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Mai 2004 I

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Herrgott, mussten die so einen Lärm machen? Da raffte ich mich endlich mal auf und schrieb diese blöde Oberseminararbeit fertig – und die Kerle aus der WG feierten schon wieder! Was hatten die eigentlich zu feiern, dieser Loser-Verein? Keiner war mit seinem Studium fertig, keiner hatte Glück im Privatleben, keiner hatte im Lotto gewonnen.

Eigentlich genau wie ich – immer noch nicht fertig mit der Uni, solo, seitdem die Sache mit Axel friedlich eingeschlafen war, und Geld? Ich kam so hin, wenn ich genügend jobbte. Aber ich feierte ja auch nicht, ich bastelte an der Geschichte des ältesten Leisenberger Verlags herum – mein Dissertations-thema, das ich nächste Woche im Doktorandenseminar vorstellen musste. Oder besser, ich würde daran herumbasteln, ärgerte ich mich, wenn die da drüben ihre Scheißmusik nicht dermaßen aufdrehen würden! Konnten die nicht wenigstens was Schönes spielen? Immer dieser Techno-Scheiß!

Ich klopfte an die Wand – zwecklos, das konnten die gar nicht hören. Im Schlafzimmer war es geringfügig ruhiger, dafür hörte man hier die Wagnerkinder weinen. Kein Wunder, dass die nicht schlafen konnten, wenn das Haus im Rhythmus der Bässe wackelte! Wagners waren sowieso arm dran – eine zweijährige Tochter und drei Monate alte Zwillinge, und er hatte gerade seinen Job verloren. Und jetzt fürchteten sie, zwangsweise in ein Einzimmerloch umziehen zu müssen, wegen Hartz 4. Ich hatte schon versucht, der völlig erschöpften Frau Wagner klar zu machen, dass auch die Pfeifen vom Arbeitsamt (Behörde blieb Behörde, und wenn sie sich tausendmal als Agentur aufschmückten) kein Einzimmerappartement finden konnten, das billiger war als diese mehr oder weniger unrenovierte Fünfziger-Jahre-Wohnung: dreieinhalb Zimmer für sechshundert warm, das sollte erst mal einer nachmachen! Außerdem standen fünf Personen ja wohl wenigstens drei Zimmer zu, und die Sozialhilfe ohne Hartz 4 wäre noch einiges härter ausgefallen. Und schließlich war Frank Wagner ein sehr guter Buchhalter, der fand schon bald wieder was – solange er selbst suchte und sich nicht auf diese Agentur verließ!

Dann musste ich wohl – bei zwei Zimmern für vierhundertfünfzig warm – auch das Gehämmer ertragen.

Das Geplärr der Zwillinge nervte mich noch mehr als die Musik. Sie waren ja niedlich, die beiden – ich hatte schon mal auf die zwei aufgepasst, als Sabine dringend mit Jennifer in die Stadt gemusst hatte – aber das dünne Krähen ging über meine Kräfte. Und im Wohnzimmer wackelten die Wände.

Verdammt noch mal! Ich packte meinen Schlüssel, verließ die Wohnung, und klingelte – keine Reaktion. Schließlich ließ ich den Finger auf der Klingel, bis sie Würgegeräusche von sich zu geben begann, und endlich wurde die Tür aufgerissen. „Was ist denn – ach, du bist´s, Isi. Was liegt an?“

Thilo grinste leicht beduselt. Angewidert musterte ich die ausgebeulten Cargohosen und das schmuddelige Feinrippunterhemd und starrte ihn dann erbost an. „Könnt ihr mal euren Krach etwas runterdrehen? Wie soll man bei dem Lärm arbeiten?“

„Arbeiten?“, wiederholte er träumerisch. „Arbeiten... nur Idioten arbeiten... komm rein, wir haben sicher auch noch ein paar Züge für dich. Und ein, zwei Bier...“

„Herzlichen Dank“, fauchte ich, „eure schmierigen Joints und euer Billigbier könnt ihr euch sonstwohin stecken. Dreht die Musik leiser, sonst komm ich mit dem Hackebeil, und dann ist eure Anlage nur noch Schrott!“

„Hackebeil?“, säuselte es hinter Thilo, und Olaf kam ins Bild. Im Muskel-Shirt, der alberne Angeber! Und in Shorts – in Unterhosen. Ich sah hastig weg und bemerkte sein träge-amüsiertes Grinsen. „Was die Frauen von heute so in ihren Handtäschchen haben...“

„Bei so grässlichen Nachbarn kommt als nächstes eine Uzi in mein Handtäschchen“, schnauzte ich und hoffte bloß, dass die Dinger wirklich so hießen. „Du erschreckst mich“, säuselte Olaf. „Willst du nicht doch reinkommen und dich ein bisschen entspannen? Mit mir zusammen?“

Ich täuschte Erbrechen vor. „Nein danke. Macht leiser, dann bin ich wunschlos glücklich. Außerdem glaube ich, dass euch der liebe Hubi gerade das Zimmer vollkotzt, hört ihr das nicht? Hoffentlich hat er die Endstufe erwischt!“

Das war zwar gelogen, man hätte bei dem Krach bestenfalls einen landenden Jumbojet hören können, aber es machte ihnen Beine und die Tür fiel wieder zu.

Die Musik wurde aber kaum leiser, stellte ich, wieder am Schreibtisch, erbost fest. Diese blöden Idioten! Tautologie, registrierte mein Germanistenhirn automatisch, aber trotzdem: Wieso hingen die nur so blöde herum? Alle drei waren nicht doof und nicht hässlich und auch keine Junkies (wenn sie auch manchmal so taten), aber sie machten nichts aus sich. Sie liefen rum wie die Penner und kultivierten ein Auftreten, bei dem es jeder Frau mit Geschmack im Handgelenk juckte, sie schauten nur dann in der Uni vorbei, wenn gar nichts Spannenderes anlag (außer Olaf, den hatten sie gerade rausgeschmissen) und hatten, wenn überhaupt, die obskursten Jobs. Drei kleine Gauner, hatte ich manchmal das Gefühl.

Thilo wenigstens sagte manchmal ganz offen, sein Ziel gehe dahin, ohne Arbeit durchs Leben zu kommen – Arbeit sei für die Blöden, er sei zu schlau dafür. Wovon lebte der eigentlich? Und die anderen? Zahlten die Eltern da etwa immer noch? So gut müsste man´s mal haben, ärgerte ich mich schon wieder und versuchte, die ersten Aktivitäten von Johann Friedrich Greiff knapp und übersichtlich auf das Handout zu bringen. Vielleicht noch einen Auszug aus seiner wutentbrannten Kampfschrift Wider die gottlosen Horden der Raubdrucker, insonderheit Herrn Schmieder zu Karlsruhe (Leisenberg 1774)...

Drüben dröhnten die Bässe so laut, dass ich fast mein eigenes Telefon überhört hätte. Im letzten Moment hechtete ich hin und meldete mich. „Ich brauch ein Bier und was Gescheites zu essen“, jammerte es am anderen Ende. Wenn Sandra so kläglich drauf war, hatte sie eine Überdosis Familie genossen – und ich hatte jetzt sowieso keine Lust mehr. Morgen musste ich erst um drei in eine Vorlesung und um sieben arbeiten, also konnte ich ausschlafen. Warum nicht weggehen und hinterher, wenn diese Maden von nebenan zugedröhnt pennten, noch ein bisschen arbeiten?

„Ins Ratlos?“, schlug ich also vor.

„Ja, gut, in einer halben Stunde?“

Da musste ich mich zwar beeilen, aber warum nicht? Ich schraubte den Füller zu, mit dem ich meiner stockenden Arbeitsweise mehr Schwung hatte verleihen wollen, und fuhr in die Stiefel – für Mai war es noch ziemlich kalt, und auf dem Fahrrad erst recht. Geld, Zigaretten, Handy (wozu, wusste ich auch nicht), warme Jacke, Handschuhe – wieso war da mal wieder nur einer? Ich sollte vielleicht doch mal aufräumen!

Der zweite fand sich in der Jackentasche, ich schloss die Tür hinter mir ab und unten die komplizierten Schlösser meines Gefährts wieder auf. Hier wurde ganz schön geklaut, also hatte ich eine dicke Stahlkette durch beide Räder gewickelt und dann alles an den Apfelbaum im Hof gekettet, dazu noch ein Speichenschloss angebracht und ein Zahlenschloss, das die Kette blockierte. Damit saute ich mir zwar jedes Mal die Finger ein, aber immerhin hatte ich das Rad noch. Das konnte natürlich auch an seinem Schrotthaufen-Eindruck liegen, musste ich zugeben, während ich über das Kopfsteinpflaster der Sellinger Straße Richtung Univiertel hoppelte und garantiert wieder ein paar Schrauben verlor. Ein Auto müsste man haben, so wie dieses Schnuckelding, das vorhin vor dem Haus geparkt hatte. Ein Japaner, aber edel, in Silbergrau. So was konnte man ordentlich abschließen, drinnen war es warm, durch die Federung spürte man nicht jeden Katzenkopf, man konnte was mitnehmen, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten... Geld müsste man haben, genügend Geld! Ich hatte zwar Geld, aber nur so viel, dass ich zwei Monate ohne Job überstehen konnte, ohne dass mein Konto ins Minus geriet. Mehr hatte ich noch nie gehabt, mir zahlte ja auch keiner das Studium! Ich kriegte immer nur zu hören Wann bist du denn jetzt endlich mal fertig? Was studierst du gleich wieder? Wozu soll das gut sein? Weiberkram! Kannst du dich nachher wenigstens mal selbst ernähren? Willst du nicht doch lieber heiraten? Einmal muss es ja doch sein!

Erstens – wieso musste es sein? So wie Zahnarzt? Zweitens – wieso musste ich mir das immer anhören, ohne sagen zu dürfen, dass ich längst fertig wäre, wenn ich nicht vom ersten Semester an nebenbei hätte arbeiten müssen? Drittens – den Magister hatte ich ja längst, nur die Diss dauerte so lang. Und viertens ging das meinen Vater gar nichts an – wer sich weigerte zu zahlen, ja, wer seine studierwillige Tochter praktisch rauswarf, der hatte nichts mehr mitzuquatschen!

Der Ärger gab mir den Schwung, den Sophienhügel neben dem Waldburgviertel ganz hochzuradeln, ohne mich auf die Pedale stellen zu müssen – und nun musste ich bloß noch die Sophienstraße entlangrollen, ohne über eine leichtsinnig geöffnete Fahrertür zu fliegen, zweimal abbiegen und das Rad wieder narrensicher an einen Laternenpfahl ketten.

Im Ratlos ging es wie üblich gewaltig zu, aber ich schaffte es doch noch, mich durchzuboxen und einen Zweiertisch am Fenster zu ergattern. Sandra kam nur einen Moment nach mir und ließ sich erschöpft auf den Stuhl mir gegenüber fallen. „Ich halt´s nicht mehr aus!“, stöhnte sie und versuchte, sich im Sitzen aus ihrem Mantel zu schälen.

„Du warst bei deinen Eltern“, stellte ich überflüssigerweise fest.

„Klar. Muttertag. Du etwa nicht?“

„Gestern. Da war Papa nicht da, er findet ja ohnehin, dass Muttertag völlig überbewertet ist, weil er die Kohle ranschafft und Mama angeblich nichts tut. Aber den Krach haben wir schon so oft durchgespielt, darauf hatte ich keine Lust mehr. Und Mama sagt ja doch bloß immer Kind, nun lass doch und guckt verschreckt.“

„Dein Vater ist ein Riesenarschloch“, stellte Sandra fest.

Darauf einen Dujardin“, stimmte ich zu und winkte Ayse, die sofort herbeieilte und uns zwei Bier und zwei Geflügelsandwichs versprach.

Sandra seufzte und zündete sich eine Zigarette an. „Wolltest du nicht eigentlich aufhören?“, fragte ich und bereute es sofort, denn ihr traten die Tränen in die Augen. „Klar. Ich wollte vieles, aber dann sehe ich sie wieder... findest du mich eigentlich egoistisch? Wenn ich auch mal zur Kenntnis genommen werden möchte?“

„Unsinn, das ist doch ganz natürlich“, widersprach ich sofort. Im Stillen fand ich Sandras Eltern mindestens so furchtbar wie meine eigenen, aber sie verteidigte sie immer, wegen des großen Verlusts.

„Heute auch wieder... Sie haben uns geschmerzt angelächelt, Toni und ich haben unsere Geschenke überreicht und wir hatten auch einen Tisch reserviert, in Herzhofen... aber dann hatte Mutti wieder einen Weinkrampf, weil ihr eingefallen ist, dass Adrian ihr bestimmt auch was geschenkt hätte, wenn er noch da wäre... und schließlich hat Vati uns weggewunken und wir kamen uns mal wieder so vor, als hätten wir die Krise mutwillig ausgelöst.“

„Allmählich könnten sie ja doch mal realisieren, dass sie drei Kinder haben und zwei noch da sind“, fand ich.

„Ja, denke ich auch. Aber dann komme ich mir wieder so egoistisch vor... immerhin lebe ich, mir geht´s eigentlich gut, Toni auch – und Adrian ist tot.“

„Aber das ist Jahre her! Allmählich müsste das doch ein bisschen verblassen und die beiden müssten eigentlich mal wieder ihren Alltag zur Kenntnis nehmen.“

Sandra schnaubte. Allmählich schien der Ärger den Kummer zu besiegen. „Von wegen! Bei allem und jedem heißt es Macht ihr das bitte, ihr wisst doch... dafür sind wir nun wirklich nicht in der Verfassung...“

„Mein Gott, ihr habt doch auch getrauert, immerhin war er euer kleiner Bruder!“

„Ja, aber eben nicht lebenslang. Toni hat nicht mit ihrem Freund Schluss gemacht, ich hab weiter studiert – ich glaube, das nehmen sie uns übel. Dass für uns das Leben irgendwann weiter gegangen ist. Weißt du was? Ich musste heute die Bügelwäsche nach oben tragen, und da hab ich gesehen, dass Tonis Zimmer nun eine Wäschekammer ist und meins so eine Art Gästekabuff – als ob da jemals jemand käme – und Adrians Zimmer schaut noch genauso aus wie damals, mit dem FC Bayern-Bettbezug und dem steinalten Rechner, seinem Jugend-forscht-Trostpreis und den Abenteuerbüchern. Über dem Sessel liegt sogar noch ein verknautschtes Hemd, und in der Ecke steht die volle Sporttasche. Fehlt bloß noch die rote Kordel vor der Tür. Aber wenn wir mal aus irgendeinem Grund zurückmüssten – dafür hätten sie keinen Platz.“

„Ist es vielleicht auch, weil Adrian eben der Sohn war?“, fragte ich, weil mein Vater nur Augen für Philipp hatte, der sich aber auch nicht öfter sehen ließ, weil er Papa so wenig leiden konnte wie ich. „Ja, vielleicht. Ich glaube, so arg wie bei euch ist es nicht, aber man merkt es schon auch: Nur noch die Mädchen übrig... eigentlich unglaublich, in welchem Jahrhundert leben wir denn!“

„Das scheint manchen aus der Elterngeneration wirklich nicht so ganz klar zu sein“, stimmte ich leicht verbittert zu. „Da kommt unser Bier, das haben wir uns verdient.“ Wir nahmen jeder einen gewaltigen Schluck und bestellten sicherheitshalber gleich Nachschub, dann setzte Sandra ihr Glas ab. „Weißt du, sie tun mir ja immer noch Leid, aber seit Adrians Tod ist die Familie wirklich kaputt. Sie kümmern sich um nichts mehr, Toni sorgt dafür, dass die Putzfrau und ab und an ein Gartenbaufritz das Nötigste machen, ich kümmere mich um alles Geschäftliche, Steuererklärungen und so – aber sie wissen gar nicht, wie wir so leben, ich glaube, sie wissen nicht mal unsere Adressen. Jedenfalls rufen sie uns nie an, immer müssen wir das machen. Sie sitzen einfach so rum, und einmal am Tag schauen sie sich Adrians Fotoalbum an, vermute ich. Zu fragen trauen wir uns schon gar nicht mehr.“

„Habt ihr sie nie mal eingeladen, damit sie mal rauskommen?“

„Oft und oft. Dann guckt Mutti waidwund drein und sagt Hier haben wir aber doch unsere Erinnerungen, wollt ihr uns das nehmen? Als hätten wir verlangt, dass sie ausziehen, und sie nicht bloß zum Kaffee eingeladen! Irgendwann haben wir aufgegeben.“

„Ich dachte, Toni wollte im Juni heiraten?“

„Tut sie auch. Aber in aller Stille, die Eltern kann sie ja doch nicht einladen, und ohne sie kann sie kein rauschendes Fest feiern. Wir haben schon überlegt, ob wir es ihnen überhaupt erzählen sollen. Auch, dass Toni mit Marc für zwei Jahre nach Frankreich geht.“

„Dann musst du ja alles alleine machen!“ Ich war entsetzt, das war wirklich zuviel, schließlich hatte Sandra bei dem Wirtschaftsprüfer, bei dem sie arbeitete, reichlich zu tun und außerdem ab und zu auch mal ein Privatleben. „Ich finde, ihr solltet es ihnen sagen“, meinte ich nach einem weiteren Schluck, „auch wenn es vielleicht ein Schock ist. Aber vielleicht wachen sie dann ja endlich mal auf.“

„Eher sind sie entrüstet“, wandte Sandra trübe ein, „dass wir es wagen, weiter zu leben, ist ja ohnehin ein Affront. Und deshalb ist es wohl auch uninteressant, wie wir weiter leben.“

„Verflixt, das Ganze ist jetzt bald zehn Jahre her und es war ein Unfall! Ich will absolut nicht herzlos sein und ich respektiere auch die Trauer um ein Kind - aber nach so langer Zeit? Weißt du, wenn er verschwunden wäre und man bis heute nicht wüsste, was aus ihm geworden ist, aber so? Man muss doch mal loslassen können!“

„Sag das nicht mir. Wir haben losgelassen. Manchmal würde ich meine Eltern am liebsten auch loslassen.“

„Das solltet ihr vielleicht wirklich tun. Kann es nicht sein, dass sie gar keinen Grund haben, wieder aufzutauchen, solange ihr sie so umhegt?“

Sie zuckte die Achseln. „Wahrscheinlich hast du Recht. Warum wir so tüdelig sind, weiß ich auch nicht. Vielleicht schlechtes Gewissen.“

„Weil ihr noch lebt? Das ist ja wohl die Höhe!“, zischte ich. „Werfen sie euch das etwa vor?“

„Nein, wenigstens nicht direkt. Aber wenn eine von uns ihn gefahren hätte...“

„Ihr wusstet doch gar nicht, dass er noch mal in die Schule wollte! Genauso könnten eure Eltern sich Vorwürfe machen, dass sie genau da gebaut haben, wo nur diese Rennstrecke zur Schule führt!“

„Meinst du, das tun sie? Möglich wär´s. Ach, nach so langer Zeit hat das doch alles keinen Sinn mehr. Hören wir auf damit!“

Gerne, aber Sandra ließ das Thema ja doch nicht los – nicht bei diesen geradezu besessenen Eltern! Die Geflügelsandwichs lenkten uns vorübergehend ab, und als auch noch Petra auftauchte und sich einen Stuhl an unseren Tisch zog (nicht ohne sich erst einmal mit einem anderen zu verhaken), fiel es uns leichter, das Thema zu wechseln. Dachten wir wenigstens.

„Was soll ich meiner Mami bloß zum Muttertag schenken?“, fragte sie uns und sah uns hilfesuchend an, die blauen Augen weit aufgerissen. „Ich kann doch nicht immer mit Herzchenpralinen da auftauchen!“

„Wo willst du denn jetzt noch was hernehmen?“, fragte Sandra leicht gereizt, weil Petra diese Hilflosigkeit so penetrant zur Schau trug. „Es ist schon fast acht. Willst du einen Spätbesuch starten?“

„Aber nein, nächsten Sonntag doch erst, Dummerchen!“ Petra lachte fröhlich, aber dann sah sie unsere unbewegten Mienen und ihr Lachen erstarb. „Nein... sagt, dass das nicht wahr ist! Heute?“ Wir nickten gewichtig. „Scheiße!“, jammerte sie los. „Was mach ich denn jetzt? Ich hab´s schon letztes Jahr vergessen! Wieso erinnert ihr mich denn nicht daran?“

„Wieso kaufst du dir nicht endlich mal einen Kalender und trägst so was ein?“, fuhr ich sie an. „Du bist ein erwachsener Mensch, du musst doch langsam mal deine Termine geregelt kriegen!“

„Hab ich doch! Aber den muss ich irgendwo liegen gelassen haben, jedenfalls finde ich ihn nicht mehr. Nun schaut nicht so, als ob euch so was nie passieren würde!“

„Ich hab in der siebten Klasse mal mein Hausaufgabenheft verloren“, sagte Sandra, „aber das war das letzte Mal. Und nach zwei Tagen hatte ich ein neues und alles nachgetragen. Und du, Isi?“

„Einmal meine Seminarkarte, im ersten Semester. Aber ich wusste, wo ich die vergessen haben musste, und da war sie auch. Kein Problem. Nee, Petra, so was passiert einem denkenden Menschen eigentlich ab einem gewissen Alter, etwa zehn, nicht mehr. Dann kauf dir halt so ein DIN A 0-Ding und pinn´s dir an die Wand! Das verlierst du garantiert nicht.“

„Das sieht ja scheußlich aus, ich will doch nicht in einem Büro wohnen!“ Ein bisschen Büro hätte ihr gar nicht geschadet, fand ich. Und Sandra auch, so wie sie die Augen verdrehte. „Jedenfalls solltest du schauen, dass du Blümchen und Kuchen auftreibst oder so und schleunigst bei deiner Mami zu Kreuze kriechen“, schlug Sandra vor. „Am Bahnhof kriegst du sicher alles, was du brauchst.“

„Am Bahnhof? Da ist doch alles total teuer!“

„Wer nicht mitdenkt, muss mehr zahlen“, sagte ich mitleidlos.

„Habt ihr nicht noch was?“

„Was denn? Eine halbtote Topfpflanze oder so? Angeschmuddelte Topflappen? Eine angebrochene oder steinalte Schachtel Pralinen? Du kannst deiner Mami doch nicht irgendwelchen Krempel von anderen Leuten mitbringen! Notfalls probier´s an der Tankstelle, vielleicht haben die noch ein paar Blumen zum Sonderpreis.“ Manchmal hatte Petra ja schon einen Hau, fand ich.

Sie murrte, lehnte es ab, etwas zu bestellen, und trank mein Bier aus. Danach erhob sie sich, sagte: „Dann werd ich mal...“ und ging, nicht ohne den Stuhl mitten im Gang stehen zu lassen. Seufzend räumte ich ihn aus dem Weg. Petra würde sich auch im Leben nicht mehr ändern! „Lieber eine Scheißfamilie als so sein wie Petra“, fand Sandra und machte sich über ihr zweites Bier her. Ich schob das Glas weg, dem Petra den Garaus gemacht hatte, und nahm mir ebenfalls mein frisches. Köstlich!

„Ich denke, wir müssen uns mit unseren Geschwistern trösten“, schlug ich vor. „Toni ist doch echt nett, oder? Und Philipp ist auch ganz in Ordnung. Für einen Bruder wenigstens.“

„Ja, schon. Aber Toni geht ja nach Bordeaux. Vielleicht kein Wunder, wenn die beiden Weinbau studiert haben, was kann man da im Bierland schon werden.“

„Und dann bist du ganz alleine, meinst du?“

Sie starrte in ihr Bierglas und schwenkte den Inhalt hin und her.

„Ich bin doch auch noch da, Mensch! Und was ist mit Florian?“

Sie zuckte die Achseln. „Flo? Der ist nicht der Typ für so was. Nett, lustig – aber nicht belastbar. Der macht die Fliege, wenn ich stressig werde.“

„Ehrlich? Warum behältst du ihn, wenn er so wenig taugt?“

„Wieso so wenig? Er ist nett und lustig, wie gesagt. Und gut im Bett. Mehr wollte ich eigentlich gar nicht. Als Seelentröster hab ich ihn nicht engagiert, also muss er das auch nicht können. Und wenn es ihm zu viel wird und er sich davon macht – schade wär´s schon. Ich mag keine einsamen Nächte.“

Ich verstand das nicht – entweder war ein Mann rundum perfekt, oder er konnte mir gestohlen bleiben. Wenn man es wie Sandra machte, brauchte man womöglich ja mehrere – einen fürs Bett, einen zum Reden, einen zum Heimwerken, einen für den Sport... Viel zu anstrengend!

„Liebst du ihn?“, fragte ich, und sie zuckte wieder die Achseln.

„Weiß ich nicht. Was ist schon Liebe? Wenn man jahrelang diese fast schon manische Trauer bei uns zu Hause sieht, dann fragt man sich doch, ob man sich so was antun soll. Was ist, wenn ich jemanden wirklich liebe, und ihm passiert was? Werde ich dann so wie meine Eltern?“

„Dass du gar nicht mehr lebst, außer, um zu trauern? Glaube ich nicht, dazu bist du doch viel zu normal.“

„Das waren meine Eltern vor Adrians Tod auch, täusch dich da nicht.“

Es gelang mir den ganzen Abend hindurch nicht, sie aus ihrer deprimierten Stimmung zu reißen – Florian taugte als Ersatzthema nichts, ihr Beruf nicht (nicht einmal meine Dummheit beim Verfassen der Steuererklärung!), ihre schöne neue Wohnung nicht. Und meine Eltern, Haustyrann und Hascherl, auch nicht, aber das hatte ich auch nicht wirklich erwartet.

Mein letzter Versuch war Gejammer wegen meiner Dissertation, die mal wieder festhing, weil mir wichtige Quellen fehlten; normalerweise putzte mich Sandra dann sofort herunter, weil ich mit fast neunundzwanzig immer noch nicht fertig war, während sie schon seit zwei Jahren sehr ordentlich verdiente – aber heute ging sie auf dieses Gambit auch nicht ein, sondern starrte nur trübe in ihr leeres Bierglas. Wenn das nicht mehr half, half wohl gar nichts mehr. Schließlich kam der Zeitungsmann in die Kneipe und bot den neuen MorgenExpress feil; ich kaufte ein Exemplar und schlug sofort das Kinoprogramm auf, in der Hoffnung, Sandra wenigstens damit ablenken zu können – aber es lief nur Mist, wie ich sogar selbst zugeben musste. Frustriert stopfte ich die Blätter in die Tasche. „Und wenn wir uns ein schönes Video reinziehen? Morgen vielleicht? Mit Chips dazu?“

„Morgen muss ich ins Fitness“, wehrte Sandra ab. „Und was wäre überhaupt ein schönes Video?“ Ja, da hatte sie mich natürlich. Geschwister, Eltern, Tod und Liebe schieden schon mal aus. Außer Western und Weltraumquark blieb da nicht viel – und wer wollte so was schon sehen?

Tödliches Monogramm

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