenn der Arzt dich untersucht hat, okay?“ Das war nun Indien. Rosa war irgendwie auch wütend. Das war nicht ihre Welt. Sobald sie Shakhil getroffen hatte, wollte sie zurückfliegen. Der Schmerz nahm wieder zu, so dass sie sogleich wieder in eine Ohnmacht fiel. Nach einer eingehenden Untersuchung konnten alle aufatmen. Sie hatte sich starke Prellungen zugezogen. Es war nichts gebrochen. Etwas Besorgniserregend war ihr Geisteszustand. Rosa phantasierte schon wieder von Shakhil. Sie wirkte nicht nur abwesend, sondern auch vollends entkräftet. Das war alles zu viel für sie. Sie konnte die Eindrücke nicht verarbeiten. Malcom machte kalte Umschläge und sprach beruhigend auf sie ein. Da Rosa zwei Monate in Indien bleiben wollte, hoffte Malcom, ihre Reisefähigkeit rechtzeitig wieder herzustellen. Eine leichte Brise kam von den geöffneten Fenstern herein, außen war die Abendluft seidig und mild. Malcom war traurig, er fühlte sich verantwortlich. Schon in England und New York hatte er sie enttäuscht. Sie waren sich zu ähnlich und taten sich damit immer wieder weh. Viele Hätte-und-Wäre-Wenns gingen in seinem Kopf herum, doch das alles half nichts. Es ging um Rosas Seelenfrieden, um nichts anderes. Warum hatte er sie nur hierher fahren lassen? Warum ist er selbst mit? Alle Dinge im Leben, die passieren, haben einen Grund und ihre Berechtigung. Rosa liebte Malcom, auf welche Art auch immer. Und er liebte sie auch. Beide konnten mit dieser Liebe nicht umgehen. Die Katastrophe war nun da. Rosa lag vor ihm, halb am Leben, halb im Reich der Unendlichkeit. Er wachte die ganze Nacht an ihrem Bett und zermarterte sich den Kopf. Shakhil könnte sie weiter verwirren oder ihr Halt geben. Jetzt blieb Malcom hier, er wollte nie wieder nach New York zurück; wie er diese Stadt hasste. Dort war er ein Nichts. Immer wollte er mehr vom Leben. Erwartete zu viel, verletzte seine Lieben und die, die es ehrlich mit ihm meinten. Eigentlich ein Nobody, ein Loser. Wann würde das Rosa endlich sehen? Endlich wahrhaben wollen?

Rosa träumte wildes Zeug. Sie war wieder diese alte Frau, die den Leuten, die ihr wiederum ähnlich sahen, die Zukunft voraussagte. Etwas Mystisches und schon von alters her Dagewesenes umgab sie. Es ängstigte sie, und das immer wieder kehrende eines Leierkastens beunruhigte sie. Sie phantasierte, weil sie nun auch Fieber hatte. Malcom hielt das nicht länger aus. Wie schon so oft in seinem Leben, löste er Sorgen und Probleme, indem er einfach verschwand. So ging Malcom am frühen Morgen für immer fort. Er hinterließ ein Schreiben, in dem er Rosa sein Apartment in Brooklyn mit einem einfachen Lebewohl überschrieb.

Am frühen Morgen wurde Rosa wach. Das Fieber ließ etwas nach, was ihr half, ein wenig klarer im Kopf zu werden. Aurora war in ihrer Nähe und brachte ihr frisches Wasser. Ihre Realität war ein Leben ohne Malcom und ein Leben um des Lebens willen und dass sie jetzt absolut nichts wissen musste. Sie musste nicht wissen, was ihre Zukunft für sie bereit hielt, sie musste nicht wissen, ob sie jemals die Liebe kennen lernen würde, ob sie eine glückliche Frau würde. Nein, sie musste gar nichts wissen. Shakhil trat an ihr Bett.

Shakhil war absolut asketisch, mit einem hochaufgetürmten Turban in leuchtendem Himmelblau. Sein Gesicht war schmal mit dunkelblauen mandelförmigen Augen, fast feminin. Sein Anzug bestand aus einer weiten Hose und einem Überzug, der bis zu den Knien ging und Sahara-Gelb war. Er trat leise an Rosas Bett und blickte sie warmherzig und tief an. Ihre Augen begegneten seinen Augen, aus denen starke Energie ausstrahle. Seine schwarze Hand nahm ihre Weiße vorsichtig. Dann vernahm Rosa eine gütige Stimme. „Dein Herz ist gebrochen, aber du bist noch, und deine Seele lächelt im Grunde. Du bist Yin und Yang. Lasse beide Seiten zu, denn zwei Teile ergeben ein Ganzes. Du bist ganz und gar. Deine Träume versuchen, dir das zu zeigen. Du bist Alt und Jung, wissend und naiv, durchtrieben und unschuldig, listig und unbedarft, egoistisch und hilfsbereit, maskulin und feminin, geschäftig und faul, heiter und gelassen. Finde die Mitte. Dies ist deine Lebensaufgabe. Übertreibe nicht, lass dich nicht gehen. Blicke lächelnd auf dich herab. Es ist ganz einfach.“

Shakhil nahm seinen Turban ab. Darunter kamen schwarze, dichte und kleine Locken hervor. Seine Haare gingen ihm bis zu den Schultern. Er beugte sich über Rosa, und seine Nase streifte die ihre. „Lass dich jetzt fallen, sei ganz Yin, und denke nichts mehr. Alles ist nun unwichtig. Ich werde dir deine Schmerzen und Prellungen nehmen, und du wirst zuversichtlich in die Zukunft blicken können. Rosa sei dies eine Mal du selbst und wäge nicht deine beiden Seiten ab.“ Shakhil zog vorsichtig Rosas Sari aus. Nun lag sie vor ihm - mit ihren unschuldigen rosa Brustwarzen und den schwarzen Locken zwischen ihren weißen und schlanken Schenkeln. Rosa, die sich schämte, blickte mit großen Augen auf Shakhil. Sie wusste nicht Recht, ob sie ihn rauswerfen oder ihn gewähren lassen sollte. Da sie hypnotisiert wie ein Kaninchen vor der Schlange lag, schien ihr jede Weigerung unmöglich. Shakhil war wunderschön und unter seinem Oberteil kam ein biegsamer, muskulöser Oberkörper mit samtweicher Haut zum Vorschein. Alles an ihm war schwarz, schwer und dampfend heiß. Er duftete nach Salbei und Yasmin gleichermaßen, und als die Nacht in das Zimmer hereinbrach und die Mondsichel ihr Licht gleißend auf das Bett warf, lernte Rosa die Liebe kennen, die erfüllte und schmerzte zugleich.

Als Rosa am Morgen aufwachte, war Shakhil schon gegangen. Das einzige was von ihm übrig blieb, war ein blauer Turban und eine gereinigte Rosa. Feli und Leya betraten den Raum. Sie brachten heiße Tücher und duftende Öle. Sie wuschen und pflegten Rosas schönen Körper, damit nicht nur ihre Seele erneuert würde. Rosa fühlte sich wie nach einem herrlichen Traum. Es schien alles so unwirklich, und doch erinnerte sie der leuchtende Stoff des Turbans an etwas wirklich Dagewesenem.

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