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Judith zitterte noch, als sie zu Hause aus dem Wagen stieg. Sie rannte förmlich in den Lift, fuhr nach oben, ließ an der Wohnungstür zweimal den Schlüssel fallen, schaffte es endlich doch, stürzte in die Wohnung, sperrte hektisch ab und knallte den Riegel vor, dann rannte sie ins Wohnzimmer und fiel aufs Sofa.

Er war´s gewesen, ganz bestimmt! Grauer, das ja, aber sonst hatte sie ihn eindeutig wiedererkannt. Als sich ihr Atem allmählich wieder normalisierte, begann sie zu überlegen. Als sie sich von diesem Sonntag losgemacht hatte, war Schmiedl verschwunden. Aber sie hatte ihn sich garantiert nicht eingebildet – war er geflohen? Weil ein Mann neben ihr stand? Hatte Sonntag ihm Angst gemacht? Sonntag war groß und wirkte recht sportlich, aber soo eindrucksvoll war er nun auch wieder nicht.

Oder wollte Schmiedl immer nur kurz auftauchen, wie ein Geist sozusagen? Um sie in den Wahnsinn zu treiben?

Schwierig wäre das nicht, nach dem, wie sie heute reagiert hatte, musste sie sich eingestehen – aber was hätte er davon? Deshalb hatte er doch trotzdem elf Jahre abgesessen und er konnte nicht behaupten, er sei zu Unrecht verurteilt worden, denn sie, Judith, sei einfach verrückt und ihre damalige Aussage folglich nicht weiter ernstzunehmen. Schließlich hatten auch noch andere Leute ausgesagt, ihre Eltern, die Sanitäter, die sie erstversorgt hatten. Und alle waren sich ja wohl einig gewesen, soweit sie das aus dem einen Tag folgern konnte, an dem sie im Gerichtssaal gewesen war.

Hätte sie anders reagieren können? Sollen? Müssen? Hinausrennen und kreischen? Nicht gut. Einfach hingehen und fragen, was er wollte? Auch nicht gut, das hätte sie sich nie getraut.

Bestimmt war er mittlerweile ein ältlicher armseliger Kerl, aber wenn sie ihn sah, kam eben alles von damals wieder hoch und sie hatte genauso viel Angst wie als hilflose Siebzehnjährige, als er noch alles mit ihr machen konnte.

Sie schauderte auf ihrem Sofa. Essen sollte sie etwas, auch um sich von diesen Gedanken abzulenken, aber sie hätte jetzt beim besten Willen nichts heruntergebracht.

Ein kurzer Blick in den armselig ausgestatteten Kühlschrank bestätigte das: nö. Eher war ihr schon ein bisschen übel, auf den Schrecken hin vielleicht auch kein Wunder.

Was, wenn er jetzt jeden Tag vor dem Eingang stand? Sie konnte sich doch nicht auf Dauer durch den Hintereingang davonmachen – die Juniorchefin, wie schaute das denn aus!

Noch eine einstweilige Verfügung? Nein, das war auch wieder übertrieben. Eigentlich hatte er ja nichts gemacht als vor der Firma herumzustehen. Und dann war doch auch wieder verschwunden! Man würde sie wahrscheinlich entweder für durchgeknallt oder für extrem rachsüchtig halten.

Sie musste es sich ganz nüchtern überlegen: Was wollte er wohl von ihr? Wohl kaum sie noch mal entführen. Vielleicht sich nur entschuldigen…

Würde sie ihm verzeihen?

Spontan: Nie im Leben, sollte er doch jede Nacht bereuen, was er ihr angetan hatte. Aber nach einem Moment der Überlegung: Hass belastete doch nur. Vielleicht war Verzeihung ja so etwas wie Loslassen…

Äh, das klang wie dieses unerträgliche Psychogelaber in der Reha!

Ganz was anderes: Woher wusste er eigentlich, dass sie bei Schottenbach arbeitete? Gut, sie hieß schließlich auch so, aber hatten sie im Knast eigentlich Zugang zu Zeitungen, vielleicht sogar zum Internet? Ja, wahrscheinlich war das ein Menschenrecht, das auch im Gefängnis gewahrt werden sollte.

Gut, man musste ja nur Judith Schottenbach googeln, dann fand man ziemlich schnell alles Nötige. Hatte sie schließlich gestern selbst ausprobiert.

Und jetzt hatte sie die Nase von diesen Gedanken voll, jetzt gab es einen schönen Film. Sie zappte ein bisschen herum und fand etwas hinreichend Realitätsfernes mit Heimattouch. Immer schläfriger werdend, verfolgte sie die Handlung mit schwindendem Interesse und verzog sich schließlich ins Bett. Lieber richtig gut schlafen als dauernd sinnlose Gedanken wälzen!

Mitten in der Nacht fuhr sie schweißgebadet wieder hoch, denn Schmiedl stand neben ihrem Bett und flüsterte: „Elf Jahre! Elf Jahre hast du mir eingebrockt. Dafür wirst du jetzt bezahlen!“ Und dann ließ er dieses Messer wieder aufspringen. Judith wunderte sich noch kurz, warum er das noch hatte – musste das nicht einer Asservatenkammer liegen?

Dann gab es ein leises Geräusch, sie fuhr hoch und da stand gar niemand.

Schwer atmend und frierend in dem feuchten Pyjama saß sie im Bett: Musste sie jetzt jede Nacht mit Alpträumen rechnen? Wie sollte sie denn vernünftig arbeiten, wenn sie nicht anständig schlief? Und wie sollte sie Papa und vor allem Jessica überzeugend vortäuschen, dass alles in Ordnung war, wenn sie so hohläugig daherkam? Was konnte sie gegen diese Träume unternehmen?

Zum Psychologen gehen? Danke, die Reha damals hatte ihr gereicht. Warum trieben sich gerade in dieser Branche so viele Scharlatane herum - oder bildete sie sich das nur ein?

Mühsam stand sie auf, duschte flüchtig, trocknete sich ab und schlüpfte in einen frischen Pyjama, dann schüttelte sie ihre Bettdecke und das Kissen kräftig auf und legte sich wieder hin. Wenn gar nichts anderes half, musste sie sich eben Schlaftabletten besorgen. Klasse, am Ende wurde sie wegen dieses Drecksacks noch medikamentenabhängig…

Jetzt würde sie ein paar Seiten lesen, damit ihr Gehirn neue Eindrücke zu verarbeiten hatte, und es dann noch einmal mit Schlaf versuchen.

Den Krimi… nein, lieber nicht, das war zu ähnlich. Vielleicht eine nette Liebesgeschichte aus dem Regency? Ja, das passte. Sie las eine Szene, die in einem noblen Ballsaal spielte, und litt ein wenig mit der Heldin, als ihr Angebeteter mit einer anderen Lady davonwalzte. Liebeskummer las sich nett, der hatte mit Judiths Wirklichkeit so gar nichts zu tun.

Schließlich wurden ihr die Lider schwer, noch bevor sie erfahren konnte, ob der schöne Lord sich nun für die Heldin oder die (eindeutig böse) Rivalin entscheiden würde. Sie löschte das Licht und kuschelte sich zurecht. Ob sie jetzt wohl von einem Geliebten träumte? Und wie der wohl aussah? Da war sie jetzt direkt neugierig…

Wenigstens hatte sie den Rest der Nacht einigermaßen tief und auch fast ganz traumlos geschlafen. Nur eine kurze Sequenz, in der sie Walzer getanzt hatte, leider mit einem völlig gesichtslosen Mann, war ihr noch in Erinnerung. Also hatte die Lektüre doch etwas genützt!

Der erste, dem sie in der Firma, noch etwas blass und nicht wirklich ausgeschlafen, über den Weg lief, war Sonntag. Er sah auch nicht viel besser aus. Sie grüßte flüchtig und wollte an ihm vorbei, aber er hielt sie auf, indem er fragte: „Geht es Ihnen gut, Frau Schottenbach?“

Sie runzelte die Stirn. „Natürlich. Ihnen auch? Sie wirken etwas – nun, übernächtigt?“

Sonntag grinste schief. „Neue Wohnung, unbequemer Futon. Ich werde mich schon noch daran gewöhnen.“

„Oder Sie gönnen sich doch ein richtiges Bett?“ Sie lächelte kurz und eilte in ihr Büro.

Immerhin, überlegte sie oben, entweder hatte Schmiedl aufgegeben oder er war kein Frühaufsteher – aber das musste er noch aus dem Knast gewohnt sein? Judith kannte Gefängnisse natürlich auch nur aus dem Fernsehen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass man dort so lange schlafen durfte, wie man gerade wollte.

Aber aufgegeben? Nach einer Erscheinung? Huch, das hörte sich wie ein Spuk an, eine Geistererscheinung…

Sie konnte die Polizei anrufen, aber sie konnte sich schon vorstellen, wie die Antwort ausfallen würde: Schmiedl hatte seine Strafe verbüßt und war ein freier Mann; man konnte ihn nicht daran hindern, sich aufzuhalten, wo er wollte… habe er sie denn bedroht? Nein? Ja, dann…

Nein, das brauchte sie nicht.

Sie erhob sich und sah sicherheitshalber doch aus dem Fenster: kein Schmiedl. Vielleicht noch nicht…

Immerhin konnte sie sich zwingen, bis zur Mittagspause einigermaßen konzentriert zu arbeiten, zwei kurze Meetings zu leiten, ein neues Projekt zu genehmigen und ein weiteres anzuregen, sich bei einigen Entwicklern nach dem Stand ihrer Arbeiten zu erkundigen und mit ihrem Vater eine Finanzierungsfrage zu erörtern.

Schließlich begann ihr Magen zu knurren und sie überlegte, was sie jetzt tun sollte – essen gehen? Was, wenn Schmiedl draußen lauerte?

Die Alternative war der Snackautomat im Erdgeschoss – aber die Schokoriegel darin waren zwar frisch und bei manchen Leuten auch recht beliebt, aber sie mochte das Zeug leider überhaupt nicht. Das war etwas, worum Nini, ihre beste Freundin, sie heftig zu beneiden pflegte – keine Schokolade zu mögen, das war schon fast die Garantie auf eine Topfigur. Nini futterte täglich mindestens eine Tafel (edelster Sorte natürlich) und war trotzdem nicht dick, nur vielleicht ein bisschen handfester, was ihr aber, wie Judith fand, ganz gut stand. Sie selbst war eigentlich zu dünn, aber sie hatte eben selten Appetit. So, und jetzt hatte sie Hunger, endlich mal! Vom Nachdenken über Nini wurde sie nur noch hungriger - und zwar wollte sie jetzt ein ordentliches Sandwich. Mit Hähnchenbrust und irgendetwas Würzigem. Salatbar, eindeutig!

Vor der Tür stand niemand. Judith atmete auf und eilte zwei Ecken weiter zur Sandwichbar, suchte sich dort einen Platz im hinteren Teil, wo sie auch von der Straße nicht zu sehen war, und vertiefte sich in die Karte. Oh, gebratene Hähnchenstreifen und Dijon-Senf auf Dinkel-Sonnenblumenbrot… das klang regelrecht gesund. Und nahrhaft, damit war sie bestimmt bis abends versorgt.

Sie bestellte und sah sich dann unauffällig um – durchgehend Leute in ungefähr ihrem Alter, die höchstwahrscheinlich in den Firmen der Umgebung arbeiteten.

Detektivische Meisterleistung, Judith! Welches Publikum war hier denn sonst zu erwarten?

Zwei Tische weiter saßen Anna und Simon aus der Entwickleretage, und ihren Gesten nach – und nach der Art, wie sie die Köpfe zusammensteckten – kamen die beiden sich gerade etwas näher… Nett. Wenn man so etwas mochte, hieß das. Die beiden bemerkten sie nicht, vielleicht wollten sie auch nur ungestört sein.

Judith bekam ihr Sandwich und begann langsam und genüsslich zu essen, während sie beobachtete, wie Anna und Simon zahlten und den Laden verließen. Wirklich lecker. Und dieser Senf war höllisch scharf, das musste der Meerrettich sein. Sie fühlte sich regelrecht belebt. Nach der Arbeit sollte sie vielleicht doch mal einkaufen gehen – und dabei auch eine Tube Sahnemeerrettich mitnehmen, beschloss sie und kaute bedächtig. Ja, und eine Tüte Vollkornsemmeln mit Sonnenblumenkernen darauf. Der Gedanke gefiel ihr so gut, dass sie sich tatsächlich eine Einkaufsliste schrieb. Merkwürdig, sonst war ihr nach dem Essen der Gedanke an die nächste Mahlzeit eher unangenehm. Vielleicht lag das am unvertrauten Geschmack des Meerrettichs? Oder hatte sie sich verändert? Aber warum? Weil der widerliche Schmiedl vor der Tür gestanden hatte? Warum sollte ihr das Appetit machen?

Unsinn.

Sie verbannte diese fruchtlosen Gedanken, aß auf, wobei sie sich bemühte, an gar nichts zu denken, sondern nur zu genießen, und winkte der Bedienung.

Ein schöner Spätherbsttag, fand sie unterwegs und sah sich bewundernd um – ein schwächlicher Sonnenschein, fast kahle Bäume, trockene rote und gelbe Blätter auf dem Boden, die bei jedem Windhauch raschelten wie Papier. Und morgen war schon Freitag – schön…

Obwohl, was würde sie am Wochenende schon Großartiges machen? Sie konnte irgendwo hinfahren und dort etwas besichtigen und schön lange spazieren gehen. Vielleicht nach München, bis dahin würde Schmiedl ihr ja wohl nicht folgen… ob jemand, der direkt aus dem Knast kam, eigentlich ein Auto hatte? Ein zwölf Jahre altes, das irgendwo auf ihn wartete?

Die Schottenbach KG kam in Sicht und Judith, die sich von hinten genähert hatte, schlüpfte durch den Hofeingang ins Gebäude und eilte in den Eingangsbereich, wo sie wie erstarrt stehenblieb.

Durch den Haupteingang kam gerade dieser Sonntag, und am Empfang stand ihr Vater und gab der Empfangsdame Anweisungen, aber das war es nicht, was sie so erschreckt hatte: Vor der Glastür stand Schmiedl.

Grauhaarig, schmalköpfig, schwarz gekleidet. Wie damals!

Er starrte ins Innere des Hauses und Judith starrte nach draußen: Wie konnte er es wagen! Er sollte sie verdammt noch mal in Ruhe lassen, dieser verdammte, verfickte Scheißkerl!

Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Lähmung vertreiben, und stürzte dann nach draußen, auf Schmiedl zu, ihre Handtasche schwingend und wütend kreischend.

„Du blödes Arschloch, wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen! Verpiss dich, du dreckiges Schwein, du Abschaum, du -“ Sie hielt inne, teils, weil ihr leider kein neues, noch schlimmeres Schimpfwort einfallen wollte, teils aber auch, weil Schmiedl, der sich das regungslos angehört hatte, sich plötzlich umdrehte und davoneilte.

Sie starrte ihm nach und brach dann in Tränen aus, bis sie eine Berührung an der Schulter spürte und heftig zusammenfuhr.

„Komm rein, mein Mädchen.“

„Ach, du bist es, Papa…“ Zögernd ließ sie sich in den Arm nehmen.

„Das – das war er“, wisperte sie dann an seiner Schulter. „Hast du ihn gesehen? Ich spinne doch nicht, das war er, ganz bestimmt!“

„Natürlich war er das, ich habe ihn doch auch gesehen. Soll ich die Polizei informieren? Allerdings bin ich nicht sicher, ob die etwas unternehmen können. Ganz ehrlich, er hat nichts gemacht, du bist ja auf ihn los!“

„Was hast du erwartet? Wenn er mir nochmal unterkommt, bring ich ihn um.“

„Mein Mädchen, sag sowas nicht. Mach dich nicht unglücklich für so einen.“

„Unglücklich bin ich doch sowieso“, rutschte es ihr heraus. Erschrocken sah sie zu ihm auf. „Nein, das ist Unsinn. Mir geht es gut, wirklich. Nur nicht, wenn mich dieser Kerl verfolgt.“

„Du bist wirklich eine Meisterin im Leugnen des Offensichtlichen! Judith, du brauchst Hilfe, gib´s doch endlich zu!“

„Quatsch.“ Sie hob den Kopf und sah Sonntag, der sie betrachtete, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.

„Was ist?“

„Ihr Vater hat Recht.“

„Was wissen Sie denn schon!“ Sie machte sich von ihrem Vater los und rannte die Treppe hinauf. Im oberen Stock verlangsamte sie ihr Tempo, bevor noch jemand von den Entwicklern fragte, ob ihr etwas fehle. Sie atmete tief durch, um ruhiger zu werden, und kehrte in ihr Büro zurück.

Weiterarbeiten!

Arbeit war das einzige, was Sicherheit gab – aber sie konnte sich absolut nicht konzentrieren: Warum stand Schmiedl so dämlich vor der Firma herum? Er hatte nicht versucht, sie anzugreifen, im Gegenteil, er war nur davongelaufen, als sie ihn attackiert hatte. Was hatte er bloß gewollt?

Sie nahm sich einen Zettel.

Er will mich verrückt machen.

Er will schauen, was ich heute so mache.

Er will sich entschuldigen.

Er will mich nochmal entführen, weil er kein Geld mehr hat.

Ziemlicher Blödsinn, überlegte sie dann und warf den Zettel zerknüllt in den Papierkorb.

Es klopfte an der Tür und sie brummte etwas wenig Einladendes. Die Tür öffnete sich trotzdem und ihr Vater schaute herein. „Ich habe die Polizei informiert.“

„Meinst du, das nützt etwas? Dumm rumstehen ist eben nicht strafbar.“

„Mag ja sein, aber immerhin hat er dich einst entführt. Dann sollte er sich jetzt verdammt noch mal von dir fernhalten.“

Judith zog die Augenbrauen hoch. Ihr feiner, gelassener Vater – der sogar Jessica Rothers Umtriebe ertragen hatte – fluchte? Die Sache schien ihm doch wirklich nahezugehen…

Sie lachte kläglich auf. „Ich habe schon überlegt, ob er sich vielleicht bei mir entschuldigen will. Idiotisch, was?“

Ihr Vater zuckte, im Türrahmen lehnend, die Achseln. „Wer weiß das schon… würdest du ihm denn verzeihen?“

„Nein. Tut mir leid, ich hab´s nicht mit christlicher Milde. Eher spüre ich eine sehr unchristliche Mordlust.“

„Verständlich. Aber bitte, gib ihr nicht nach!“ Er lächelte schief und verschwand wieder, ohne die Türe zu schließen.

Zwei Türen weiter versuchte Vincent, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren; neben seinem Hauptprojekt hatte er gerade eine niedliche kleine App konzipiert, mit der man einfach, aber effizient auf dem Handy ein Ausgabenbuch und eine Übersicht über die Geldanlagen führen konnte, und wollte über die Details nachdenken und überlegen, wie er bei der Programmierung vorgehen wollte. Aber die Szene in der Eingangshalle ließ ihn nicht los. Diese Judith hatte sich wie eine Verrückte aufgeführt!

Wusste seine Mutter eigentlich, dass die Frau einen an der Waffel hatte? Oder störte das ihren Traum von der Vereinigung der Sandkastenfreunde nicht? Nahm seine Mutter die Realität überhaupt noch korrekt wahr?

Was hatte Judith Schottenbach gegen diesen Typen vor der Tür? Gut, er hatte ein wenig wie ein Penner ausgesehen, und anscheinend hatte er an seinem ersten Tag auch schon einmal draußen herumgestanden, aber warum dieser Ausbruch? Dieses Gekreische? Farbige Schimpfwörter hatte die Gute drauf, das musste man ihr lassen…

Ob sie irgendeine psychische Störung hatte? Aber sonst hatte sie doch immer ganz normal gewirkt? Obwohl, was hieß schon normal…

Und vielleicht traten diese Wutanfälle auch nur gelegentlich auf.

Nein, diese Theorien kamen ihm selbst bescheuert vor. Viel naheliegender war die Möglichkeit, dass sie mit diesem abgerissenen Typen irgendwelchen Ärger hatte.

Na gut, dann war sie vielleicht nicht durchgeknallt, aber ganz schön reizbar. Auch so eine Frau wollte er nicht, egal, wovon seine Mutter so träumte.

Ihr Vater schien viel Verständnis für sie zu haben… was sagte das über die beiden aus? Wahrscheinlich gar nichts, schließlich kannte er beide noch ja kaum. Energisch wandte er sich wieder seiner App zu.

*

Judith saß immer noch an ihrem Schreibtisch, das Gesicht in den Händen vergraben. Wenn Schmiedl so weiter machte, verlor sie entweder den Verstand oder brachte Schmiedl eines Tages wirklich noch um. Nein, wegen dieses miesen Schweins wollte sie nicht den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen!

Was war jetzt mit diesem Projekt? Sie hatte die Mappe gerade aufgeschlagen, als ihr Telefon klingelte.

Ihre Mutter, na bravo.

„Was kann ich für dich tun, Mutter?“

„Warum so formell, mein Mädelchen?“

Judith hasste es, wenn sie sie so nannte – diese Anrede stand nur Papa zu.

„Du weißt, dass ich nicht zu Gefühlsduseleien neige. Und sei ehrlich, du auch nicht, wenn keine Kamera läuft.“

„Kleine Zynikerin!“

Dieser neckende Tonfall konnte einen rasend machen.

„Meinst du, weil ich dich durchschaut habe?“

„Also, etwas mehr Respekt könntest du schon haben!“

Judith gab ein unfeines Geräusch von sich, auf das ihre Mutter leider nicht ansprang – also musste sie nachlegen. „Als Schauspielerin? Vielleicht. Aber als Mutter? Vergiss es! Und auf liebendes Mutterherz musst du jetzt auch nicht machen. Ich überlege sowieso immer nur, welche Schlagzeile du damit bewirken möchtest.“

„Wie wär´s mit: Jessica Rother: Trauer über undankbare Tochter?“

„Soll das eine Drohung sein? Mach nur!“

„Hast du keine Angst vor einem Shitstorm?“

„Wie denn? Ich bin nicht in sozialen Netzwerken unterwegs. Einen Shitstorm bekäme ich doch sowieso nicht mit. Ich könnte mich aber unter einem Pseudonym anmelden und auf deiner Seite ein bisschen stänkern…“

„Untersteh dich!“ Das klang regelrecht panisch. Judith lachte erfreut. „Hast du Schiss?“

„Drück dich nicht so ordinär aus!“

„Für Erziehungsmaßnahmen ist es jetzt ein kleines bisschen zu spät. Wäre es übrigens nicht einfacher, du schwiegest mich tot? Ich meine – deine Jüngste ist neunundzwanzig: Wie alt bist du denn dann?“

„Das ist doch total von gestern! Jeder weiß, dass ich sechzig werde. Ich stehe zu meinem Alter.“

„Lobenswert“, höhnte Judith. „Du würdest ja auch nie was machen lassen, nicht? Dass du so jugendlich wirkst, liegt nur daran, dass du genügend schläfst, viel wanderst und nur Wasser trinkst?“

„Selbstverständlich“, antwortete ihre Mutter frech. Judith, die von mindestens zwei kleineren Straffungen wusste, musste die Chuzpe ihrer Mutter bewundern. „Du traust dich was! Und was, wenn dein Chirurg mal Geld braucht und plaudert? Stars, die ich schon unter dem Messer hatte – oder so? Dann schaust du aber echt alt aus!“

„Willst du mir eigentlich mit Gewalt den Tag verderben?“

Judith freute sich – einen gewissen Reiz hatte ein solcher Schlagabtausch schon. „Aber nicht doch! Einigen wir uns doch so – du redest nicht über mich und ich rede nicht über dich, okay?“

Gegrummel.

„Komm, die Jungs können Publicity wenigstens brauchen, lass dich doch über die beiden aus.“

Jetzt hatte ihre Mutter offenbar genug von der unnatürlichen Tochter und beendete das Gespräch mit den kürzestmöglichen Floskeln.

Judith grinste noch einen Moment lang das Telefon an – diese eitle alte Kuh, Hauptsache im Gespräch bleiben, was? Aber manchmal war sie schon cool… Konnte Schmiedl nicht bei ihr vor der Tür stehen? Sie konnte schließlich jede Publicity brauchen, denn wer wusste schon, wie lange die Mutter des jüngsten Kommissars noch in der Serie gebraucht wurde… und wann hatte sie eigentlich die letzte Rolle in einem nennenswerten Film gehabt? Oder gar irgendeinen Preis gewonnen? Hatte sie überhaupt schon mal einen Preis gewonnen?

Doch, ja. Judith konnte sich noch an das Haus erinnern, in dem sie früher einmal gewohnt hatten, vor fast zwanzig Jahren. Da hatte es einen Kamin gegeben und auf dem Kaminsims ein goldenes Reh.

Wofür hatte ihre Mutter denn einen Bambi gewonnen? Das müsste sie ja fast mal im Netz nachsehen – nein, nicht jetzt. Zuhause vielleicht, rief sie sich streng zur Ordnung. Marginales Problem, sie hatte schließlich zu arbeiten!

*

Wolfgang Schottenbach hatte in seinem eleganten Büro am anderen Ende des Ganges (durch das Sekretariat abgeschirmt) auch Schwierigkeiten, sich auf seine Aufgaben zu konzentrieren. Dass dieser grässliche Kerl auch wieder hier auftauchen musste?

Judith hatte sich hart genug getan, diese Entführung zu verarbeiten – vor allem, weil das Verarbeiten bei diesem bockigen Kind eher an Verdrängen erinnerte… er lächelte wehmütig. Judith war sein ein und alles, auch wenn er seine beiden Stiefsöhne durchaus schätzte und sie ihn auch. Aber Judith – da gab es Gemeinsamkeiten, gleiche Interessen, manchmal spontan die gleichen Gedanken und natürlich von Anfang an den Beschützerinstinkt, als man ihm das winzige Bündelchen in die Arme gelegt hatte, das wütend mit den Ärmchen fuchtelte und aus Leibeskräften krähte. Die Protesthaltung war ihr bis heute geblieben – und Jessica verstand mit dem Mädchen einfach nicht umzugehen.

Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden, und wandte sich wieder seiner Arbeit zu, allerdings ohne viel Erfolg.

Und wenn Jessica sich doch einmal wie eine Mutter um Judith kümmerte? Judith brauchte doch ab und zu auch eine weibliche Bezugsperson, gerade in Krisenzeiten wie dieser.

Er nahm den Hörer ab und wählte Jessicas Nummer.

*

Auch Judith telefonierte – mit der Polizei. In zunehmend gereiztem Ton schilderte sie Schmiedls Verhalten, sprach von Psychoterror und Wiederholungsgefahr und fragte, ob denn niemand den Kerl überwache.

„Schmiedl hat nach dem, was Sie berichtet haben, seine Strafe verbüßt. Vollständig, er hat keine Bewährungsauflagen zu erfüllen. Deshalb kann er sich frei bewegen. Und solange er Sie nicht bedroht oder gar angreift -“

„Also, ich fühle mich durchaus bedroht!“

„Wir können den Mann doch nicht wegen eines subjektiven Gefühls überwachen.“

„Das heißt, ich muss darauf hoffen, dass er mich beim nächsten Mal umbringt, damit Sie sich mal in Bewegung setzen?“ Judith wartete die Antwort gar nicht mehr ab, schaltete aus und warf ihr Handy auf den Tisch. Sie hatte große Lust, es auf den Boden zu schleudern und darauf herumzutrampeln, aber das änderte die Lage ja auch nicht…

Verdammte Scheiße aber auch.

Was nun?

Dem Kerl aus dem Weg gehen?

Jedes Mal in hysterisches Kreischen verfallen, bis sie in der Firma gar niemand mehr ernst nahm?

Schmiedl ein paar Schläger auf den Hals schicken? Tolle Idee, dann landete sie noch im Knast statt Schmiedl, der es doch verdiente – so wie er sich aufführte!

Keine Schläger – aber einen Leibwächter? Von Argus zum Beispiel? Nein, lieber nicht. Sie musste sich in der Firma nicht noch mehr zum Horst machen.

Haltung bewahren, Judith! Eine ganz aufrechte, eiskalte Haltung. Kein persönliches Wort mehr. So einer wie Schmiedl konnte sie doch gar nicht berühren. Und ihre Mutter übrigens auch nicht. Für sie würde sie in Zukunft nur noch freundliche Ironie übrig haben. Je weniger Gefühle, desto weniger Ärger, ganz klar.

So, und jetzt ab in die verlässlichen Gefilde der Softwareentwicklung! Informatik war doch genau das, was sie gegen Angst und Wut schützen konnte.

Eine gewisse Zeit konnte sie tatsächlich einigermaßen konzentriert arbeiten, aber dann rief ihre Mutter schon wieder an.

Haltung, Judith!

„Ja, Mutter? Was gibt es?“

„Muss es immer etwas geben, wenn ich mein Töchterchen sprechen möchte?“

Würg.

„Erfahrungswerten nach – ja. Was kann ich also für dich tun?“

„Komm doch nach der Arbeit bei mir vorbei, auf ein Gläschen und ein gutes Gespräch!“

Auf gar keinen Fall!

„Oh, das tut mir leid, aber ich habe heute Abend schon etwas vor. Vielleicht ein anderes Mal?“

Super, das war ja richtig gesellschaftlicher Schliff!

„Dann morgen?“

„Einen Moment, ich sehe nach… nein, leider. Nächsten Donnerstag hätte ich ein Stündchen Zeit… um sieben?“

Ihre Mutter knurrte eine Zustimmung und Judith feixte vor sich hin. Nächste Woche hätte sie dann eben Kopfweh…

Das machte tatsächlich Laune, überlegte sie nach dem Gespräch. Hoffentlich hielt sie diese kühle Souveränität länger durch, so war sie ja richtig unangreifbar!

Ein gestörtes Verhältnis

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