Читать книгу Ein gestörtes Verhältnis - Elisa Scheer - Страница 5

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Ihre Laune hatte sich bis zum Abend kontinuierlich verschlechtert – nicht wegen der Meetings, die problemlos alle erwünschten Ergebnisse gezeitigt hatten. Aber das ganze Drumherum! Die Presse hatte vor dem Firmengelände kampiert und alle Mitarbeiter belästigt, die es gewagt hatten, mittags essen zu gehen. Schottenbach hatte zwar eine warnende Durchsage gemacht und außerdem gesagt, etwaige Geldstrafen wegen Beleidigung der Presse durch entnervte Mitarbeiter würden von der Firmenleitung übernommen werden, aber trotzdem waren die Angestellten wütend – und irgendwann würde der Ärger sich gegen sie selbst richten, da war Judith ziemlich sicher. Und alles, weil sich diese Zecken an einem alten Drama aufgeilen wollten… Seriöse Journalisten waren natürlich nicht vertreten, sondern HOT! und Local One, Krone der Frau und Schicksal. Judith spielte mit dem Gedanken, ein paar Dosen Farbe zu kaufen und sie in die stummen Verkäufer von Hot! zu kippen, aber obwohl die sicher noch mehr Feinde hatten, kämen sie sicher schnell auf die Täterin.

Noch hatten die Firmenanwälte nichts erreicht, und auch Ulli Petzl war zwar bereits aktiv, aber, wie sie Judith bedauernd mitgeteilt hatte, war nicht viel Erfolg zu erwarten. Höchstens eine kleine Gegendarstellung an versteckter Stelle.

Das Mittagessen hatte sie sich liefern lassen und es war dem Portier nur mit Mühe gelungen (und mit der Androhung einer Anzeige wegen Hausfriedensbruch), zwei ambitionierte Fotografen daran zu hindern, im Kielwasser des Futterboten das Gebäude zu betreten. Es gelang ihnen gerade noch, die völlig leere Eingangshalle zu fotografieren, dann wurden sie hinausgedrängt und dabei fiel einem der Fotografen doch leider sein Teleobjektiv herunter.

„Leider war es nicht die ganze Dreckskamera“, murrte der Portier später, als Judith ihm für seinen Einsatz dankte.

Sie überlegte, ob sie morgen Vormittag die gesamte Belegschaft zusammenrufen und ihnen erklären sollte, was die Presse eigentlich wollte – natürlich entsprechend gefärbt. Vielleicht war das wirklich das Beste…

Sie strich etwas unzufrieden durch die Wohnung. Der Salat vom Lieferservice hatte nicht bis jetzt vorgehalten und sie hatte nichts Appetitanregendes im Haus. Einkaufen gehen?

Ein Blick aus dem Fenster belehrte sie eines Besseren – sie war belagert. Nun, dann musste sie eben fahren!

Immerhin gelang es ihr, ungesehen aus der Tiefgarage zu kommen und zu einem Supermarkt in Selling zu fahren. Dort rechnete bestimmt niemand mit ihr, und die Junkiemütze wirkte hoffentlich entstellend genug.

Sie eilte mit dem Einkaufswagen durch die Gänge und lud eher wahllos Gemüse, Fertigsalate, Knäckebrot, etwas Trostschokolade und ein Paket Wiener Würstchen ein, zahlte dann hastig und verkroch sich wieder in ihren Wagen. Als sie wieder an ihrem Hofeingang vorbeifuhr, sah sie, dass zumindest die Zecken von Local One noch da standen. Nun, die Garageneinfahrt war glücklicherweise in der Seitenstraße. Also rauschte sie die Zufahrt hinunter, parkte ein, schnappte sich ihre Einkäufe und eilte zum Aufzug.

Sobald sie ungesehen wieder in ihrer hermetisch verriegelten Wohnung saß, atmete sie heftig, als sei sie gerade vor einer tödlichen Gefahr geflohen. So kam es ihr auch tatsächlich vor. Himmel, was das hier ein Krieg?

Als ihr Herzschlag wieder normal war, verräumte sie ihre Einkäufe und betrachtete die Ausbeute eher lustlos. Noch einen Salat? Nö. Gemüse? Müsste sie kochen… lästig. Schließlich nahm sie sich zwei von den Würstchen und eine Scheibe Knäckebrot. Das reichte ja wohl!

Eigentlich nicht, musste sie zugeben, als sie mit Brot und Würstchen – ohne Teller – am Spiegel im Flur vorbeikam. In der schmalen schwarzen Hose sah sie wirklich mager aus. Aber wenn sie mehr äße, hätte sie Rundungen. Das gefiel dann den Kerlen – und dann? Lieber nicht!

Der Gedankengang war blöde, das wusste sie auch, und sie weigerte sich auch, ihn richtig zu durchdenken, um nicht zugeben zu müssen, dass ihr mangelnder Appetit nicht das Resultat kluger Entscheidung, sondern eher nicht aufgearbeiteter Traumata war. Ach, Unsinn, welche Traumata denn? Nach zwölf Jahren?

Sie aß die beiden Würstchen und das Knäckebrot – vorsichtig, um keine Krümel auf dem Sofa zu hinterlassen – und beschloss, dass morgen sicher alles wieder gut sein würde. Zwei C-Promis würden sich tränenreich trennen und alle Teleobjektive und Mikros wären auf ein anderes Haus gerichtet. Oder man würde eine neue Flüchtlingsunterkunft in Leisenberg bauen und HOT! würde versuchen, die Anwohner dagegen aufzuhetzen. Fremdenfeindliches Dreckspack. Wenn sie das nächste Mal einem Mikro von denen nicht mehr auskam, würde sie genau das sagen, jawohl!

Der Gedanke gefiel ihr so lange, bis sie sich gezwungen sah, zuzugeben, dass sie sich wahrscheinlich doch nicht trauen würde.

Nein, Judith – Stellung beziehen! Nicht immer nur Nabelschau betreiben! So wichtig war Schmiedl auch wieder nicht. Nicht nach zwölf Jahren – und mit neunundzwanzig war es wirklich höchste Zeit, wieder zu leben. Zu leben anzufangen, besser gesagt.

Sie fuhr ihren Laptop hoch und machte sich auf die Suche nach den Flüchtlingsunterkünften in Leisenberg. Vielleicht konnte man da ja Hilfe brauchen…

Sie notierte sich die Adressen und schrieb über den Kontaktlink, dass sie gerne spenden oder helfen wollte, aber nicht wusste, was wirklich gebraucht und gewünscht wurde.

Gut. Und jetzt würde sie endlich einmal in den Briefkasten schauen, auch wenn sie wahrscheinlich dabei durch die Tür fotografiert wurde. Nun, sie war ja noch ordentlich gekleidet! Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht, als sie sich vorstellte, sie ginge in Jogginghosen vor die Tür… Rother-Tochter: Vernachlässigt sie sich? Hat sie Depressionen? Nachwirkungen der Entführung? Mindestens! Oder, noch besser: Schock für die schöne Jessica: Tochter völlig verwahrlost!

Genau. Den Gefallen würde sie ihnen aber nicht tun. Gepflegt und arrogant, das war das richtige Auftreten!

Sie strich ihre schmalen Hüften entlang. Hm… Jessica Rothers Tochter: Magersucht!

Aber deshalb wollte sie sich keinen Speck anfuttern, dann landete sie bloß auf dem Cover eines anderen Magazins. Einem, das genüsslich die Cellulite-Dellen von Hollywoodstars veröffentlichte. Allerdings hatten die den Namen Judith Schottenbach noch nie gehört, da war sie ganz sicher.

Los jetzt, zum Briefkasten! Im Treppenhaus war niemand, und als sie vorsichtig durch die Haustür hinausspähte, standen zwar einige Leute vor dem Gittertor, das das alte Vordergebäude zur Straße hin abschottete, aber die unterhielten sich gerade und Judith gelang es, unbemerkt den Briefkasten aufzuschließen und einen dicken Packen herauszufischen. Erst als sie sich wieder aufrichtete, drehte sich jemand zu ihr um, aber da konnte sie schon zurückhuschen.

Gut gelungen!

Es sei denn, irgendein Idiot öffnete das Gittertor, wenn er nach Hause kam. Für diese Fälle konnte sie ja die Sache mit dem fremdenfeindlichen Dreckspack – Mist! Dazu mussten die leider erst einmal eine Vorlage liefern.

Na, mal sehen. Local One hatte vielleicht schon etwas auf der Pfanne – und gehörten diese beiden Schmierfink-Vereine nicht zum gleichen Medienkonzern?

Leider bot Local One nichts Aufregendes – ein paar unbedeutende Skandälchen in der Stadtpolitik, wieder mal dieses Filmfestival, bei dem ein Streifen preisgekrönt worden war, von dem Judith noch nie gehört hatte, zwei rührende Tiergeschichten aus dem Umland, ein Schauspieler, den man völlig zugekokst in einer Disco erwischt hatte.

Und ein möglicher Vergewaltigungsfall. Judith schauderte kurz und ärgerte sich dann: Sofort wurde gefragt, ob der Täter vielleicht ein Muslim…? Die hatten ja ein anderes Frauenbild, nicht wahr? Wollten die deutsche Leitkultur nicht anerkennen… waren nicht dankbar dafür, in Deutschland im Frieden leben zu dürfen… sollte man nicht über Ausweisungen nachdenken? Na bitte, sogar eine Steilvorlage! Diese populistischen Brandstifter, als ob Leisenberg sich nicht ein paar Flüchtlinge leisten konnte!

Sie lehnte sich zurück und sah flüchtig die Post durch. Ein Klamottenkatalog von einem Versand, von dem sie noch nie gehört hatte – woher hatten die bloß ihre Adresse? Egal, Altpapier.

Rechnung von der Hausärztin… bezahlen. Einladung. Huch? So nobel, Fotodruck auf Hochglanzpapier? Ach so, Jerry, Party in der Agentur… übernächste Woche. Vielleicht. Sie angelte nach ihrem Handy und rief Jerry an.

„Du kommst doch?“, fragte er sofort.

„Vielleicht. Warum bist du so heiß darauf?“

„Na, du bist doch meine kleine Schwester!“ Das klang entrüstet.

Judith lachte spöttisch. „Jerry, du lädst mich doch sonst auch nicht so dringend auf so etwas ein, und ich bin seit fast dreißig Jahren deine kleine Schwester. Also warum jetzt?“

„Einfach so.“

Das klang nicht wirklich überzeugend. „Du willst mich aber nicht der Presse zum Fraß vorwerfen?“

„Bitte?“

Das hörte sich nun fast authentisch an. Fast.

„Schmiedl hat seine Haft abgebüßt, und seit gestern belagert mich die Presse in der Hoffnung auf einen Live-Nervenzusammenbruch.“

„Scheiße. Was du jetzt fühlst und so?“

„Genau. Das einzige, was ich fühle, ist der dringende Wunsch, für ein Verbot sämtlicher Klatschmagazine einzutreten.“

„Leisenbergs Antwort auf Prinzessin Caroline?“

„Was? Wer?“

„Caroline von Monaco. Oder Hannover. Die hat da einen Anwalt, der holt echt Geld aus der Klatschpresse raus. Google das mal und frag, ob der dir nicht auch helfen kann. Aber Presse beschimpfen bringt nicht viel, die rächen sich bloß. Und ganz ehrlich, ich bin schon auch auf die angewiesen, wie soll ich sonst meine Leutchen promoten?“

„Dann sollte ich vielleicht doch lieber nicht auf deine Party kommen?“

„Quatsch, Presse ist kaum da. Nur ein, zwei Film- und Musikjournalisten – die interessieren sich nicht die Bohne für dich.“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, seufzte Judith. „Na, bis übernächste Woche treibt hoffentlich jemand eine andere Sau durchs Dorf. Also, wenn nicht das Riesendrama angesagt ist, komme ich vielleicht. Gibt´s einen Dresscode?“

„Na, Glamour. Ein bisschen wenigstens. Irgendwas mit Glitzer.“

„Okay, mal sehen, was ich auftreiben kann.“

Jerry war eigentlich ganz nett, fand Judith nach diesem Gespräch. Auch wenn der Kontakt eher lose war, kein Wunder: Jerry und Jul waren rund zehn Jahre älter als sie selbst und stammten aus der ersten Ehe ihrer Mutter mit einem bekannten Regisseur. Über diese Zeit erzählte sie unter sehnsuchtsvollen Seufzern – dieser Anatol hatte ja immer so viel Verständnis für ihren sensiblen Charakter bewiesen – „ganz anders als dein Vater, Kind!“

Judiths rüde Frage, warum zum Henker sie sich dann von Anatol hatte scheiden lassen, wurde im Allgemeinen nur mit einem waidwunden Blick quittiert.

Jaja, Wolfgang Schottenbach war freilich ganz anders aufgestellt gewesen als Anatol Marow, der damals noch am Anfang seiner Karriere gestanden hatte. Das konnte die sensible Jessica Rother aber keinesfalls als Grund angeben.

Nur einmal hatte Judith ihre Mutter – es musste Jahre her sein – so angetrunken erwischt, dass ihr Nachbohren mehr Erfolg gezeitigt hatte: Der große Star hatte genuschelt, diese verdammte Schlampe Carla sei an allem schuld gewesen.

„Carla? Aber doch nicht Carla Greif?“ Die war wirklich ein Star, das wusste sogar Judith, die sich für die bunte Promi-Welt schon aus Prinzip nicht interessierte – oder das zumindest vorgab, wenn sie sicher sein konnte, dass es ihre Mutter ärgerte.

Carla Greif hatte ihrer Mutter diesen Anatol ausgespannt? Kicher… Manchmal kam sich Judith selbst etwas herzlos vor, aber dann beruhigte sie sich damit, dass sie diesen Charakterzug ja wohl geerbt haben musste. Jessica Rother setzte ihre Kinder doch hauptsächlich dazu ein, die eigene Publicity zu fördern. Ansonsten gab es Personal.

Carla Greif war immer schon der Liebling der Boulevardpresse, denn sie war nicht nur eine wirklich gute Schauspielerin (auch am Theater, was ja bekanntlich wirklich ein Qualitätsbeweis war, und zwar nicht in Boulevardstücken), sondern obendrein die jüngere Schwester des Grafen von Greifenstein, so dass sich die einschlägigen Berichterstatter gar nicht mehr beruhigen konnten: adelig und sooo talentiert! Sollte Carla Greif einmal nicht spielen, konnte man über ihre noble Verwandtschaft spekulieren und sich fragen, wie sie mit ihrer (bürgerlich geborenen) Schwägerin Eva auskam. Sollte sich bei den Greifensteins nichts tun – keine kleinen Grafensprößlinge, keine Schlossführungen, dann konnte man überlegen, welche Rollen Carla Greif in nächster Zeit übernehmen konnte oder würde. Zierlich, rothaarig und mit einem koboldhaften, sehr jung wirkenden Gesicht, spielte die Greif heute noch Rollen, für die Jessica Rother, die reifer und handfester wirkte, schlicht als zu alt galt. Mama war jetzt genau sechzig und Carla Greif konnte nicht viel jünger sein… Moment…

Judith kuschelte sich in die Sofaecke und drückte sich ein Kissen auf den Bauch, um es beim Rechnen schön warm zu haben. Mama hatte sich von Anatol getrennt, als Jerry vier und Jul drei war. Jetzt waren sie sieben- und achtunddreißig. Gut, dann war das vierunddreißig Jahre her, Mama war damals sechsundzwanzig. Großer Gott, jünger als sie heute – und schon zwei kleine Jungs! Und einige Filme, gute und furchtbare. Für manche hätte sie wohl auch die Goldene Himbeere verdient…

Viel jünger konnte Carla dann auch nicht gewesen sein – doch mindestens achtzehn, also acht Jahre weniger, dann war sie heute wenigstens zweiundfünfzig. Auch nicht mehr so ganz knusprig, aber sie wirkte deutlich jünger. Und mit Anatol hatte sie wirklich etwas gehabt? Tja, nun rächte sich das Desinteresse - aber wozu gab es schließlich das Internet?

Andererseits war ihr eigentlich völlig egal, ob Carla Greif und Anatol länger zusammen gewesen waren… und aufstehen wollte sie jetzt auch nicht. Eigentlich wusste schon gar nicht mehr, wie sie auf diese unnützen Überlegungen gekommen war…

Ihr Handy brummte. Sie überlegte, wer es sein konnte? Mama? Jul? Irgendeine Freundin, Tine, Maxi oder Annina? Die Presse schon wieder?

Sie angelte träge nach dem Telefon auf dem Tischchen neben dem Sofa und spähte aufs Display: Mama.

Also neutrale Stimme – keine Emotionen verraten!

„Schottenbach?“

„Judith, Schätzchen, wie geht es dir?“

„Danke, und dir selbst?“

Fehlschlag – Mama seufzte. „Aber Kind, nun lass doch mal diese coole Fassade fallen.“

„Eine Maske lässt man fallen, eine Fassade bröckelt“, korrigierte Judith, die auf schiefe Bilder allergisch reagierte.

„Das ist doch jetzt egal!“

„Ich finde, eine Schauspielerin sollte schon auf korrekte Texte achten.“

„Ja, meinetwegen – aber jetzt geht es nicht um Texte! Du weißt doch, das Schmiedl wieder frei ist!“

„Ja, diese Geier von HOT! haben mich schon belästigt.“

„Judith, sprich nicht so über die Presse, man weiß nie, wann man sie braucht.“

„Also, ich brauche sie nicht. Schottenbach steht gut mit allen wichtigen Wirtschaftsmagazinen und seriösen Tageszeitungen, aber Klatsch und Tratsch kann uns doch egal sein.“

„Mir nicht.“ Das kam schon etwas schärfer heraus.

„Dann unternimm du doch etwas, was dich in die Zeitung bringt. Ich bin nicht prominent und ich will es auch gar nicht sein.“

„Aber du bist immerhin meine Tochter!“

„Deine Tochter, nicht deine PR-Waffe.“

„Das lässt sich doch nicht trennen! Wenn Schmiedl wieder auftaucht, ist es doch völlig klar, dass wir gefragt werden, was wir jetzt fühlen.“

„Ach ja? Und was fühlst du?“

„Was glaubst du denn?“

Judith schnaubte ärgerlich ins Telefon. „Entweder machst du einen auf christliche Milde und hast ihm verziehen, oder du wirst ihm nie, nie, nie verzeihen, weil er dein heißgeliebtes Kind verletzt hat. Kommt wohl darauf an, was du gerade drehst.“

„Du bist zynisch, Judith!“

„Nein. Ich kenne dich bloß schon einige Jahre, vergiss das nicht. Also, machst du auf Milde oder auf Hass?“

„Weder noch. Ich bin tief verletzt.“

„Mein Gott! Nur, weil ich deinen Selbstbetrug nicht auch noch unterstütze?“

„Dich meine ich doch nicht! Tief verletzt ist das, was ich der Presse gesagt habe. Und dass ich Angst habe, natürlich!“

„Angst wovor? Nicht mehr in der Zeitung zu stehen?“

„Lass diesen Sarkasmus. Was, wenn er sich an uns rächen will?“

„Das wäre ja noch schöner! Wofür denn? Dafür, dass er mich entführt hat? Dafür, dass ich das Ganze nur mit Glück überlebt habe? Dafür, dass- “

„- er eine Million von uns kassiert hat?“

Judith seufzte. Ihre Mutter würde unangenehme Realitäten bis zum Jüngsten Tage ausblenden… „Ja, meinetwegen. Ich finde, er schuldet uns etwas, nicht wir ihm.“

„Das wird er wohl nicht so sehen. Immerhin war er elf Jahre im Gefängnis!“

„Das heißt, du bereust, dass ihr ihn angezeigt habt?“

„Unsinn, Kind!“

„Dann verstehe ich nicht, worauf du hinaus willst.“

Seufzen am anderen Ende. Wahrscheinlich, weil „das Kind“ mal wieder so begriffsstutzig war und nicht wusste, wie man sich der Presse präsentieren musste!

„Ach so, ja – das besorgte Mutterherz. Schon klar… wie viele Interviews hast du damit schon gegeben?“

„Ich mache mir wirklich Sorgen!“ Das klang verletzt – und die Frage wurde natürlich nicht beantwortet. Aber das war ja nichts Neues!

„Und was möchtest du jetzt von mir? Soll ich das verletzte Rehlein geben, wenn mich das nächste Mal jemand von so einem Käseblatt belästigt? Ich denke nicht daran!“

„Du denkst auch gar nicht an mich!“

„Wozu? Das besorgst du doch schon hinreichend. Ich bin auf das Wohlwollen der Klatschpresse wirklich nicht angewiesen.“

„Du bist meine Tochter!“

Willkommen in der Endlosschleife…

„Ja doch. Aber ich bin auch Papas Tochter und Informatikerin. Und diese Rollen sind mir sehr viel wichtiger. Kannst du nicht bitte mit den Jungs angeben? Die machen doch wenigstens etwas, was du verkaufen kannst!“

„Das verstehst du nicht…“

Jaja. Die Jungs waren nie entführt worden, da konnte man das Mutterherz nicht so recht zur Geltung bringen – und das Schlimmste: Jul hatte eine kleine Tochter, was wirklich niemand wissen durfte: die zeitlose Schönheit Jessica Rother als Großmutter? Never ever…

„Rollen? Dein Leben besteht doch nicht nur aus Rollen! Du bist doch gar keine Schauspielerin!“

„Manchmal komme ich mir in dieser Familie aber so vor. Jeder verlangt, dass ich mich so oder so verhalten soll. Was glaubst du, warum ich so gerne einfach ganz alleine zu Hause bin? Endlich mal Ruhe!“

„Und was machst du dann? Fernsehen?“

„Manchmal. Dokumentationen natürlich.“

Das war gelogen, aber die Genugtuung, dass sie sich Kripo Kirchbach anschaute, um ihre Mutter zu bewundern, wollte sie ihr nicht geben.

„Ich lese gerne, ich mache Sport, ich höre Musik. Raus kann ich ja sowieso nicht.“

„Wieso das denn?“

„Mein Gott, weil draußen die Geier von der Presse stehen! Die du mir wahrscheinlich auf den Hals gehetzt hast! Ich hoffe, du bist zufrieden mit dir!“

Nein, das Gebrummel am anderen Ende war eindeutig. Ihre Mutter verabschiedete sich leicht verkniffen.

Ihre Mutter nervte, fand Judith, als sie das Handy wieder auf den Tisch gelegt hatte. Und wie immer kreiste die Welt nur um sie selbst. Offensichtlich wollte sie die Tatsache, dass Schmiedl wieder auf freiem Fuß war, dazu nutzen, sich selbst wieder mal ins Gespräch zu bringen. Kripo Kirchbach plätscherte so dahin und wurde in den Medien eigentlich nur präsentiert, wenn eine neue Folge mit jemandem gedreht wurde, der wirklich berühmt war. Oder wenn irgendeine Person den Serientod starb, weil der Schauspieler keine Lust mehr hatte.

Judith grinste – was, wenn Chris, der Benjamin im Team, plötzlich keine Lust mehr hatte? Wer interessierte sich denn dann noch für seine Mutter?

Das Grinsen erstarb. Oh Gott, wenn sie unbeschäftigt war, würde sie ihren Kindern noch viel mehr auf die Nerven fallen… Schnell weg mit dem Gedanken!

Sie angelte nach der Fernbedienung und landete prompt in einem Boulevardmagazin. Alte Kriminalfälle, spektakuläre Unfälle, Klatsch und Tratsch. Voll böser Ahnung sah Judith zu – und tatsächlich, kurz vor dem Ende wurde auf Schmiedl hingewiesen und die Tatsache, dass er gesessen hatte, weil er die kleine Tochter der schönen Jessica Rother entführt und verletzt hatte. Das Kind litt sicher heute noch darunter, und die Mutter, die ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Tochter hatte („Wir sind wie Freundinnen!“), machte sich die größten Sorgen… Eingeblendet wurde ein Bild von Judith, auf dem sie höchstens fünfzehn war.

Gar nicht so schlecht, so erkannte sie heute sicher niemand mehr. Offenbar besaß ihr Mutter kein neueres Foto von ihr. Und Judith würde auch dafür sorgen, dass es so blieb.

Aber schrecklich rührselig war der Bericht doch…

Sie schaltete um und schaute sich, gemächlich auf dem Trimmrad strampelnd, eine Folge einer amerikanischen Gerichtsmedizinerserie an. Hier spielte ihre Mutter wenigstens garantiert nicht mit.

Ein gestörtes Verhältnis

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