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„Warum bist du so hibbelig?“, wollte Nini wissen, als Judith zum wiederholten Mal einen nervösen Blick zur Tür warf, nachdem sie bereits das Fenster in ihrem Rücken gescannt hatte.

„Jetzt lass das mal. Dieses Fenster ist seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr aufgemacht worden, das ist doch völlig festgebacken. Und wovor fürchtest du dich eigentlich?“

Judith nahm einen großen Schluck von ihrem Cocktail. „Schmiedl.“

„Schmiedl? Wer – ach du Scheiße, der Kerl, der dich damals entführt hat? Ist der wieder raus?“

„Stand in der Zeitung. Hast du das nicht gesehen?“

„Ich lese nur die Süddeutsche, und da vor allem Wirtschaft und Politik.“

Nini arbeitete im Wirtschaftsreferat der Stadt Leisenberg und präsentierte sich gerne als ganz nüchterne, nur an Fakten orientierte Frau, liebte insgeheim Klatsch und Tratsch aber genauso wie alle anderen.

„Warum soll Schmiedl dir denn begegnen? Ich meine, wenn er einen Hauch von Hirn hat, müsste er doch aufpassen, dass er sich von dir fernhält, damit er nicht wieder Ärger kriegt, oder?“

„Wieso? Er hat ja keine Bewährung. Vielleicht kann Papa ein Abstandsgebot erwirken, aber das dauert eben noch.“

„Hast du wirklich Angst, ihm zu begegnen?“

„Ich hab ihn doch schon zweimal getroffen. Er steht immer vor der Firma!“

„Was? Der traut sich was! Was will er denn?“

„Keine Ahnung, ich kann ihn ja nicht fragen! Wenn ich ihn sehe, fange ich sofort zu schreien an und dann läuft er weg. Langsam halten mich in der Firma wahrscheinlich alle für bekloppt.“ Ihr Glas war leer, und sie bedeutete dem Kellner, ihr noch eins zu bringen.

„Ob das seine Absicht ist?“

„Wie bitte?“

„Na, wenn er dich diskreditieren kann, so dass du als nicht ganz dicht giltst, vielleicht werden dann deine Aussagen angezweifelt und es kommt zu einer Wiederaufnahme?“

Judith schüttelte den Kopf und nahm ihren nächsten Drink entgegen.

„Die anderen haben doch das Gleiche ausgesagt. Papa und meine Mutter, dann müsste er ja alle so weit bringen, dass sie austicken.“

„Ja, und bei deinem Vater wird das schwierig… ich meine, deine Mutter, also ganz ehrlich!“

„Weiß ich doch selbst. Sie nervt tierisch, zurzeit ganz besonders. Ich versuche es gerade mit korrekter Kälte, aber da muss ich wohl noch etwas üben. Manchmal habe ich das Gefühl, alle Welt ist nur dazu da, sie wieder mal in die Zeitung zu bringen, damit ihr irgendwer eine Rolle anbietet.“

„So war sie doch immer schon, oder?“

Judith knurrte zustimmend. „Ich bin sicher, dass sie mir vor kurzem die Presse auf den Hals gehetzt hat. Aber bei so etwas mache ich nicht mit, ins Mikro heulen, damit die Auflage steigt… können die nicht über wichtige Dinge berichten?“

„Die Käseblätter ganz bestimmt nicht. Seriöser Journalismus – das können die doch gar nicht.“

„Mistkerle. Aber sag, wie geht es dir denn?“

„Passt schon“, brummte Nini. „Ich komme im Amt nicht von der Stelle, weil ich bloß Teilzeit mache, unsere Süßen sind im schlimmsten Trotzalter und Michi hat sich mittlerweile völlig im Job vergraben. Ja, aber sonst ist alles okay.“

Sie zog eine Grimasse und nahm noch einen bedächtigen Schluck.

„Scheiße“, kommentierte Judith. „Wie alt sind deine Kids jetzt eigentlich?“

„Drei und vier. Immerhin sind sie im Kindergarten, aber blöderweise eben nur halbtags. Und der Kindergarten ist so einer, wo man sich als Mutter einbringen soll. Und voll öko!“

„Öko ist doch gut?“

„Hast du schon mal Kuchen aus Öko-Mehl mit Melasse gebacken? Total zäh – und so schmeckt es dann auch. Da lob ich mir irgendein Industriezeugs mit lecker Zusatzstoffen.“

Judith musste lachen. „Nini, du Ökoferkel! Ein Essverhalten wie - naja, das wäre jetzt arrogant.“

Nini grinste. „Vermisst du einen Jogginganzug von Aldi? Machst du einen auf großbürgerlichen Gesundheitsterror? Jedenfalls spart mir der Kindergarten nicht viel Zeit. Wenn Michi sich etwas mehr kümmern würde…“ Sie seufzte.

„MorgenExpress, HOT von morgen!“ Der Zeitungsverkäufer hatte das Lokal betreten und hielt seine Zeitungen hoch. Das Interesse war mau, doch Judith warf einen Blick auf die HOT!-Schlagzeile und wurde totenbleich: Jessica Rother: Familientragödie!

Sie winkte dem Verkäufer und kaufte entgegen ihren Vorsätzen ein Exemplar.

„Jetzt reg dich nicht auf. Wahrscheinlich ist einem deiner Brüder die Katze davongelaufen. Oder einer kennt einen, der einen kennt, der einen kennt, der von einem gehört hat, dem die Oma gestorben ist. Du weißt doch, wie die arbeiten!“

Judith hörte nicht zu, sondern las bereits. Laut.

HOT. Jessica Rother konnte die Tränen kaum zurückhalten, als sie unsere Reporterin in ihrem eleganten Heim empfing. Ihre einzige Tochter Judith entwickelt eine immer beängstigendere seelische Störung, seitdem der Mann, der das Mädchen als Siebzehnjährige entführte und misshandelte, wieder aufgetaucht ist. Ihre Tochter fällt durch Schreianfälle auf und dadurch, dass sie die Hilfe ihrer liebevollen Mutter verschmäht. „Ich tue doch alles für meine Kinder, und dieser Undank muss einfach krankhaft sein. Wir hatten immer ein so enges Verhältnis, eher wie Freundinnen als wie Mutter und Tochter!“

Sollte sich ihre kranke Tochter nicht schleunigst Hilfe suchen?“

„Stimmt“, stieß Judith hervor, „und zwar die eines guten Anwalts. Ich verklage die alte Kuh!“

„Freundinnen?“, fragte Nini verblüfft. „Ihr habt euch doch noch nie verstanden, oder?“

„Eben. Und dieses Käseblatt verklage ich auch, gleich morgen!“

„Da kommst du nicht weit. Die sagen, deine Mutter ist eine Person des öffentlichen Interesses oder wie das heißt, und wenn sie freiwillig ein Interview gibt…“ Sie gluckste. „Gib doch auch eins! Erzähl, dass du deine Olle mit christlicher Langmut erträgst, aber dass ihr Drang, sich mit frei erfundenen Geschichten in den Vordergrund zu spielen, immer ärger wird. Dass du schon an eine Altersdemenz gedacht hast und dass es vielleicht daran liegt, dass sie keine Rollen mehr bekommt?“

Judith prustete ihren Cocktail quer über den Tisch. „Klasse!“, japste sie dann. „Schreib mir das doch bitte auf. Wenn ich das mache, redet sie im Leben kein Wort mehr mit mir.“

„Ja, ein sehr angenehmer Nebeneffekt, nicht?“

Dieses Mal verschluckte Judith sich endgültig an ihrem Getränk und musste husten. „Wenn ich dazu nicht zu feige wäre“, stieß sie hervor, sobald sie wieder sprechen konnte, „würde ich das echt machen. Aber Papa würde mich zu Nächstenliebe mahnen und meine Brüder würden finden, ich sollte mich nicht so anstellen, sie hätten sie ja schließlich auch ausgehalten.“

„Was, mischt sie sich bei denen auch immer ein?“

„Manchmal. Zum Beispiel, wenn Jul gerne seine kleine Mia präsentieren würde.“

„Was ist dann?“

„Riesengezeter. Jessica Rother ist Oma? Geht gar nicht! Die Leute könnten ja fragen, wie alt sie ist!“

Nini schüttelte den Kopf. „Aber sie ist doch nicht behämmert?“

„Na, ich weiß nicht…“

„Das meine ich nicht. Sie muss doch rechnen können! Ihre Jüngste ist fast dreißig, da kann sie selbst doch schlecht neununddreißig sein?“

„Das verstehst du nicht. Schau, natürlich kann das jeder ausrechnen, aber wenn sie öffentlich zugibt, Oma zu sein, dann setzt sich dieses Bild in den Medien fest und sie kriegt auch nur noch solche Rollen. Sie ist eine jugendliche Sechzigerin, keine Oma.“

„Das ist doch Bullshit. Schau, andere Schauspielerinnen kriegen doch auch tolle Rollen, die Greif, die Berben, die Hörbiger, die Elsner…“

„Nini, die können aber auch mehr! Kannst du dir meine Mutter als dämonische Firmenchefin, Patriarchin, Kommissarin oder Königin vorstellen?“

„Nicht wirklich. Nur als nervende Mutter des Kommissars.“

Judith gluckste.

„Und diesen Scheiß ignorierst du vornehm. Einzige Aussage: Kein Kommentar.“

„Oder: Wenden Sie sich an die Pressestelle der Polizei. Finde ich auch schön.“

„Wieso Polizei? Hat der Kerl sich strafbar gemacht?“

„Keine Ahnung. Aber die doch auch nicht, wetten? Dann halten die Bullen HOT! wenigstens für blöd.“

„Komm, das ist ja auch keine neue Erkenntnis mehr. Und was machst du mit deiner Mutter?“

„Irgendwie zahle ich ihr das heim. Nächste Woche ist ein Fest bei Jerry in München. Vielleicht gehe ich wirklich mal hin und streue ein bisschen Gerüchte. Oder ich lege mir doch einen Facebook-Account zu.“

„Dann mobben dich bloß alle Arschlöcher Leisenbergs, lass es lieber!“

„Nicht unter meinem eigenen Namen, ich will doch HOT! mobben. Und meine Mutter natürlich.“

„Komisch.“

„Was denn?“

„Du sagst nie Mama oder Mami oder Mom oder was auch immer.”

„Nein, das hätte sie nämlich gerne, aber so war sie nie. Meine Mutter drückt wenigstens etwas Distanz aus.“

Nini nickte nachdenklich. „Kann ich verstehen.“

Ein gestörtes Verhältnis

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