Читать книгу In einer fernen Zeit - Elena Risso - Страница 21
ОглавлениеKapitel 17: Weg der Erkenntnis und eigenen Stärke, Teil 3 - Wasser
Ihre Kleider waren schmutzig geworden. Immer noch fühlte sie sich so, als wäre in jeder ihrer Poren schwarzer Pfeffer. Sie hatte das dringende Bedürfnis nach Reinigung. Sie lief orientierungslos durch verwinkelte Gassen, die fast vollkommen ausgestorben waren. Nur ein paar Kühe kreuzten ihren Weg. Eine Art Lastwagen mit gläubigen Hindus nahm sie mit. Es war eine drangvolle Enge auf der Ladefläche. Da Rosa noch ganz benommen von ihrem letzten Erlebnis war, erlebte sie die nächsten Stunden wie in Trance. Es passierte etwas mit ihr, aber es war ihr das erste Mal in ihrem Leben egal, was auf sie zukommen würde. Sie spürte etwas von einer ruhigen, aber zielstrebigen Suche - ohne eine Pause zu benötigen, wie das Wasser, das seinen Weg ohne Rast sucht, wie ein japanisches Sprichwort sagt. Sie saß also wie alle anderen Reisenden auf der Ladefläche; ihre Füße baumelten. Dabei sah sie mit aufrechtem Kopf und geradem Blick, dass sie dabei war, Neu-Dehli zu verlassen Als die Häuser immer kleiner wurden, prägte ein neues, grünes Bild die Landschaft um sie herum. Keiner der Menschen sprach. Nur ab und zu war ein geräuschvolles Schaukeln zu vernehmen, wenn der Fahrer ein Schlagloch übersah. Die bunten Kleider wehten im schwülen Wind. In einiger Ferne schwang sich der Ganges breit und braun durch Felder und Siedlungen. Rosa hatte keine Ahnung, warum ausgerechnet sie mitfuhr. Jemand reichte ihr Wasser. Erst als sie trank, merkte sie, wie groß ihr Durst gewesen war. Noch gar nicht lange her, da war sie in der Upper Eastside zum Einkaufen gewesen. Jetzt wusste sie nicht einmal, was sie erwarten würde und vor allem, ob sie jemals wieder zurückkommen würde. Okay, unter ihrem bunten Kleid aus leichtem Chiffon in rosa und gelben Pastelltönen trug sie eine Jeans mit einer Innentasche; dort versteckte sie ein wenig Kleingeld, Kreditkarte und Pass. Aber würde ihr das hier irgendetwas nutzen? Ein Hauch von Unsicherheit kam in ihr hoch. Eine Art Brot wurde verteilt. Dankbar nahm Rosa auch diese Gabe an. Komisch, sie musste weder Durst noch Hunger leiden. Alle Menschen waren nett zu ihr. Sie versuchte in Erfahrung zu bringen, wo sie hinfuhren. Der Mann neben ihr - eine gewisse Ähnlichkeit zu Shakhil war kein Zufall - sprach in perfektem Englisch.
„Wir fahren nach Allahabad. Dort findet das größte Fest der Menschheit statt - die Kumbh Mela. Alle zwölf Jahre treffen wir Hindus uns hier an der Stelle, wo die Götter ihren heiligen Nektar verströmt haben, zu einem rituellen Bad im Ganges, um uns von allen Sünden zu befreien. 2001 stehen die Sterne so gut wie vor 144 Jahren nicht mehr - es wird ein sensationelles Fest werden. Wir werden gegen Abend Allahabad erreichen. Sei nicht verwundert und erschrecke nicht; es werden Millionen von Menschen kommen und ein jeder wird an die Reihe kommen, sein Bad zu nehmen.“ Rosa schluckte. Sie hatte von diesen rituellen Handlungen schon gehört. Es sollte sich dabei um Menschenansammlungen handeln, die jegliches Vorstellungsmaß übertrafen - so viele Menschen bringt manches große Land nicht zusammen. Auf was für ein Abenteuer hatte sie sich da eingelassen? Nun war sie mittendrin. Aufgeben kam nicht in Frage und jetzt war sie auch sehr neugierig geworden auf das Kommende.
Die Dämmerung brach bereits herein, als sie den Transporter abstellen mussten. Hier waren schon so viele Menschen, dass ein Weiterkommen mit dem Auto unmöglich wurde. Sie hatten noch zwei bis drei Kilometer Fußweg vor sich. Es ging nur langsam voran. Rosa hielt sich dicht an den Mann, der bereits auf der Ladefläche neben ihr saß. Weil es leicht abschüssig ging, konnte Rosa die bunt gekleideten Menschen sehen, die sich wie ein Meer vor ihr ausbreiteten. Dann erblickte sie erstmals das Wasser, auf dem kleine Lichter funkelten. Sie bekam Angst. Was machte sie hier eigentlich? Hinter ihr die Menschenmassen und vor ihr die schlammigen Fluten des Ganges. Die Realität kam ihr immer stärker ins Bewusstsein. Rosa blickte zu ihrem Begleiter. Sie sah ihn fest an. Dieser Mann war Shakhil; sie hatte die ganze Fahrt über daran gezweifelt, dass er es sein könnte, aber er war es, und er war bei ihr. Warum brauchte sie seinen Zuspruch? - sie hätte gerne selbst die Stärke und Sicherheit gehabt. War dies schon ein erster Weg zu Erkenntnis? Shakhil schien ihre Gedanken zu lesen. „Lasse dich noch einmal fallen und vertraue deinem Körper. Werde eins mit dem heiligen Wasser.“ Rosa sah wie die Menschen sich ins Wasser stürzten; manche übergaben sich vollkommen unbekleidet und schreiend dem Fluss. Würde das Wasser sie von negativen Gedanken und Handlungen reinigen, es ihr Mut und Hoffnung machen für die Zukunft? „Denke nicht weiter darüber nach, tu es einfach.“
Klein und unsicher stand sie da mit gesenktem Kopf. Sie sah auf das Wasser. Es war wunderschön geschmückt mit roten Blüten und kleinen schwimmenden Kerzen. Dazwischen die Freudenrufe der Pilger. Rosa war soweit; sie trat etwas nach vorne, ihre Füße berührten den feuchten Sand des Ufers. Sie duftete die starke Essenz der Blüten und nun war kein Halten mehr für sie. Sie zog das Kleid aus zartem Stoff aus, reichte es Shakhil. Sie verschränkte kurz die Arme und hielt sie schützend vor ihre Brust. Sie wollte sich dem Wasser so geben wie sie geschaffen war. Nachdem sie Shakhil die Jeans übergab, öffnete sie sich und ging mit kleinen Schritten in das heilige Wasser. Als sie stolperte und ganz ins Wasser tauchte, jauchzte sie vor Entzücken auf. Sie war außer Kontrolle. Das Wasser war warm. Sie fühlte sich eins mit dem Universum. Fülle und Leere umgaben sie gleichzeitig, und um sie herum war nur noch Stille. Sie nahm es nicht mehr war, als Shakhil zu ihr kam und sie aus dem Wasser trug. Er zog sie an und weckte sie dann aus ihrer Trance. Rosa fühlte sich wunderbar, zwar erschöpft, aber zufrieden und glücklich mit sich selbst.