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Judith hatte es am Morgen geschafft, ungesehen das Haus zu verlassen und erfreut festgestellt, dass keine Presse mehr vor der stand.

Dann konnte sie heute vielleicht wirklich mal in Ruhe arbeiten?

Etwa eine Stunde überprüfte sie wirklich ganz entspannt zwei Entwürfe für neue Software – Kalkulation und spezielle Projektdatenbanken. Das klang alles sehr interessant, und kleine Probefeatures waren auch beigefügt. Judith probierte sie aus und stellte fest, dass das kleine Kalkulationstool gut zu funktionieren schien und das andere leider noch eine Macke hatte, also informierte sie die beiden Entwickler entsprechend.

Schön… aber sie konnten bestimmt noch mehr Entwickler brauchen, es gab so viele Gebiete, auf denen Software nützlich war – für die wachsende Smart Home-Branche, für Fahrzeugkonnektivität, für bürgernahe Online-Verwaltung, für online-Handel…

„Guten Morgen“ hörte sie plötzlich von der Tür und fuhr heftig zusammen.

„Judith, warum so nervös?“ Ihr Vater klang wirklich besorgt.

„Ich war nur überrascht. Schau mal, ich hab hier zwei ziemlich gute Entwürfe, ich würde die gerne fertig umsetzen lassen.“

Schottenbach schaute seiner Tochter kurz über die Schulter, dann klopfte er ihr sanft auf den Rücken. „Ich vertraue ganz deinem Urteil. Wie schätzt du die Kosten ein?“

Sie diskutierten kurz darüber, bis Judith seufzte. „Wir haben zu wenige Entwickler, finde ich. Es gibt so viel Bedarf an guten Programmen, in allen möglichen Bereichen. Wir wären blöd, wenn wir da nicht intensiv einsteigen. Zwei neue Softwarespezialisten wären gut.“

Ihr Vater nickte langsam. „Mach das. Leisten können wir es uns auf jeden Fall – aber einen wüsste ich schon.“

Judith sah auf. „Ach ja?“

„Vincent Sonntag. Der Sohn einer alten Schulfreundin von mir.“

„Aha… aber der versteht auch etwas von der Materie?“

„Natürlich. Informatiker. War zwei Jahre bei soft-up.com.“

Judith lachte. „Bei diesem Start-up? Hat er die in die Pleite getrieben?“

„Nein, er hat das einzige funktionsfähige Programm entwickelt. Und einige Apps, die sowohl für mobil als auch für Rechner geeignet sind.“

„Klingt nicht so schlecht. Wo ist der Haken?“

Schottenbach grinste. „Spätpubertär. Will keinen Job, den ihm die Mama besorgt hat. Ist gerade in einer Gammelphase.“

„Lieber Gott, wie alt ist das Bürschchen denn? Bist du sicher, dass das spätpubertär ist?“

„Dreißig. Älter als du.“

„Mag sein, aber Jungs brauchen ja für alles doppelt so lang… Trotzdem, dreißig? Was um Himmels Willen hat er so lange getrieben? War er etwa erst mit achtundzwanzig fertig?“

„Nein. Mehrere Praktika bei bedeutenden Softwarefirmen und auch bei einem Hardwareproduzenten, außerdem ein Jahr in den USA nach dem Examen. Moment“ – er blätterte in der Akte, die er in der Hand hielt – „genau, er hat vor fünf Jahren seinen Abschluss gemacht. Dann noch zwei Praktika, dann das Jahr in den USA, dann soft-up und seit einem guten halben Jahr nichts mehr.“

„Rumgehangen? Muss der keine Familie ernähren?“

„Nein. Glücklicher Junggeselle.“

„Nicht das Blödeste“, murmelte Judith. „Bist du sicher, dass du ihn nehmen willst?“

„Warum?“

Judith hob eine Faust und begann herzuzählen: „Erstens ist er unreif. Zweitens hat er sich wahrscheinlich schon ans Nichtstun gewöhnt. Und drittens: USA: Wenn der irgendwas bei uns umsetzt, was dort irgendwer schon mal angedacht hat oder angedacht haben könnte, verklagen die uns doch auf Milliarden Schadensersatz! Man kennt doch die Amis.“

„Mag sein. Aber er ist seit zweieinhalb Jahren dort weg, das reicht wohl als Karenzfrist. Komm, Mädchen, geben wir ihm eine Chance. Er kriegt natürlich Probezeit, und wenn er nicht spurt, fliegt er eben wieder.“

„Na gut. Übrigens – hast du die Presse verscheucht?“

„Nicht persönlich, aber wir haben schon eine einstweilige Verfügung erwirkt, weil du eben keine Person des öffentlichen Interesses bist. Was wir allerdings nicht verhindern können, ist deine Mutter. Wenn sie ihr gebrochenes Mutterherz vor geneigten Mikros ausbreitet, darf sie das leider tun, und ihr zu verbieten, über dich zu sprechen – das geht leider nicht.“

Judith seufzte. „Das wäre auch kontraproduktiv. Sie würde geschmerzt lächeln und sagen Meine Tochter hat mir per Gerichtsbeschluss verbieten lassen, über sie zu sprechen. So weit ist es schon gekommen. Schluchz…Wetten?“

Ihr Vater lachte auf. „Du kennst sie gut… für etwas Publicity ist sie wirklich zu vielem bereit. Dabei hat sie doch diese Serienrolle, kann sie damit nicht zufrieden sein?“

„Und was, wenn dieser Juniorkommissar aussteigt? Dann braucht sie da auch keiner mehr.“

„Dann soll sie halt Theater spielen. Ich meine, sie nagt ja nicht am Hungertuch, nicht?“

„Stimmt schon. Aber ganz ernsthaft, es reicht bei ihr doch bloß für Boulevardstücke.“

„Na und? „Hochzeitstag“ läuft schon vier Jahre in der Kleinen Bühne, sogar ich war schon drin. Praktisch ausverkauft! Das muss doch ein sicheres Einkommen für die Schauspieler sein?“

„Ja, aber Schlagzeilen macht man so nicht. Boulevard ist doch wirklich sowas wie Gnadenbrot! Ich könnte mir schon vorstellen, dass sie da lieber etwas Wirbel veranstaltet, um im Gespräch zu bleiben.“

„So ist sie halt, die gute Jessie. Ich fürchte, das musst du ertragen. Schau, normalerweise zieht sie dich doch nicht mit hinein.“

Jetzt musste auch Judith lachen. „Stimmt, sonst fällt ihr rechtzeitig ein, dass ich schon fast dreißig bin. Das macht ja so alt…!“

„Dabei sind Jerry und Jul doch noch deutlich älter, und mit denen gibt sie gerne an. Ganz ehrlich, ist das weibliche Logik? Von dir hätte ich mehr erwartet, mein Mädel!“

„Ja, aber bei den beiden sagt sie doch immer, dass sie die als Teenager gekriegt hat. Und Söhne kann man nicht ganz so gut vergleichen – ich meine, ich sehe ihr ja nicht wahnsinnig ähnlich, aber man sieht dann eben doch, dass dreißig Jahre zwischen uns liegen. So gut hat sie sich schließlich auch wieder nicht gehalten.“

„Gut, das überzeugt mich. Aber schau, diese Medienaufregung um Schmiedl legt sich doch bald wieder. Ich mache mir eher Sorgen, wie du mit seiner Freilassung zurechtkommst.“

Sie zuckte die Achseln. „Schon okay. Ich muss ihn ja nicht sehen, oder?“

Ihr Vater setzte sich auf die Schreibtischkante und schaute besorgt in ihr verschlossenes Gesicht. Sie wurde immer schmaler, so kam es ihm wenigstens vor.

„Wie würde es dir denn gehen, wenn du ihn tatsächlich sehen müsstest?“ Ihm entging nicht, dass sie schauderte, aber als sie aufsah, war ihr Gesicht so neutral wie immer, dann verzog sie den Mund unentschlossen. „Ich würde es wohl überleben, was auch sonst.“

Er rutschte wieder vom Schreibtisch. „Judith, du treibst mich in den Wahnsinn. Kannst du nicht einmal ein Gefühl zulassen?“

„Welches Gefühl denn? Sei doch froh, wenn ich niemanden mit irgendwas belästige.“

„Gefühle sind doch keine Belästigung!“

„Nein? Ich finde schon. Und ich fühle eigentlich wirklich gar nichts, wenn ich an Schmiedl denke. Nur wenn ich an die Presse denke, fühle ich mich belästigt. Das ist alles.“

„Und wenn du an deine Mutter denkst?“

„Leise Gereiztheit, meistens. Manchmal mag ich sie auch. Ein bisschen.“

„Du magst sie? Du liebst sie nicht?“

Judith schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, mit Liebe kann ich nicht dienen, aber ganz ehrlich – mich stört das nicht.“

„Ach, Mädchen, das ist doch traurig!“

„Findest du? Ich habe ein angenehmes, ruhiges Leben und kann mich auf die Arbeit konzentrieren – daran ist doch nichts falsch?“

„Möchtest du denn nicht eines Tages heiraten und Kinder haben?“

„Ganz bestimmt nicht!“ Das klang so scharf, dass er darauf verzichtete, weiter zu bohren. Stattdessen zog er sich in Richtung Tür zurück und kündigte nur an, dass Vincent Sonntag sich in den nächsten Tagen vorstellen werde. „Ich schicke ihn zu dir und dann zu Kretz, einverstanden?“

Judith nickte. „Ich schau ihn mir an. Aber Kretz hat auch einen guten Blick. Muss er ja, als Personalchef.“

Schottenbach verließ das Büro und Judith seufzte erleichtert auf. Papa war wirklich ein ganz Lieber, aber diese ewige Besorgtheit!

Ihr ging es doch gut und damit basta! Es musste doch nicht jeder einen auf gefühlvoll und Familienmensch machen! Wieso hatte Papa da immer noch einen solchen Optimismus? Die Ehe mit ihrer Mutter hatte gerade mal acht Jahre gehalten und Judith konnte nur froh sein, dass es nicht – wie unter Promis eigentlich üblich – einen Rosenkrieg um das Sorgerecht gegeben hatte. Judith hatte natürlich bei Jessica gelebt – bis zu dem Einschnitt Entführung, Klinik, Reha. Danach war sie zu Papa gezogen und schließlich in die Peutingergasse. Aber das Haus zwischen Altstadt und Univiertel war gut genug gesichert, um ihre Ängste zu beruhigen.

Ängste, sie sie auch vor Papa stets sorgfältig verborgen hatte, vielleicht allerdings nicht sorgfältig genug? Wahrscheinlich würde er bald wieder mit dem Vorschlag kommen, sie sollte doch mal eine Therapie…

Sie wollte keine Therapie, wer konnte denn wissen, was dabei noch ans Tageslicht kam? Und ob das dann alles stimmte? Sie erinnerte sich an Berichte über Kinder, die von Missbrauch berichtet hatten, weil die Psychologinnen ihnen das mehr oder weniger in den Mund gelegt hatten.

Einzelfälle? Wahrscheinlich, trotzdem misstraute sie diesen Leuten, die waren damals im Krankenhaus und in der Reha schon schlimm genug gewesen. Und dass sie damals gesagt hatte, sie sollten sie einfach verbinden und sonst in Ruhe lassen, ihr fehle nichts, hatte diese Weißkittel dreinschauen lassen, als wollten sie sie gleich in die Geschlossene einweisen. Da konnte man doch Angst kriegen?

Nein, sie musste mit diesen morbiden Gedanken aufhören. Schmiedl würde die Füße stillhalten, mit so einer Vorstrafe wollte er doch bestimmt nicht gleich wieder einfahren – oder? Andererseits: Wovon wollte er jetzt leben? Als Vorbestrafter bekam er doch keine Stelle mehr!

Was hatte Schmiedl eigentlich beruflich gemacht?

Sie versank in Gedanken, denn als damals vor Gericht sein Gesicht zum ersten Mal gesehen hatte, war er ihr vage bekannt vorgekommen. Sie war aber nie darauf gekommen, ob sie ihn wirklich schon einmal gesehen hatte – und der eine Tag, an dem sie im Gerichtssaal gesessen hatte, hatte ihr wirklich gereicht. Nebenkläger waren ihre Eltern und die waren auch sehr dafür gewesen, dass sie lieber zu Hause blieb. Papas damalige Freundin hatte sich sehr lieb um sie gekümmert, mit ihr ferngesehen und geredet – aber nie über die Entführung. Dafür war sie ihr noch lange dankbar, eigentlich bis heute.

Sie sollte Lisa bei Gelegenheit mal wieder anrufen, beschloss sie.

Woher hatte Schmiedl sie überhaupt gekannt? Dass er sie nicht als Zufallsopfer ausgewählt hatte, war klar – er wusste, dass ihre Eltern Geld hatten („dein Vater, der Fabrikant“) und dass sie noch zur Schule ging. Gut, sie war damals siebzehn, da war das nicht so abwegig…

Wie konnte man rauskriegen, was Schmiedl vorher gemacht hatte?

Sie seufzte: Wollte sie das wirklich wissen? Was hätte sie davon? Würde nicht nur alles wieder hochkommen, was sie bis jetzt so erfolgreich beiseitegeschoben hatte?

Sie schlug eine neue Akte auf. Das Konzept klang aber mal interessant!

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