Читать книгу Moldawisches Roulette - Elfi Hartenstein - Страница 16
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ОглавлениеIch hole mir kalte Finger. Der Luftzug vom Fenster her ist beträchtlich. Nach der dritten Runde hat sich der soeben erzielte kleine Überschuss wieder in Minus verwandelt. Die weitere Entwicklung verläuft geradlinig so weiter. Ich bleibe etwa eine Stunde lang dran, ohne auf die Zahlen zu achten. Als sich in meinem Kopf so etwas wie ein zusammenhängender Bildausschnitt herauszukristallisieren beginnt, schalte ich den Apparat ab. Es ist, wenn überhaupt, allenfalls ein Eckchen des Gesamtgemäldes, aber im Moment bin ich einigermaßen zufrieden damit. Jetzt kann ich mich auf meine Bücher konzentrieren. Die einen heben hinter dem Steuer ihres Wagens ab und fangen an zu meditieren; ich erreiche den Punkt völliger Leere, von dem aus sich neue Gedanken zu bilden beginnen, beim Solitär. Vegas mit drei.
Es ist lange nach Mittag und ich bin gerade vom Schreibtisch aufgestanden, um in der Küche Teewasser aufzusetzen, als Pacher anruft. Wir verabreden uns für halb vier vor dem Nationalpalast. Zehn Sekunden später klingelt das Telefon erneut.
»Ich möchte noch einmal auf meinen Vorschlag zurückkommen.«
Sein Englisch hat einen viel stärkeren Akzent, als ich es gestern wahrgenommen habe.
»Ihren Vorschlag?«
»Sie wissen doch, Tudor. Ich habe mit ihm gesprochen. Er meint selbst, dass sein Deutsch nicht besonders gut ist. Er wird Schwierigkeiten bei der Prüfung haben, sagt er. Für den Fall, dass Sie ihm etwas unter die Arme greifen könnten … sagen wir siebentausend? Was halten Sie davon?«
»Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass sich das Problem auf diese Weise lösen lässt, Mr. Rusnac.«
»Oh – dann werden wir gemeinsam eine Lösung finden, die alle zufrieden stellt.«
Entweder will er mich nicht verstehen, oder er begreift tatsächlich nicht.
»Denken Sie ganz in Ruhe darüber nach. Und ich überlege mir die Sache auch noch einmal. Wir haben ja noch ein paar Tage.«
»Es gibt nichts, worüber ich nachdenken müsste, Mr. Rusnac. Ich …«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, unterbricht er mich. »Ich verstehe sehr gut, dass Sie sich mit der Situation erst genauer auseinander setzen wollen. Das ist doch selbstverständlich. Wie gesagt, ich mache mir auch noch einmal meine Gedanken. Ich melde mich Anfang der Woche wieder.«
Bevor ich auch nur zu einer Erwiderung ansetzen kann, hat er aufgelegt.
»Wir könnten fragen, ob wir noch Karten bekommen.« Pacher weist auf eines der Ankündigungsplakate. »Wenn ich das richtig verstehe, geht es um eine große Sondershow der Präsentiergruppe der Tanzakademie, die ihr fünfzigjähriges Bestehen feiert. Gegen ein bisschen Folklore hätte ich nichts einzuwenden. Warum lachst du?«, fragt er irritiert.
»Weil es mich wundern würde, wenn nicht längst alles ausverkauft wäre. Außerdem kann man hier gar keine Eintrittskarten kaufen. Man bekommt sie nur an besonderen Vorverkaufsstellen.«
»Ehrlich?« Er sieht mich zweifelnd an, späht dann durch die Menge, die in den Nationalpalast drängt.
»Du kommst überhaupt nicht rein, wenn du nicht am Eingang deine Tickets vorweisen kannst.«
»Schade.«
Da es schon zu spät ist, um noch ins Museum zu gehen, trotten wir den Stefan cel Mare entlang und biegen hinter den Blumenständen zum Zentralmarkt ab. Am Tor versperrt uns eine Bettlerin den Weg. Mit ihrem Buckel, der dünnen Jacke und den zerlumpten Schuhen bietet sie ein Bild des Jammers. Ihr Mund leiert Beschwörungsformeln, während sie uns hartnäckig nicht von der Seite weicht, bis Pacher ein paar kleine Münzen aus seiner Geldbörse nimmt und sie ihr in die Hand drückt. Die Alte lässt die Münzen blitzschnell in ihre Jackentasche gleiten, bekreuzigt sich murmelnd und ist im nächsten Moment zwischen den nachdrängenden Menschen verschwunden. Ein paar Schritte weiter sitzt eine junge Frau auf dem blanken Boden, im Schoß ein Kind, dessen Kopf ein einziges Geschwür zu sein scheint. Immer, wenn ich den Markt durch dieses Tor betrete, sitzt sie an dieser Stelle und starrt stumm zwischen den sich an ihr vorbeischiebenden Beinen ins Leere. Nur selten nimmt sich jemand die Zeit, sich zu ihr hinabzubücken und ihr Geld zuzustecken. Fast ist es, als gehöre ihr Elend und das der vielen anderen abgerissenen, verkrüppelten Gestalten, die sich hier herumtreiben, genauso zum geschäftigen Treiben dieses riesigen Bazars wie die unzähligen Händler und Kunden. Wie jedes Mal macht ihr Anblick mich hilflos und zornig zugleich. Mir fehlt der Glaube daran, dass mit ein paar Münzen gegen diese Not anzukommen ist. Erst als wir im Bereich der überdachten Markthallen wieder einigermaßen selbst die Richtung bestimmen können, kann ich die Beklemmung abschütteln.
»Das ist Orient«, sagt Pacher kopfschüttelnd, »reinster Orient.«
Mir ist nicht klar, ob er noch von den Bettlern spricht oder ob er das bunte Durcheinander meint, in das wir nun hineingeraten sind.
Wer zum ersten Mal hierher kommt, muss einfach staunen. Über die Vielzahl von Händlern, über die großen Hallen für Fleisch und Geflügel, für Käse und Milchprodukte, über die Selbstverständlichkeit, mit der auf den Verkaufstischen im Freien Fischkonserven neben Autobatterien, Gewürze neben Schuhbändern, Nudeln neben Kaviardosen gestapelt sind. Und über die stumm nebeneinander in langer Reihe stehenden Männer und Frauen, die einfach ihre Ware in der Hand halten: Plastiktüten, eine Torte, Socken, Ledergürtel, Bonbons, Schraubenzieher. Der Zentralmarkt ersetzt neunzig Prozent aller Supermärkte. Und er ist gleichzeitig die Erklärung dafür, warum sich die Mangelsituation im Alltag trotz der so miserabel ausgestatteten und geführten Kaufhäuser in Grenzen hält.
Wir schlendern eine gute Stunde lang kreuz und quer durch die Wege und Gänge. Pacher ersteht zwei Dosen roten Kaviar, die er sich links und rechts in die Manteltaschen schiebt; schließlich drängeln wir uns zu der schmalen Seitenpforte durch, die auf den Busbahnhof hinausführt. Er hat sich vorgenommen, die ihm verbleibenden zwei Tage zu einem Ausflug in den Norden des Landes zu nutzen; wir wollen herausfinden, wann er morgen Vormittag einen Bus nehmen kann. Ich bin ziemlich stolz auf mich, als wir schon nach einer Viertelstunde die nötige Fahrkarte ergattert haben.
»Super!«, strahlt er. »Jetzt fehlt mir zu meinem Glück eigentlich nur noch ein gepflegtes Essen. Hast du eine Idee, wo wir hingehen könnten?«
In Anbetracht seines Hungers auf einheimische Folklore schlage ich das Kellergewölbe im Hotel Chişinau vor. »Die Küche kannst du allerdings vergessen.«
»Teuer?«
»Kein Problem.«
Er grinst. »Na ja, mit den fünftausend Dollar im Hintergrund …«
»Siebentausend.«
»Wie bitte?«
»Das Angebot ist erhöht worden.«
»Ist das dein Ernst?«
»Du meinst, ob Rusnac das ernst meint?«
Er pfeift durch die Zähne. »Ich will mich ja nicht einmischen, aber … Ich habe den Eindruck, als solltest du …« Er bricht ab und schüttelt den Kopf. Plötzlich sieht er ziemlich besorgt aus.
»Was sollte ich?«
»Auf dich aufpassen, verdammt noch mal. Das Ganze ist mir echt nicht geheuer.«
»Keine Angst«, sage ich. »Ich werde schon auf mich aufpassen.«
Es scheint ihn nicht gerade zu beruhigen. Er zückt seine Brieftasche und fummelt eine Visitenkarte heraus. »Hier, meine Adresse und Telefonnummer in Wien. Versprich mir, dass du auf der Stelle anrufst, falls sich irgendwelche Komplikationen ergeben sollten.«
»Ich weiß gar nicht, was du hast. Was für Komplikationen sollten sich denn ergeben?«
»Versprich es mir, ja?«
»Okay.«
Eine Weile gehen wir schweigend nebeneinander her. Kurz bevor wir das Hotel Chişinau erreichen, greift er nach meinem Arm.
»Pia?«
»Hm?«
Wir stehen dicht voreinander. Seine braunen Augen sehen mich ernst an – von dem übermütigen Pfadfinder scheint plötzlich nichts mehr übrig zu sein.
»Was ist denn los?«, frage ich erschrocken.
»Bist du jetzt böse?«
»Wieso?«
»Na, weil ich … Also, wie gesagt, ich will mich ja wirklich nicht in deine Angelegenheiten einmischen, aber weißt du …« Er bricht ab, schüttelt den Kopf.
»Nun sag schon«, sage ich ungeduldig. Wenn ich eines nicht leiden kann, dann, wenn jemand um den heißen Brei herumredet. Noch dazu jemand, den ich für neugierig, witzig, aufgeschlossen und ehrlich halte.
Pacher baut sich jetzt direkt vor mir auf, legt mir beide Hände auf die Schultern und beugt sich so nah zu mir, dass ich ihn deutlich verstehe, obwohl er fast flüstert.
»Hör zu«, sagt er, »ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber ich habe das Gefühl, dass diese Sache ziemlich unangenehm für dich werden könnte. Und ich … Na ja, ich kann nichts tun, aber ich möchte dich wenigstens warnen.«
»Wovor?«
»Vor Rusnac natürlich.«
»Natürlich. Aber wieso?«
»Weil er das vielleicht nicht so einfach wegsteckt, wenn er von dir einen Korb kriegt.«
»Ach – was kann er schon machen? Glaubst du, er läuft rum und hängt es an die große Glocke, dass ich nicht auf seinen Vorschlag eingegangen bin?«
»Das vielleicht nicht. Aber vielleicht versucht er sich an dir zu rächen, weil du ja nun weißt, dass er …«
»He – ich dachte, Bestechung gehört hier zur Tagesordnung?«
»Aber auch, dass man darauf einsteigt. Und wenn das nicht geschieht, gibt es eben zwei Möglichkeiten. Entweder gehen beide Seiten einvernehmlich mit einem ironischen Lächeln darüber hinweg, oder aber man hat sich einen Feind geschaffen. Sieh dich bloß vor.«
»Weil sonst …?«
»Du weißt ja wohl selbst, dass Moldawien bei uns im Westen als Mafia-Land verschrien ist. Nicht ganz so stark wie Rumänien oder die Ukraine, aber doch auch.«
»Und was hat das mit Rusnac zu tun oder damit, dass er will, dass ich seinem Sohn zu einem Stipendium verhelfe?«
Er schüttelt den Kopf. »Weiß ich auch nicht, aber ich stelle mir einfach vor, dass es so ist, wie du mir selbst erzählt hast. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen und jeder mit jedem. Und vielleicht bist du plötzlich verschwunden. Oder tot.«
Wir sehen uns an und fangen mit einem Mal gleichzeitig an zu lachen.
Trotzdem sagt Pacher: »Über so was lacht man nicht, meine Liebe.«
»Du liest zu viele Krimis, Herr Journalist.«
»Nein, überhaupt nicht. Ich habe bloß in letzter Zeit rein zufällig ein paar Artikel über das organisierte Verbrechen in Südosteuropa und den ehemaligen Sowjetrepubliken in die Finger gekriegt. Das reicht wirklich, um sich bei so einer Geschichte Sorgen zu machen.«
»Also gut«, sage ich. »Ich verspreche dir, dass ich aufpasse. Ich verspreche alles, nur damit du beruhigt bist. Und ich verspreche auch, dass ich dich sofort anrufe, falls sich irgendetwas Neues in dieser Sache ergibt. Reicht das? Und gehen wir jetzt endlich rein? Ich habe Hunger.«
»Versprochen ist versprochen?«
»Klar. Und du weißt ja: Mein Telefon funktioniert im Allgemeinen.«
»Gut dann«, sagt er und zieht mich auf die Eingangstür des Hotels zu. »Dann lass uns doch mal schauen, ob’s in dieser Crama etwas wärmer ist als in Cricova.« Und dann ist da wieder sein hübsches Pfadfinderlächeln. »Ehrlich gesagt, ich wäre verdammt gern an Ort und Stelle, um mitzubekommen, wie diese ganze Geschichte ausgeht.«