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Grauenvoll.

Morgen war der Wagen hoffentlich fertig, dann konnte sie wieder unbehelligt zur Arbeit fahren. Und bei der nächsten Panne würde sie sich einen Leihwagen nehmen, basta.

Dieses Pack im Bus! Wenn sie etwas hasste, dann war es das unglaubliche Gedränge, die Menschen, die sie berührten, die Körperteile, die sich an sie drückten, egal, ob aus Versehen oder mit Absicht. Ihre Privatzone war ihr heilig, aus gutem Grund.

Das ist dein Tanzbereich und das ist mein Tanzbereich. Ich komm nicht in deinen und du kommst nicht in meinen. Oder so ähnlich. Sie lächelte etwas bitter. Dirty Dancing… sie tanzte nie, aber den Film mochte sie, sehr sogar. Als er in die Kinos gekommen war, konnte sie noch nicht einmal alleine auf einen Kinositz krabbeln, aber sie hatte ihn Jahre später im Fernsehen gesehen und sich sofort die DVD gekauft.

Tanzen im Fernsehen war okay, selbst tanzen ging gar nicht.

Nun, morgen hatte sie wieder ihren Wagen und ihre schützende Hülle um sich herum. Und dann war alles wieder gut.

Sie eilte die Straße von der Bushaltestelle aus entlang, bis sie schließlich in einen Hofeingang einbiegen, einen etwas merkwürdig gestalteten Hinterhof durchqueren und die schwere Haustür im Rückgebäude aufschließen konnte.

Eigentlich gefiel es ihr hier nicht so besonders, aber von den wenigen freien Zweizimmerwohnungen in der Altstadt war diese die einzige gewesen, die wirklich gute Sicherheitseinrichtungen aufzuweisen hatte – abschließbare Fenster, dicker Riegel an der Wohnungstür, Rauchmelder und keinen Balkon. Ja, und eine wunderbar glatte Fassade. Außerdem war die Haustür grundsätzlich abgeschlossen und die Briefkästen waren von außen zu befüllen. Sicher war sie hier, das auf jeden Fall.

Aber sonst… naja.

Der Boden war Laminat und kein richtiges Parkett. Die winzige Küche war dürftig – Herd, Kühlschrank, Spüle, ein Oberschrank – und billigste weiße MDF, aber immerhin schon drin gewesen, so dass sie sich damals schon einmal nicht herumärgern musste. Sie hatte nur ein Bett, einen Schrank (für die komische Nische, die im Schlafzimmer durch das enge Bad entstanden war), ein Sofa, einige stapelbare Regale und Wandhaken für den Flur gekauft und sich in zwei Stunden eingerichtet.

Viel Besitz hatte sie schon bei Papa nicht mehr gehabt. Seit dem Vorfall damals hatte sie das Interesse daran verloren, Besitz anzuhäufen. Was sie an Wertsachen besaß – Schmuck von Firmung, Abitur, Geburtstagen (ihre Mutter fand ja, so etwas brauche ihre geliebte Tochter) – hatte sie in Papas Safe gelassen. Sie brauchte den Kram nämlich nicht, und wenn doch, konnte Papa ihr ja etwas in die Arbeit mitbringen.

Sie sah sich nachdenklich um, legte ihre Handtasche auf das Sofa, räumte zwei Bücher und eine DVD ins Regal zurück, beäugte einen Kerzenhalter kritisch und stellte ihn in das einzige geschlossene Fach, so dass der kleine Tisch ganz leer war. Besser, ja.

Sie sollte etwas essen… fünf, also lag das Frühstück schon zehn Stunden zurück. Aber eigentlich hatte sie – wie meistens – keinen Hunger.

Appetit? Den schon gar nicht.

Erst einmal umziehen und dann einen Kaffee!

Die kleine Kaffeemaschine war so ungefähr der einzige Luxusgegenstand in dieser Wohnung. Naja, Luxus – sie hatte einen knappen Hunderter gekostet.

Sie hantierte mit Wasser und Kaffee und stellte einen Becher unter, dann suchte sie sich zwei Tomaten und eine Scheibe Vollkornknäcke zusammen, das reichte ja wohl.

Herrlich still war es in der Wohnung – aber heute ging ihr das Fehlen jeglicher Geräusche, wenn man von der Kaffeemaschine absah, merkwürdigerweise auf die Nerven.

Sie schlüpfte in Sportklamotten, trug den Teller ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein, dann verzehrte sie zuerst die beiden Tomaten und schließlich das Knäckebrot, um danach ihren Lieblingssitzplatz, das alte Trimm-dich-Rad, vor den Fernseher zu rücken und nach einer Musiksendung zu suchen. Zu früh… die uralte Hitparade kam erst um Viertel vor sieben.

Dann eben Boulevard-Kram, vielleicht hatte irgendeine Prinzessin ein Kind bekommen oder eine Schauspielerin auf dem roten Teppich ein hinreißend geschmackloses Outfit getragen.

Eigentlich völlig doof, aber man konnte dabei schön vor sich hin radeln und sich so einigermaßen fithalten. Hinter einem Schreibtisch ging das schließlich nicht, und joggen… dazu fehlte es ihr meistens an Mut.

Der Vorfall damals hatte sie zu einer völligen Maus gemacht, ärgerte sie sich, während sie in die Pedale trat. Irgendwann würde sie zu einer paranoiden Menschenfeindin – oder war sie das schon? Wahrscheinlich. Wenigstens auf dem besten Wege dorthin.

Sie strampelte weiter und genoss das Ziehen in den Waden und die Tatsache, dass sie ins Schwitzen geriet. Das reinigte den Körper, bildete sie sich ein.

Irgendwelche kleinen Prinzessinnen waren eingeschult worden. Judith schaute zu, wie sie, mit Schultüten bewaffnet, von ihren königlichen Eltern und einer Meute Fotografen einer pädagogisch stets ganz besonders wertvollen Grund- oder Vorschule zustrebten.

Eigentlich furchtbar, die armen Kinder: immer die Presse am Bein… Judith schnaufte, teils wegen der Anstrengung, teils wegen ihrer eigenen Abneigung gegen Paparazzi.

War ihr eigener erster Schultag eigentlich nicht genauso verlaufen? Damals hatte das Blitzlichtgewitter sie noch nicht gestört, und ihre schöne Mutter hatte es natürlich genossen. Naja, Blitzlichtgewitter? Eher ein bescheidenes Wetterleuchten, mit gekrönten Häuptern konnte sie nämlich nicht so ganz mithalten.

War Papa eigentlich auch mitgekommen – oder hatte es geheißen Mach du das, Jessie, ich brauche so einen Almauftrieb nicht?

Huch? Ach nein, nicht schon wieder! Premiere eines Films, den Judith sich garantiert nie anschauen würde. Alles, was zurzeit Rang und Namen hatte, hatte mitgespielt, und jetzt standen sie auf dem roten Teppich vor dem Premierenkino in Berlin und guckten dekorativ über die Schulter. Und wer grinste besonders breit in die Kameras? Ihre Mutter natürlich, die doch bloß Premierengast war.

Immerhin war ihr Kleid nicht die Peinlichkeit des Tages, auch wenn sie – nach Judiths Ansicht – für diesen Riesenausschnitt ein bisschen zu alt war. Immerhin war sie Großmutter, auch wenn man das nicht erwähnen durfte.

Kopfschüttelnd radelte sie weiter, bis sie die zehn Kilometer, die sie sich täglich vornahm, zusammen hatte, dann ging sie duschen, stellte dabei fest, dass der Duschkopf schon wieder verkalkte, schlüpfte in ihre alten Feierabendjeans und einen ebenso alten Pullover und kuschelte sich auf dem Sofa zurecht. Mama konnte den Glanz der Filmwelt einfach nicht loslassen…

Andererseits: Warum sollte sie das eigentlich tun? Sie war doch noch einigermaßen im Geschäft!

Zumindest, was diese Serie betraf. Judith grinste vor sich hin, wenn sie an Mamas Rolle darin dachte – da spielte sie sich doch eigentlich bloß selbst, konnte so schwer nicht sein… Der Vorabendkrimi lief einmal pro Woche, was die neuen Folgen betraf, und täglich auf einem dieser billigen Wiederholungskanäle (Zweitverwertung?), wo gerade wieder einmal die erste Staffel durchgenudelt wurde. Sie war die nervende Mutter des jüngsten Kommissars, die in der Kleinstadt, die als Schauplatz diente, Gott und die Welt kannte, weil sie das angesagteste Klamottengeschäft führte und sowohl Opfer als auch Mörder stets eben erst in ihren Umkleidekabinen gestanden hatten. Immerhin war das Ambiente nicht allzu alpenländisch – man musste mittlerweile schon für Kleinigkeiten dankbar sein.

Jedenfalls spielte ihre Mutter, die bekannte und beliebte Jessica Rother, hier eine unglaubliche Nervensäge, und alle ihre Kinder – nicht nur Judith, auch Julius und Jeremy, waren sich wundervoll einig, wie lebensecht ihr Spiel hier war.

„Sie hat ja bei uns lange genug geübt“, hatte Jerry mal festgestellt, allerdings außer Jessicas Hörweite.

Die nämlich hielt sich für die beste Mutter auf Gottes weiter Welt, verständnisvoll, loslassend, fördernd, pädagogisch hochtalentiert und selbstverständlich die beste Freundin ihrer Kinder, die ihr auch heute noch alles anvertrauten. So äußerte sie sich wenigstens bei den jährlich fälligen Homestories.

Natürlich vertraute keines ihrer Kinder ihr irgendetwas an, denn sie hätte es sofort in das nächstbeste Mikro geplappert – oder auf ihrem Facebook-Account gepostet. Der unzutreffende Käse, der dort zu finden war, reichte ihren Kindern schon.

Manchmal fragte sie sich schon, ob Jessica eigentlich skrupellos war. Oder naiv? Oder einfach nur publicitygeil…

Sie selbst würde nur sagen Ich liebe meine Kinder eben – warum soll ich das nicht aller Welt erzählen?

Jerry und Jul sahen das naturgemäß etwas lockerer, denn ihnen nützte das ewige „Sind Sie nicht der Sohn von Jessica Rother?“, ja auch beruflich, Judith aber nicht. Und sie wollte auch nicht gefragt werden, wie toll es denn wohl war, die Tochter einer bekannten Schauspielerin zu sein. Sie war auch noch die Tochter eines erfolgreichen mittelständischen Unternehmers und arbeitete in seiner Firma als – mehr oder weniger – Juniorchefin. Das fand sie bedeutend wichtiger als das bisschen geborgten Glanz von roten Teppichen und Preisverleihungen. Hatte Jessica eigentlich jemals -? Judith konnte sich jedenfalls im Moment nicht daran erinnern.

Sie lag gemütlich auf dem Sofa und blinzelte in Richtung Fernseher, wo gerade die Lokalnachrichten kamen. Äh, Local One war wirklich ein Krawallsender, aber die Fernbedienung lag immer noch auf dem Display des Fahrrads, und sie hatte gerade so gar keine Lust, aufzustehen. Jetzt waren eben ihre faulen fünf Minuten…

Toll. In der Altstadt hatten sie ein Lokal geschlossen, wegen allzu schmuddeliger Küche, sagten aber nicht, wie es hieß. Und sie zeigten zwar die Küche von innen, aber nicht die Fassade von außen. Sehr hilfreich! Obwohl, sie ging ohnehin fast nie essen, ab und zu mit Papa oder (noch seltener) mit ihrer Mutter ins Médoc, und das würde ja wohl seine Küche putzen…

Der Fuggerplatz sollte auf Anwohnerparklizenzen umgestellt werden. Die vielen Anwälte dort würden sich freuen, wenn ihre Mandanten nicht mehr parken konnten…

Eberhard Schmiedl hatte seine Strafe – elf Jahre wegen Entführung – abgesessen und wollte nach Leisenberg zurückkehren.

Judith fuhr auf und starrte ungläubig auf den Bildschirm: Schmiedl? Das Schwein war wieder frei?

In dem kurzen Einspieler sah man ihn mit einer Reisetasche das Gefängnis in München verlassen und unsicher blinzeln, als habe man ihn elf Jahre lang in Dunkelhaft gehalten. Die Off-Stimme erinnerte an die tragische Zeit im Leben der bekannten Schauspielerin Jessica Rother (Einblendung eines älteren, jedenfalls sehr jugendlich wirkenden Porträts), als ihre Tochter entführt worden war. Tagelang hatte die sensible Mutter um das Leben ihres Kindes gebangt, bis es endlich freigelassen worden war…

Kind? schnaubte Judith im Stillen – sie war siebzehn gewesen, damals vor zwölf Jahren, kein Kind mehr.

Und gelitten hatte natürlich nur Mama – aber sie selbst verbot es sich ja auch stets, an diese Wochen zurückzudenken. Sie hatte Schmiedls Gesicht in dem Keller nie gesehen, er hatte stets eine Maske getragen, wie dieser andere, der irgendwie umgekommen war… Aber Schmiedl hatte schließlich gestanden – und Mama hatte ihn im Gerichtsaal geohrfeigt und das Ordnungsgeld lächelnd akzeptiert. Schöne Geste. Das war der Tag, an dem sie selbst auch im Gericht gewesen war…

Eine Aussage hatte sie nicht mehr machen müssen, sie hatte bei der Kripo ausgesagt, und das Geständnis hatte ihr einen Auftritt vor Gericht erspart. Aber diesen Mann zu sehen, zu hören, wie alle seine Verbrechen aufgezählt wurden, wie die Fotos von ihren Verletzungen herumgereicht wurden… da half es auch nichts, dass ihre Mutter ihr tröstend die Hand tätschelte und Papa an diesem Tag sogar neben ihr saß. Extra für sie hatte er an diesem Tag die im Stich gelassen! Auch wenn Jessica gefunden hatte, das sei ja wohl das Mindeste…

Immerhin hatten sie sich im Gerichtssaal nicht – wie sonst – leise zischelnd streiten können. Das hatte sie damals ganz besonders gehasst.

In diese Gedanken und Erinnerungen versunken hatte sie den Rest des Beitrags verpasst. Vielleicht war es besser so – ob dieser Schmiedl sich ihr nähern würde? Im Telefonbuch stand sie nicht, in sozialen Netzwerken war sie ebenso wenig vertreten – und wer sollte vermuten, dass sie als Tochter einer prominenten Schauspielerin und eines wohlhabenden Unternehmers in dieser doch arg kleinen und abgelegenen Wohnung hauste?

Trotzdem stand sie jetzt auf und sah nach, ob sie den schweren Stahlriegel an der Wohnungstür auch wirklich vorgelegt und abgeschlossen hatte. Hatte sie. Und alle Fenster waren geschlossen und abgesperrt, eines Tages würde sie hier noch an Sauerstoffmangel sterben. Nein, es gab ja in der Küche diese winzige Klappe über dem Fenster, zwanzig mal zehn Zentimeter groß und so weit oben, dass man keinesfalls – an der glatten Fassade im dritten Stock klebend – von außen nach dem Fensterriegel greifen konnte.

Hier war sie sicher, ganz bestimmt. Und den Fassadenkletterer wollte sie erst einmal sehen!

Ihr Handy klingelte. Sie kannte die Nummer auf dem Display nicht, nahm das Gespräch aber trotzdem an, was sie sofort bereute: Eine freundliche junge Dame stellte sich unter einem ihr unbekannten Namen vor und kam so lange nicht zur Sache, dass Judith sie ungeduldig unterbrach: „Ich abonniere nichts, meine Finanzen gehen Sie nichts an und ich nehme auch nicht an Umfragen teil. Ach ja, und Glückslose möchte ich auch nicht. Sagen Sie mir bitte noch einmal deutlich ihren Namen?“

„Warum das denn?“

„Na, unerwünschte Telefonwerbung ist doch verboten. Ohne Namen kann ich Sie schließlich schlecht anzeigen, nicht?“

„Ich rufe nicht zu Werbezwecken an, ich arbeite bei HOT!. Darf ich Sie etwas fragen, Frau Schottenbach?“

„Dann hätte ich zuerst eine Frage, Frau Wie-auch-immer: Woher bitte haben Sie meine Nummer?“

„Wir haben unsere Quellen.“

„Sie verstoßen also ungeniert gegen den Datenschutz? Sehr, sehr interessant.“

Gegrummel am anderen Ende. „Eberhard Schmiedl hat seine Strafe abgesessen. Was fühlen Sie dabei?“

„Wer ist das?“, fragte Judith, in der Hoffnung diese blöde Kuh entweder zu verwirren oder zu ermutigen.

„Aber Sie müssen doch etwas fühlen!“

„Im Moment? Desinteresse, leichte Gereiztheit, Hunger. War´s das?“

„Wieso Gereiztheit?“

„Weil ich gerade am Telefon von einer aufdringlichen – naja – belästigt werde, obwohl ich gerne zu Abend essen würde.“

„Eberhard Schmiedl war der Mann, der Sie entführt hat, das können Sie doch nicht vergessen haben?“

„Daran möchte ich aber nicht erinnert werden.“

„Aber das müssen Sie! Die Öffentlichkeit hat doch ein Recht darauf, alles -“

„Hat sie nicht. Mein Leben geht die Öffentlichkeit einen – mal wertschätzend formuliert – Scheißdreck an, ich verdiene mein Geld nämlich nicht damit, blöde in jede Kamera zu grinsen. Und das war´s dann auch. Wenn Sie mich noch einmal belästigen, verklage ich HOT! Und das wird Ihre Redaktion hoffentlich so freuen, dass sie Sie fristlos feuern.“

Damit schaltete sie ab, leicht erstaunt über ihre eigene Aggressivität. Sie zitterte regelrecht vor Wut. Damit hatte sie vorhin nicht gerechnet, dass die Entlassung Schmiedls den ganzen Mist wieder auf die Tagesordnung bringen würde! So dumm, sie hätte damit rechnen sollen – aber gab es denn wirklich nichts Wichtigeres? Für HOT! bestimmt nicht, die hatten an dem Krieg in Syrien, der Situation der Flüchtlinge und den rechten Umtrieben vor allem in Sachsen gar kein Interesse – magersüchtige Models, Kokainfunde in angesagten Altstadtkneipen und das Privatleben von Prominenten, das waren ihre Themen. Ja, und ein wenig reißerisch aufgemachte Stadtpolitik: Steuerverschwendung, Korruption, Bevorzugung weniger Reicher, spektakuläre Unfälle und Katastrophen…

Was für eine blöde kleine Schnepfe!

Ein gestörtes Verhältnis

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