Читать книгу Tödliches Monogramm - Elisa Scheer - Страница 6

III

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Die Sache mit der Selbstachtung beschäftigte mich am nächsten Morgen aber noch, so dass ich mit ganz ungekanntem Eifer das Handout fertig machte und tippte, abspülte, aufräumte, das Bett frisch bezog und die Wohnung einmal durchsaugte. Ich schaffte es sogar noch, meine Wäsche im Keller in die Maschine zu stopfen und sie hinterher im Schlafzimmer aufzuhängen, bevor ich in der Unibibliothek auf die Jagd nach dieser verschwundenen Quelle ging und mir dann die bestellten Bücher abholte.

Die Quelle hatte ich zwar nicht gefunden, aber möglicherweise eine Spur, tröstete ich mich, als ich mit einer großen Tüte Bücher und einer nicht minder großen Tüte Einkäufe nach Hause kam und alles zu verräumen begann. Wenn ich jetzt noch bügelte... Nein, man konnte den Eifer auch übertreiben, und außerdem musste ich langsam wieder zurück, in die Vorlesung. Der Roman des Realismus im europäischen Kontext – naja. Aber manches war ganz interessant, und der Professor konnte wenigstens interpretieren. Und danach hatte ich gerade noch zwei Stunden Zeit, weiter nach der Quelle zu forschen, bevor ich Schreibtischdienst machen musste.

Die Vorlesung war rappelvoll, kein Wunder in der zweiten Sitzung, und ich klemmte mich resigniert auf einen Notsitz und schlug meinen Spiralblock auf. Niemand in Reichweite, den ich kannte – hatten wir früher auch gar so jung und unreif ausgesehen? Allmählich kam ich mir richtig alt vor!

Der Professor pflegte eine zehnminütige Pause nach der Halbzeit einzulegen (wahrscheinlich war er selbst Raucher) und alle Süchtlinge stürzten runter auf die Katharinenstraße: lieber frieren als verzichten!

Ich war ja auch nicht besser, und als ich mit zitternden Fingern mein offenbar leeres Feuerzeug betätigte, kam mir ein besser funktionierendes dazwischen.

„Danke“, sagte ich nach einem kräftigen Zug und betrachtete mir den edlen Spender. Nett. „Ich heiße Jochen“, stellte er sich vor. Groß, schmal, Brasilien-Sweatjacke, Jeans, Sneakers. Gutes Gesicht, dunkelblondes Haar und freundliche braune Augen.

„Isi“, antwortete ich. „Die Vorlesung ist nicht schlecht, was?“

„Ja...“ Das kam etwas zögernd. „Ich weiß nicht recht, ich hab, glaube ich, nicht alles verstanden. Ich bin erst im zweiten Semester, und so toll war bei uns der Deutsch-LK nicht. In welchem Semester bist du?“

Ich rechnete kurz nach. „Wahrscheinlich im achtzehnten“, sagte ich dann. „Ich promoviere gerade. Naja, wenn ich die Diss. jemals fertig kriege.“ Er guckte erschrocken und ich bereute meine Worte. Wieso hatte ich nicht gesagt, siebtes Semester oder so? Dann hätte er mich für klug gehalten statt für uralt, und ein Bierchen und vielleicht ein kleiner Flirt wären drin gewesen. Aber so? So sah er sich nervös um und meinte dann mit künstlichem Auflachen: „Ich glaube, es geht gleich wieder weiter. Also, man sieht sich!“

Jaja. Nicht wenn du es vermeiden kannst, was? Ich folgte den Massen die Treppe wieder hinauf, ergatterte wieder meinen Klappsitz und sah von weitem, wie dieser Jochen seinen Kumpels etwas erzählte und dabei nicht gerade unauffällig in meine Richtung wies. Mensch, Leute, ich hab grade eine getroffen, die muss schon fast dreißig sein! Dass der das nicht peinlich ist?

Ich sollte wirklich endlich fertig werden, es wurde mir tatsächlich langsam peinlich – als säße ich als Abiturientin wieder im Kindergarten.

Aber die Vorlesung war gut, und als wir getrampelt und geklopft hatten, sauste ich sofort wieder in die Bibliothek, um dem Erwachsenenleben wenigstens ein bisschen näher zu kommen. So viel Eifer wurde auch sofort belohnt, nicht mit der gesuchten Quelle (die einzige Sammlung, in der sie stehen sollte, war ausgeliehen und musste vorbestellt werden), aber mit einer anderen, die ich erstaunlich gut brauchen konnte. Ich bestellte, kopierte, lieh aus und zog schließlich sehr zufrieden weiter in die Graf-Rasso-Straße, um bei EventMachine meinen Dienst zu leisten.

Dort traf ich auf wilde Hektik, weil offenbar zwei Partys, ein Konzert und eine große Werbeveranstaltung zeitlich zusammengetroffen waren. Da ich mit den Veranstaltungen selbst nichts zu tun hatte, begnügte ich mich damit, Platz zu machen, damit die Kühlboxen und Materialkisten ohne Unfall nach draußen in die knallroten Lieferwagen geschleift werden konnten. Dann verzog ich mich ins Büro, wo ich zweimal die Woche Hilfsdienste leistete – aufräumen, abheften, Quittungen zusammensuchen, Telefonnotdienst leisten. Es sah mal wieder aus, als sei ein Tornado hindurchgefegt, kein Wunder - wenn alle wussten, dass montags und donnerstags eine Dumme kam, um wieder aufzuräumen, schmissen sie an den übrigen Tagen eben alles einfach auf den Tisch.

Schlecht lebte ich nicht davon, die zahlten zehn Euro netto, und zweimal vier Stunden waren immerhin achtzig Euro die Woche, für den Alltag reichte das, und ich hatte schließlich noch so einen Job – drei Vormittage bei einem Wirtschaftsprüfer, aber nicht bei dem, bei dem Sandra arbeitete. Richtig arbeitete, musste man wohl sagen. Heute lohnte sich der Saustall wirklich! Ich setzte mich, drehte das kleine Radio halblaut auf und begann, alle Zettelchen zu sortieren, ohne auf das Geschrei auf dem Gang zu achten.

So einfach war das gar nicht. Himmel, was war da draußen eigentlich los?

„Das wird Ihnen noch Leid tun!“, schrie jemand.

„Wenn Sie im letzten Moment den Termin ändern wollen, müssen Sie nun mal mit Abstrichen rechnen, hexen können wir auch nicht“, blaffte Edgar, der Geschäftsführer, zurück. Ich konnte seinen Adamsapfel förmlich hüpfen sehen, wie immer, wenn er sich aufregte.

„Ich habe Sie drei Tage vorher verständigt! Sind Sie so unflexibel?“

„Lesen Sie mal das Kleingedruckte! Eine Woche, steht da! Eine Woche!“

„Ich bin nicht taub, verdammt! Und – ich bin Anwalt! Sie hören noch von mir!“

Draußen knallte die Tür ins Schloss, und die Bürotür ging auf.

„Puh, manche Kunden sind solche Arschlöcher, du glaubst es nicht!“ Edgar fiel auf den Besucherstuhl und zündete sich einen dünnen Zigarillo an.

„Was hat er denn?“

Er lachte auf. „Wie beim Tierarzt, was? Ach, dieser Grünne, erst will er einen feierlichen kleinen Empfang für wichtige Mandanten am Freitag, und diesen Samstag ruft er an und sagt, doch lieber am Dienstag schon. Und jetzt kann er sich die Meeresfrüchte von der Backe putzen, die werden doch nur donnerstags eingeflogen – und was sagt er? Dass er Anwalt ist! Muss ein schlechter Anwalt sein, diese Pfeife, das Kleingedruckte ist total korrekt. Na, soll er uns verklagen!“

„Dem sehen wir gelassen entgegen“, stimmte ich zu und studierte stirnrunzelnd eine etwas rätselhafte Rechnung. „Dass Anwälte einen Schlag haben, wissen wir doch aus dem Fernsehen, oder? Und im Notfall frag ich meinen Bruder, der ist auch Anwalt.“

„Mit Schlag?“

„Klar. Aber brauchbar, denke ich.“

„Na, ich sag´s dir, wenn wir ihn brauchen sollten. Aber ich wette mit dir, der verklagt uns doch nicht. Wenn er sich wieder eingekriegt hat, wird er erkennen, dass es nicht anders geht, wenn er so kurzfristig umdisponiert. Na, frohes Schaffen noch – du machst das immer sehr schön.“

Ich bedankte mich artig und sortierte weiter, stellte Belege zusammen, entwarf schon einmal Rechnungen, heftete allerlei Krempel ab, goss die Blumen, wischte etwas Staub und trug allerlei Adressen und Telefonnummern ins Online-Register ein, um die Post-its wegwerfen zu können. Das Telefon schwieg hartnäckig, anscheinend klappten alle Veranstaltungen trotz der Hysterie, die vorhin noch geherrscht hatte. Wie immer eben.

Um elf verabschiedete ich mich von Edgar, der meine Stunden akribisch vermerkte, sich höflich bedankte und mir einen schönen Abend wünschte, schloss mein Fahrrad auf und strampelte nach Hause. Gut, dass ich nicht am Prinzenpark vorbei musste! Dass man da eine Leiche gefunden hatte, fand ich dann doch etwas gruselig. Was für eine Leiche überhaupt? Ich hätte den Artikel doch mal gründlich lesen sollen, tadelte ich mich selbst, während ich durch die sternenklare und verdammt kalte Nacht radelte und den Vollmond bewunderte, in dessen metallischem Licht alles etwas seltsam aussah – alle Autos silbern, alle Menschen wie blauschwarze Schatten, alle Straßenlaternen noch gelber als sonst.

Eine Frau oder ein Mann? Wen hatten sie da im Gebüsch gefunden? Ob das ein Serienkiller war, wie man sie aus dem Fernsehen kannte? Oder Krach unter Pennern? Ein Mord aus Leidenschaft? Doch gut, dass ich das Altpapier noch nicht weggeworfen hatte – und wenn ich gerade vierzig Euro verdient hatte, konnte ich auch noch mal fünfzig Cent in den MorgenExpress von morgen investieren, in der Kneipe da vorne war gerade der Zeitungsverkäufer, jedenfalls stand sein Mofa auf dem Bürgersteig.

Als ich abstieg, trat er gerade aus der Tür und war nur zu bereit, mir ein Exemplar zu verkaufen. Ich klemmte mir die Zeitung auf den Gepäckträger und fuhr mit neuem Schwung nach Hause, wo ich mir sofort einen Tee kochte und mich mit der Zeitung niederließ.

Nicht viel Neues – nur, dass es sich bis dato um einen nicht identifizierten jungen Mann handelte. Armer Kerl, er hätte doch noch so viele Jahre vor sich gehabt! Sicher, man wusste nicht, was für Jahre – Arbeitslosigkeit, Krebs, hässliche Scheidungen: aber alles zu verpassen, nur weil man einem Durchgeknallten in den Weg geraten war? Ich würde jedenfalls so bald nicht mehr in den Prinzenpark gehen, nahm ich mir vor. Höchstens tagsüber am Wochenende, da war´s ja wohl ungefährlich.

Ich schnitt den Artikel sorgfältig aus und überflog dann den Rest der Zeitung, damit sich die fünfzig Cent wenigstens gelohnt hatten; danach fischte ich die Zeitung von gestern aus dem Altpapier und schnitt auch diesen Artikel aus – das mit dem jungen Mann stand dort auch schon. Jung, ziemlich groß und schmal, rotblond. Klang irgendwie vertraut: Wen kannte ich, der so aussah? Ich ging meinen Bekanntenkreis durch, kam aber nicht drauf. Edgar war außerdem eben noch ziemlich fit gewesen, und niemand würde ihn beschreiben, ohne diesen riesigen Adamsapfel zu erwähnen. Und die Mordsnase.

Philipp (um Gottes Willen, wohin verirrten sich meine Gedanken?) war ebenfalls groß und schlank, aber seine Haare waren so dunkel wie meine, und er trieb sich nicht in öffentlichen Parks herum – bestenfalls fuhr er durch.

Trotzdem, ich wählte schnell seine Nummer, und als ein verschlafenes Grunzen ertönte, legte ich schnell wieder auf. Verflixt, schon zehn vor zwölf? Das hätte ich besser gelassen. Dafür klingelte jetzt mein Telefon. „Was sollte das eben?“, fragte Philipp verschlafen, aber unverkennbar zornig.

„Woher weißt du, dass ich das war?“, fragte ich verblüfft.

„Rufnummernanzeige, du Huhn! Warum rufst du mitten in der Nacht an und legst dann wieder auf?“

Peinlich.

„Sorry – äh...“, ich beschloss, lieber die Wahrheit zu sagen, meine Lügengeschichten hatten noch nie Abnehmer gefunden, und zu anstrengend war mir das jetzt auch. „Ich hatte nur plötzlich Angst – der Tote im Prinzenpark, sie haben ihn doch immer noch nicht identifiziert... und irgendwie kommt mir die Beschreibung doch bekannt vor. Ich wollte nur sicher sein, dass du heil und gesund im Bett liegst.“

Philipp lachte spöttisch. „Weil ich so rotblond bin, ja? Ja, ich hab das auch gelesen, man weiß ja nie, ob es nicht einen unserer halbseideneren Mandanten erwischt hat. Aber mir geht´s gut. Vielleicht einer deiner Exfreunde?“

„Alex ist kein bisschen groß und schmal“, widersprach ich.

„Und dieser – wie hieß er doch gleich? – dieser Herbert?“ Jetzt schien er endgültig wach zu sein.

„Norbert“, korrigierte ich. „Kahl geschoren.“

„Das kann sich in den letzten drei Jahren ja auch mal geändert haben.“

„Nö, den hab ich letzte Woche von weitem in der Uni gesehen. Immer noch Billardkugel. Wenn er so denkt, wie er aussieht, kann ich froh sein, dass ich ihn los bin.“

„Das gilt ja wohl für alle deine Verflossenen, oder? Schräge Truppe.“

„Genau wie deine Exmiezen“, konterte ich wütend. „Teilen die sich eigentlich eine Gehirnzelle?“

„Für meine Zwecke waren sie immer hinreichend“, antwortete er amüsiert. „Vorzeigbar und willig.“

„Dumm fickt gut, was?“ Blöder Hund, und mit so was war man nun verwandt!

„Keine Sorge, sollte ich mal ans Heiraten denken, such ich mir schon eine Gescheitere. Die Tussis amüsieren mich eben.“

„Du bist wie Papa“, behauptete ärgerlich, und das traf ihn nun wirklich: „Nimm das sofort zurück! Ich hab noch nie eine angeschnauzt, weil sie angeblich doof ist! Ich mache keinen Terror!“

„Ja, schon gut.“ Seine Erzählungen über die klugen Aussprüche seiner momentanen Bettgefährtinnen hatten mich schließlich auch schon erfreut – obwohl ich manchmal den Verdacht hatte, dass er einiges selbst erfunden hatte, so bescheuert konnte ein erwachsener Mensch nicht sein.

Das half mir jetzt aber auch nicht weiter, denn die Beschreibung erinnerte mich keinesfalls an einen meiner Verflossenen. So viele waren das außerdem auch wieder nicht gewesen, und das sagte ich Philipp auch. Er gähnte. „Schön für dich. Freu dich an deiner Tugendhaftigkeit und geh endlich ins Bett. Alleine natürlich.“

„Affe!“ Ich knallte den Hörer auf die Gabel. Rotblond, groß und schlank. Verflixt, wahrscheinlich hatte ich mir das nur eingebildet, so sahen ja viele aus. Und wahrscheinlich befasste ich mich bloß damit, um der Greiffschen Verlagsbuchhandlung und ihren Raubdruckerproblemen aus dem Weg zu gehen – keine Chance, ich wollte doch endlich an diesem Unileben raus!

Entschlossen machte ich mich wieder an die Arbeit, aber um Mitternacht hatte ich auch nicht meine beste Zeit, so dass ich bald entnervt wieder aufgab.

Als ich am nächsten Abend – deutlich früher – von der Uni, der Quellenjagd und den Archivarbeiten bei dem Wirtschaftsprüfer nach Hause kam, unzufrieden, weil ich es nachgerade satt hatte, nach Stunden bezahlt zu werden, hatte ich wieder eine Zeitung in der Tasche. Hatte ich schon jemals drei Tage nacheinander Zeitung gelesen, anstatt mir die Nachrichten im Radio oder Fernsehen reinzuziehen?

Ich sank sofort auf meinen Stuhl und begann zu blättern. Da, da stand was. Keine Ermittlungsfortschritte, keine Hinweise auf einen Serientäter (mit höhnischen Kommentaren des entsprechenden Journalisten, schließlich bestritt die Polizei so etwas ja immer, auch wenn es für jeden denkenden Menschen offensichtlich war... Tatsächlich?), aber interessante Details, die im Interesse des Ermittlungsfortschritts nicht veröffentlicht werden sollten. Welcher Ermittlungsfortschritt? Handelte es sich um einen Ritualmord? Der Verfasser spekulierte munter drauflos, schien mir.

Und identifiziert hatten sie den armen Jungen auch noch nicht. Groß, schlank, rotblond, blaue Augen, regelmäßige Züge, zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre alt, gesund... Himmel, vermisste den denn keiner? Das schien doch kein Junkie zu sein, der den Kontakt zu seiner Familie schon vor Jahren abgebrochen hatte! Der musste doch Kollegen haben, Kommilitonen, Freunde – den Eltern musste es noch nicht aufgefallen sein, dass er verschwunden war, überlegte ich.

Wie lange würde es dauern, bis meinen Eltern so etwas auffiele? Wochen, wahrscheinlich. Papa würde die Achseln zucken, wenn ich verschwunden war. Und Mama würde sich nicht trauen, ohne Papas Genehmigung die Polizei zu verständigen. Philipp würde schließlich sagen Spinnt ihr? Natürlich melden wir Isi als vermisst, das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Zu diesem Zeitpunkt hätten Edgar und Dr. Weinzierl, der Wirtschaftsprüfer, sich aber schon längst gewundert. Und Sandra natürlich. Petra nicht, die würde höchstens denken, dass ich verreist sei und sie es nur vergessen habe.

Ich konnte also auch schon ziemlich verwest sein, bevor nach mir gesucht würde. Unerfreuliche Vorstellung! Schützte einen eine feste Beziehung vor so etwas? Und was, wenn der treusorgende Ehemann auf Geschäftsreise war?

Warum war so ein hübsches Kerlchen aber so alleine, dass ihn keiner vermisste? Konnte man davon ausgehen, dass er alleine gewohnt hatte und nicht etwa in einer WG, wenn es so lange dauerte, bis einer nach ihm suchte?

Himmel, WG! Jetzt wusste ich, an wen mich die Beschreibung erinnerte! Thilo sah genauso aus – was, wenn das Thilo war, und Olaf und Hubi mal wieder träge herumhingen, anstatt etwas zu unternehmen?

Ich rannte nach nebenan und klingelte Sturm. Hubi riss die Tür auf und knurrte. „Was ist jetzt wieder? Wir haben weder die Musik zu laut noch qualmen wir was Illegales. Was willst du jetzt wieder?“

Äh, ja. Wie sagte ich das jetzt am besten? „Ist Thilo da?“

„Nö.“

Sehr verdächtig! „Und, wo ist er?“

„Weiß ich doch nicht. Stehst du jetzt auf den? Vergiss es, der mag junges Gemüse, und so frisch bist du auch nicht mehr.“

Hubis spezieller Charme weckte wie immer in mir den Wunsch, ihm eins überzubraten, vorzugsweise mit einem Pflasterstein. Hinter ihm tauchte Olaf auf, wie üblich halbnackt und mit dem ebenfalls üblichen trägen Lächeln. „Welch Glanz an unserer Tür! Was können wir für dich tun, schöne Frau?“

„Schmierlappen“, blaffte ich. „Ich will bloß wissen, wo Thilo ist!“

Thilo?“ Er zog ein enttäuschtes Gesicht. „Wieso Thilo? Ich dachte immer, meine Reize zögen dich vor unsere Tür?“

„Lass das Geschleime. Wo ist Thilo?“

„Was hat er denn jetzt wieder angestellt, unser Möchtegern-Capone?“

„Sie steht bloß auf ihn“, erläuterte Hubi und grinste breit. Boah, wie konnte man so gelbe Zähne haben! „Kaum“, antwortete ich so kalt wie möglich. „Wann habt ihr ihn zuletzt gesehen?“

Olaf sah mich leicht verwirrt an. „Heute morgen, beim Frühstück. Nicht, dass er direkt was gefrühstückt hätte, verkatert, wie er war, aber er war hier, eindeutig. Wo er jetzt ist, weiß ich nicht. Wieso denn?“

„Ach, nichts“, leitete ich den Rückzug ein, halb erleichtert, halb beschämt. „Wenn er hier war, ist ja alles gut. Tschüss dann!“

Olaf rief noch: „He, warte mal, was sollte das jetzt?“, aber ich verschwand schnell wieder in meiner Wohnung. Machte ich mich hier zum Affen, bloß weil die Beschreibung notdürftig auf einen dieser drei Neandertaler passte? Und hatte Thilo nicht überhaupt mehr so grüne Augen?

Der Ordnung halber schnitt ich den heutigen Artikel auch aus und legte ihn zu den anderen, nahm mir aber vor, morgen weder eine Zeitung zu kaufen noch über diesen Quatsch nachzudenken. Stattdessen würde ich an der Arbeit weiterbasteln, jawohl! Weit kam ich nicht, bevor Petra anrief, voller Entrüstung: Uli hatte sich mit ihr gekracht, bloß weil sie vergessen hatte, irgendeinen blöden Brief einzuwerfen!

„Und, was war das für ein Brief?“, fragte ich, durch Erfahrung gewitzt.

„Ach, was weiß ich, irgendwas mit Steuern oder so. Einspruch, gibt´s das?“

Ich seufzte. „Ja, Petra, das gibt´s, und da gibt es auch Fristen zu beachten. Jetzt muss dein Uli wohl mehr Steuern zahlen, weil du den Brief verbummelt hast. Wieso gibt er ihn auch dir, er müsste dich doch langsam kennen!“

„Mein Gott, ich hab´s ihm angeboten. Ich hab´s doch nur gut gemeint. Kann ich ahnen, dass es so ernst gemeint ist, wenn er sagt Ja nicht vergessen? Da, wo ich dachte, war gar kein Briefkasten mehr, aber ein super neuer Laden, und da hab ich´s eben vergessen. Kann doch mal passieren!“

„Was für ein Laden?“ Ich tippte auf Schuhe – manchmal war Petra wirklich ein wandelndes Klischee.

„Taschen und so. Supersachen. Gut, Fakes, aber ziemlich täuschend. Ich hab mir da ein Chaneltäschchen gekauft, also, du glaubst es nicht, schaut total echt aus, richtig nobel. Und nur neunundvierzig Euro! Da musst du unbedingt auch mal hinschauen, Peutinger Ecke Fuggergasse. Oder da in der Gegend eben.“ Ich seufzte wieder. „Petra, erstens stoßen die Peutinger und die Fuggergasse gar nicht zusammen, da kann´s keine Ecke geben. Und zweitens ist es illegal, Fälschungen zu verkaufen, den Laden wird´s wohl nicht lange geben.“

„Du hörst dich so besserwisserisch an, du könntest glatt Lehrerin sein. Wie dieser doofe Kumpel von meinem doofen Bruder.“

„Nie gehört.“

„Ach, den kennt er noch von der Schule her, so ein großer dunkler Finsterling. Julian Schießmichtot. Der und seine Freundin waren am Samstag bei Paul zu Besuch, na, und ich hab kurz vorbeigeschaut, weil ich kein Geld mehr hatte, und da hat dieser Julian oder Julius oder wie auch immer gefragt, wieso ich zu Paul komme, wenn ich kein Geld mehr habe, stell dir vor!“

„Gute Frage. Das würde mich jetzt aber auch interessieren. Ich gehe in solchen Fällen ja eher zum Geldautomaten, aber ein Bruder – auch eine Möglichkeit. Hast du dir was gepumpt?“

„Musste ich doch, Mensch!“

„Wieso, bist du pleite?“ Ein grässlicher Gedanke beschlich mich. „Haben Sie dich bei Crommer rausgeschmissen?“

„Ja, das auch“, antwortete sie ungeduldig, „aber darum geht´s jetzt doch gar nicht! Der blöde Automat hat meine Karte gefressen, stell dir vor! Frechheit, was? Da musste ich doch zu Paul gehen!“

Da war Paul bestimmt sehr froh.

„Wieso hat der Automat deine Karte gefressen? Und wieso haben sie dich bei Crommer rausgeworfen? Warst du schon beim Arbeitsamt? Oder bei JobTime? Hast du schon was Neues in Aussicht?“

„Isi, nerv nicht rum. Wieso der Automat meine Karte gefressen hat, weiß ich auch nicht. Irgendwas von Guthaben und Berater, dann war der Schirm wieder dunkel. So schnell kann man gar nicht gucken!“

„Vielleicht ist dein Konto überzogen?“

„Mein Konto ist schon seit Jahren überzogen, wieso sollten die sich jetzt plötzlich darüber aufregen?“

„Vielleicht, weil du keinen Job mehr hast?“

„Mein Gott, ich find schon wieder was, die sollen sich nicht so haben! Aber darum geht´s jetzt doch gar nicht!“

Fand ich eigentlich schon. War Petra nicht beinahe zu beneiden, weil sie sogar für Existenzsorgen zu dumm war? Nein, nicht wirklich dumm, aber so was von schusselig... „Worum geht es denn dann? Ich find´s schon irgendwie bedenklich, wenn du deinen Job verloren hast – du nicht?“

„Ach was! Aber stell dir vor, dieser Julius -“

„Julian.“

„Was?“

„Vorhin hast du gesagt, Julian. Ist das schon Alzheimer?“

„Herrgott! Gut, dieser Julian schlägt mir doch glatt vor, einen Kurs zu machen, in Selbstmanagement oder so. Wie findest du das? Ist das nicht eine Frechheit? Als ob ich so´ne blöde Firma wäre!“

„Wenn du so´ne blöde Firma wärst, wärst du längst bankrott. Kein Kunde hätte jemals das Richtige oder überhaupt was geliefert gekriegt. Und wenn, hättest du total verschusselt, eine Rechnung zu stellen.“ Mittlerweile konnte ich meine Erheiterung nicht mehr verbergen.

„Lach nicht so blöd“, schimpfte Petra sofort. „Was geht das diesen Kerl an? Und überhaupt, als ob ich meinen Kram nicht im Griff hätte!“

„Naja... schau, du hast den Muttertag vergessen -“

„Nur fast! Ich war noch rechtzeitig da, mit Pralinen von der Tankstelle!“

„- Ulis Einspruchserklärung vermasselt, keine ec-Karte mehr, den Job verloren – wieso eigentlich? Das musst du mir schon noch genauer erzählen! – und da findest du, du hättest alles im Griff? Ich denke, so ein Kurs ist gar keine schlechte Idee. Vielleicht lernst du da, dir solche Sachen aufzuschreiben und dir dann auch noch zu merken, wohin du sie geschrieben hast und was die Abkürzungen bedeuten sollen.“

„Du bist genauso schlimm wie dieser Julian und seine Freundin! Mensch, aber die hat vielleicht tolle Haare, richtig kupferrot, und echt! Ich hätte ja nie gedacht, dass es solche Haare auch in echt gibt! Meinst du, wenn ich mir die Haare auch so kupferrot färbe, dass mir das steht?“

„Bloß nicht!“, rief ich in den Hörer, „dazu muss man eine ganz blasse Haut haben! Hat diese Freundin bestimmt, oder? Na, und du bist immer so schön leicht gebräunt – da passt das nicht. Lieber blonde Strähnchen!“

Petra mit roten Haaren – entsetzliche Vorstellung. „Ich hab doch längst Strähnchen“, entgegnete sie unverkennbar beleidigt. „Hast du das noch gar nicht gemerkt? Ich möchte ja mal wissen, wo du deine Augen hast!“ Ich war sprachlos, aber Petra plapperte schon weiter: „Na gut, wenn du meinst, Geschmack hast du ja.“ Na, immerhin.

„Und, warum bist du jetzt deinen Job los?“

„Ach, diese Korinthenkacker! Ich bin bloß ein paar Mal morgens zu spät gekommen, ich meine, das kann doch mal passieren, oder? Hörst du deinen Wecker etwa immer?“

„Logisch. Zuspätkommen ist was für Kleinkinder. Haben sie dich nicht abgemahnt?“ So was kannte ich von meinen diversen Jobs, wenn es mir selbst auch glücklicherweise noch nie passiert war.

„Abgemahnt? Ja, kann sein. Wieso?“

„Na, da hättest du gemerkt, dass dir die Kündigung droht, und du hättest dir einen lauteren Wecker kaufen können. Oder früher ins Bett gehen. Oder Uli bitten, dass er morgens einen nassen Waschlappen nimmt.“

„Sei nicht so perfekt, Isi, das nervt. Was ich dich fragen wollte – findest du, Uli muss sich bei mir entschuldigen? Immerhin hat er mich eine Schusselliese genannt!“

„Finde ich nicht. Petra, du bist eine Schusselliese! Aber eine nette“, fügte ich hastig hinzu. „Entschuldige dich lieber bei ihm. Du könntest ihm natürlich anbieten, den Schaden zu tragen, aber wovon? Such dir bloß schnell einen neuen Job!“

„Ich stell mich nachher wo vor, keine Sorge. Das ist in der Zollinger Minicity, da war ich noch nie.“

„Wieder Immobilien?“

„Keine Ahnung, ich soll den Bürokram machen.“

„Die mögen es, wenn man weiß, was sie machen“, suggerierte ich ihr, aber wahrscheinlich ohne Erfolg, denn in diesem Moment fiel ihr ein, dass sie sich ein Bad eingelassen hatte, und sie beendete das Gespräch eher hastig.

Ich grinste still vor mich hin. Petra...! Alles mal wieder so was von typisch! Ob die Wanne schon übergelaufen oder bloß kalt geworden war?

Nun musste ich aber doch die Geschäftsprobleme der Greiffschen Verlagsbuchhandlung weiter unter die Lupe nehmen und wenigstens einen Teil der ausgeliehenen Bücher durchsehen. Die Sache mit dem Prinzenpark-Mord war für mich gestorben, beschloss ich. Thilo war ja noch gesund und munter. Höchstens konnte ich ihn damit ein bisschen ärgern.

Tödliches Monogramm

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